Nachhalziger Baustoff Pilz
Bauen wir bald Häuser aus Pilzen?
Wir sammeln, kochen, essen sie: Doch Pilze – vorausgesetzt es sind die richtigen – machen nicht nur auf dem Teller eine gute Figur, sie könnten für die Zukunft der Menschheit entscheidend sein. Ob als Bau- und Werkstoff, bei der Sanierung verseuchter Böden oder in der Medizin: Pilze verfügen über ein Potenzial, das wir derzeit nur erahnen können.
Er steht Daniel Düsentrieb, der umtriebigen Comicfigur aus dem Hause Disney, in nichts nach, was seine Einfälle und seine Leidenschaft für das, was er tut, anbelangt. Doch im Gegensatz zum zerstreuten Erfinder in Gestalt eines anthromorphen Huhns sind Patrik Mürners Tüfteleien von Erfolg gekrönt. Nicht immer, aber immer öfter. Und sie stossen auf grosse Resonanz: Der 51-jährige Produktdesigner, Mykologe und Gründer von Mycosuisse, dem Kompetenzzentrum für angewandte Mykologie, konnte vor wenigen Monaten den Umweltpreis 2024 der Albert Koechlin Stiftung entgegennehmen. Patrick Mürner leiste einen wichtigen Beitrag hin zu einer umweltbewussten und zukunftsfähigen Gesellschaft, begründete die Stiftung ihren Entscheid.
Nachwachsender, nachhaltiger Baustoff
«Pilze können uns Menschen helfen, grosse Probleme zu lösen – gerade in ökologischer Hinsicht», ist Patrik Mürner überzeugt. Er schnappt sich aus einem weitläufigen Regal, auf dem seine jüngsten mykologischen Coups fein säuberlich aufgereiht sind, einen Blumentopf aus Pilzmyzel. Das ist sein Werkstoff; das ist das, woran er glaubt, wofür er jeden Tag in sein Labor in Emmenbrücke (LU) tingelt. Trotz der grossen finanziellen Unsicherheit, die sein Leben als Erfinder und Produktdesigner mit sich bringt. Seine Hände wandern weiter zu pulverisierten Fruchtkörpern, hin zu einem formvollendeten Reishi Pilz, dessen Konsistenz er kurz prüft. Dann wirbelt er eine Bauplatte aus Lackporlingen durch die Luft, um ihr geringes Gewicht zu demonstrieren. Auch hier: Myzel ist die Basis für dieses Produkt, das als Einzelobjekt oder in Grossserien in Mürners Labor entsteht, wo er seit rund zwölf Jahren experimentiert – am Anfang im Alleingang, heute mit einem achtköpfigen Team.
[IMG 2]
Das Myzel, dieses fadenförmige, sich weit verzweigende Geflecht, aus dem der Pilz grösstenteils besteht und das im Boden, pflanzlichem Gewebe oder in Sub- straten gedeiht, hat einen entscheidenden Vorteil: «Es ist ein natürlicher, nachwachsender Rohstoff. Pilzmyzel kann dort in die Lücken springen, wo andere, insbesondere fossile Rohstoffe sich zu Ende neigen. Und es braucht zur Kultivierung keine zusätzliche Wärme», sagt Patrik Mürner, der seit Kindesbeinen ein passionierter «Pilzler» ist, eine Ausbildung als Schreiner und Produktdesigner durchlaufen, acht Jahre im Sommer auf einer Alp mit Käsen zugebracht und sich sein umfangreiches Wissen zu Pilzen autodidaktisch beigebracht hat.
«Pilzmyzel ist ein natürlicher, nachwachsender Rohstoff.»
Patrik Mürner Mykologe und Produktdesigner
Weder Tier noch PflanzeVon der Antike bis ins späte 20. Jahrhundert wurden Pilze wegen ihrer sesshaften Lebensweise dem Pflanzenreich zugeordnet. Heute gelten sie aufgrund phylogenetischer und biochemischer Analysen als eigenes Reich und als enger mit Tieren als mit Pflanzen verwandt. Derzeit sind rund 120 000 Pilzarten wissenschaftlich beschrieben. Prof. Marc Stadler, Leiter der «International Mycological Association», geht davon aus, dass mehrere Millionen Arten existieren.
