Porträt
Benjamas Ramsauer: Die inspirierende Reise einer autodidaktischen Botanikerin
Benjamas Ramsauer ist selbstständige Feldbotanikerin. Mit ihrer Herkunft aus Thailand ist sie eine Exotin in der Branche und hat sich ihren Platz in der Wissenschaft hart erkämpft – auch ohne Biologiestudium. Im Gespräch mit der TierWelt erzählt die 54-Jährige, wie sie das trotz vieler Hürden als alleinerziehende Mutter geschafft hat und warum sie die Botanik begeistert.
Benjamas Ramsauer. Wo beginnt man bei dieser unglaublichen Frau zu erzählen? Sie sitzt in ihrem Zimmer auf ihrem Bett. Es ist ein Einzelbett im kleinsten Zimmer ihrer Vierzimmerwohnung, die sie mit ihren zwei jüngsten Söhnen teilt. An der Wand vis-à-vis hängt eine grosse topografische Karte der Schweiz, daneben Fotos ihrer Söhne, als sie noch Kinder waren. Darunter steht ein Regal, auf dem sich dicke Buchrücken eng aneinanderschmiegen. Es sind schwere Botanik-Lehrbücher, die sonst nur studierte Biologen zuhause stehen haben.
Benjamas Ramsauer klappt eines der dicksten Bücher auf, blättert herum. «Ich lese nur, was mich interessiert und was ich auch verstehe», sagt sie und zeigt auf eingefärbte Passagen mit Bleistiftnotizen darunter. Denn die 54-Jährige ist keine Biologin. Sie hat keine Naturwissenschaften studiert und sagt, dass ihr das Technische auch nicht liege. Doch in der Botanik-Szene kennt und respektiert man sie. Als eine der einzigen Asiatinnen fällt sie ohnehin auf. «Ich bin exotisch in dieser Branche», sagt sie in gutem Deutsch