Klimakiller Beton
Für die Bauplatten füllt er flache Kunststoffbehälter mit Holzspänen und anderen pflanzlichen Abfällen und fügt Wasser und Myzel vom Lackporling hinzu, das sich im pflanzlichen Material nach und nach ausbreitet und es abbaut. Nach rund drei Wochen sind die Strukturen so weit ausgebildet, dass Mürner sie aus der Form lösen und trocknen lassen kann. Dadurch stirbt der Pilz ab. Das Resultat ist eine leichte, stabile Platte, die in der Optik Sperrholz ähnelt. Mittlerweile hat er Dutzende Bauplatten gezüchtet, die in der Produktionshalle lagern und deren Praxistauglichkeit im Moment intensiv getestet wird. Myzel statt Beton, daran führe kein Weg vorbei, ist der umtriebige Luzerner überzeugt. Schon nur im Hinblick auf die CO2-Bilanz: «Wir können Kohlendioxid in Baustoffen aus Myzel sogar binden.» Anders der Beton, in dem zwar auch natürliche Rohstoffe wie Kalk und Ton stecken, der aber mittels fossiler Brennstoffe auf 1400 Grad Celsius erhitzt werden muss und für einen immensen CO2-Ausstoss verantwortlich ist. Ebenso katastrophal: Jährlich fallen in der Schweiz rund fünf Millionen Tonnen Betonabbruch an. Auch hier sind Baustoffe aus Myzel im Vorteil: «Wenn eine Wand oder ein Haus aus Myzel abgerissen wird, können wir das Material einfach häckseln und für die Gewinnung von neuem Myzelkomposit verwenden», erläutert Patrik Mürner.
Bauen mit Abfall: ein perfekter Kreislauf
Wie kommt es, dass sich der Pilz in der Bauwirtschaft nicht längst durchgesetzt und andere, wenig nachhaltige Baustoffe ins Off katapultiert hat? Patrik Mürner zuckt mit den Schultern: «Der Pilz ist für uns Menschen nach wie vor ein Mysterium. Wir kennen im Moment erst etwa vier Prozent der zwei bis fünf Millionen Pilzarten. Und auch das Bewusstsein seitens der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik für das immense Potenzial von Pilzen ist heute klein – viel zu klein.» Was sich nicht zuletzt an den moderaten finanziellen Zuschüssen an Projekte zeigt, die praxistaugliche Bau- und Werkstoffe entwickeln wollen. «Höhere Beiträge an die Forschung würden den Prozess merklich beschleunigen», so Mürners Prognose, der mit seinem Team viel Zeit für die Suche nach Stiftungsgeldern aufwenden muss, um den laufenden Betrieb zu sichern. Auf die Frage, wann in der Schweiz das erste Gebäude aus Pilzmyzel stehen wird, zuckt Patrik Mürner erneut die Schultern. Auch für die Entwicklung von Beton habe es mehrere Jahrzehnte gebraucht, gibt er zu bedenken. Er nimmt eine der wasserabweisenden, kompostierbaren Platten in die Hände und prüft sie auf Unebenheiten. «Allein bis zur Zulassung dieses Bauelements könnte es acht bis zwölf Jahre dauern», schätzt er.
Finanzielle Hürden, aufwendige Zulassung
Selina Bitting, Doktorandin in der «Block Research Group» der ETH Zürich, forscht ebenfalls an Materialien auf Myzelbasis. Sie kommt zu ähnlichen Schlüssen wie Patrik Mürner. «Wegen ihrer Anpassungsfähigkeit und ihrer Rückführbarkeit in den natürlichen Stoffkreislauf sind diese Materialien ideal, um zwei grosse Herausforderungen in der Bauindustrie zu bewältigen: den steigenden Rohstoffbedarf und das Abfallproblem.» Vor allem für innenarchitektonische Bauvorhaben wie Trennwände seien myzelbasierte Baustoffe ideal: Das Material lässt sich bestens anpassen auf die jeweiligen Bedürfnisse. «Ein auf einem Substrat wie Stroh gezüchteter myzelgebundener Stoff eignet sich beispielsweise als Akustik- oder Dämmmaterial, während ein auf Hanf gezüchteter, hitzegepresster Stoff eine gute Alternative zu Produkten wie Sperrholz sein kann», so ihre Erkenntnis. Auch die 30-jährige Doktorandin will sich nicht auf eine präzise Zeitangabe behaften lassen, was den Häuserbau mit Myzel in der Schweiz angeht. Erst einmal gelte es, weiterzuforschen und den Gestaltungsspielraum für diese Materialien zu vergrössern. Der Weg hin zur industriellen Produktion ist noch weit und steinig: Insbesondere die fehlende Standardisierung der Produktionsmethoden erschwert es im Moment, ein Material zu produzieren, das bezüglich Kosten wettbewerbsfähig mit den handelsüblichen Produkten ist. «Die meisten Materialien, die derzeit fürs Bauen verwendet werden, sind über Jahrzehnte hinweg industrialisiert worden und entsprechend günstig», gibt Selina Bitting zu bedenken. Derzeit versucht sie, die Mengen an organischen landwirtschaftlichen und industriellen Abfällen in Erfahrung zu bringen, die in der Schweiz anfallen. Dieses Material ist bei der Produktion von Myzel Gold wert: Pilze wachsen auf solchen Abfällen aus der Holz- und Agrarindustrie innerhalb weniger Wochen und mit überblickbarem Aufwand.
«Wegen ihrer Rückführbarkeit in den Kreislauf sind diese Materialien ideal.»
Selina Bitting, Doktorandin an der ETH Zürich
Einzigartige OrganismenPilze vollziehen keine Fotosynthese. Der Vegetationskörper der meisten Pilze besteht aus mikroskopisch feinen, fädigen Hyphen, die 25 Prozent der Biomasse ausmachen. Diese bilden ein weit verzweigtes Myzel, das sich in oder auf einem festen Substrat wie Holz oder einem anderen lebenden beziehungsweise abgestorbenen organischen Gewebe ausbreitet. Das Myzel macht etwa 94 Prozent des Pilzes aus. Der Rest ist der Fruchtkörper, den wir im Wald sammeln und der nach einer fachgerechten Pilzkontrolle (www.vapko.ch) im besten Fall auf dem Teller landet.
Ökonomisches Schwergewicht
Doch wie viel Zeit bleibt uns, um Alternativen zu emissionsreichen Bauverfahren zu finden? Die Frage bleibt offen. Namhafte Forscherinnen und Forscher aus der ganzen Welt gehen jedoch in einem Punkt einig: Pilze sind überlebenswichtig für unseren Planeten und die gesamte Menschheit. «Und doch werden sie sträflich vernachlässigt», enerviert sich Marc Stadler, Professor am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung und Leiter der «International Mycological Association», die die Interessen der weltweit 30 000 Mykologinnen und Mykologen vertritt. Auch seine Erkenntnis lautet: Sowohl in der Biologie als auch im öffentlichen Bewusstsein fristen die geheimnisvollen Organismen ein Schattendasein. «Schmetterlinge, Orchideen und alles Mögliche wird gezählt und erforscht, die Pilze jedoch finden wenig Beachtung», so Stadler. Es sei höchste Zeit, sich mit Pilzen vertieft auseinanderzusetzen, was Chancen, aber auch Risiken anbelangt. «Wir müssen sie genauer beobachten und ihr grosses Potenzial besser ausschöpfen. Dazu hätten wir eigentlich die Möglichkeiten, aber zu wenig finanzielle Mittel», so sein Fazit. Und die Zeit tickt: Denn Pilze können auch zu einer grossen Gefahr für Mensch und Umwelt werden: «Gewisse, teils hochpotente Pilze verbreiten sich rasend schnell. Wir tun gut daran, uns auch Wissen zu solch bösartigen, pathogenen Pilzen und ihren Kontrahenten anzueignen.»
[IMG 3]
Antibiotika, Camembert, Bier
Die im Sommer 2023 im Journal «Fungal Diversity» publizierte Studie sollte ein Weckruf für die Gesellschaft und Wirtschaft sein. Zusammen mit anderen Forschenden berechnete der deutsche Mykologe die ökonomische Leistung von Pilzen und präsentierte eine astronomische Summe: Auf knapp 55 Billionen Dollar beziffern die Forschenden den Wert aller Leistungen, die Pilze für die Menschheit erbringen. Das ist die Hälfte des globalen Bruttosozialprodukts, also des Geldwerts sämtlicher Waren und Dienstleistungen, den alle Staaten zusammen pro Jahr erwirtschaften. Ihre Hochrechnung macht vor keinem Wirtschaftsbereich halt: Medizinische, kosmetische Anwendungen, aber auch Produkte aus der Nahrungs- und Genussmittelindustrie sind in die Berechnungen eingeflossen. Doch der weitaus grösste Teil der errechneten Summe geht darauf zurück, dass Pilze Bäume dabei unterstützen, Kohlendioxid aus der Atmosphäre zu entnehmen und zu speichern. «Das wurde bisher massiv unterschätzt: Pilze spielen für das Funktionieren und den Fortbestand von Ökosystemen beziehungsweise Wäldern eine absolut zentrale Rolle», betont Stadler. «Das zeigt sich insbesondere auch bei Fichtenmonokulturen, die wegen fehlendem Pilzmyzel an den Wurzeln kaum widerstandsfähig sind.» Eine Beobachtung, die auch Patrik Mürner wiederholt gemacht hat. «Pilze verbessern die Leistungen der Äcker und stärken Jungbäume in ihrer Entwicklung», so Mürner. Eine Beimpfung mit Mykorrhizapilzen kann in Schutz- und Bannwäldern nach Murgängen, Lawinen oder Bränden sinnvoll sein, um die Wurzeln von Jungbäumen zu stärken. Dadurch dass der Pilz die Pflanzenwurzeln umhüllt, können diese ein Vielfaches an Nähr- und Mineralstoffen aufnehmen. Der Aufwand ist die Mühe wert: Die Mykorrhizapilze beschleunigen das Wachstum eines Baumes um bis zu 20 Prozent.
Unter und auf dem Tisch
Patrik Mürner ist derzeit an vielen Fronten aktiv. Zusammen mit der ZHAW Wädenswil arbeitet er an einem Projekt, um zinkbelastete Bodenschichten mithilfe von Pilzen und Weiden zu sanieren. Während mehrerer Jahrzehnte wurden auf dem Viscosuisse-Areal, wo er heute sein Pilzlabor betreibt, Fasern für die Textilindustrie produziert. Über das Abwasser gelangten grosse Mengen giftiges Zinksulfat in die Böden. Nun ist Abhilfe in Sicht, um die Schadstoffe zu eliminieren: Mit Weidensetzlingen, deren Wurzeln mit Pilzmyzel angereichert sind, lässt sich das Zinksulfat aus dem Boden lösen. Der Luzerner Mykologe entwickelt nebenbei auch noch proteinreiche Nahrungsmittel aus Pilzen für Mensch und Tier. Es geht ihm dabei immer auch um die Ganzheitlichkeit. «Ich versuche, sogenannte Sidestreams wiederzuverwerten, die zum Beispiel bei der Produktion von Bodenplatten aus Reishi-Pilzen anfallen», sagt Mürner und stellt das Pulver aus Vitalpilzen, das ein anderes Unternehmen später in Kapseln abfüllt, zurück ins Regal. Patrik Mürner glaubt an seinen Traum: Dass die «Funga» – dieses grosse majestätische Reich, das sich dem menschlichen Auge oft entzieht – in ihrem wahren Reichtum erkannt wird, dass Lehrstühle für Mykologie dereinst so selbstverständlich sind wie Lehrstühle für Betriebswissenschaft und dass Forschungsgelder so reichlich fliessen wie das Wasser in der Emme nach einem Gewitter.
[EXT 1]
Bitte loggen Sie sich ein, um die Kommentarfunktion zu nutzen.
Falls Sie noch kein Agrarmedien-Login besitzen:
Jetzt registrieren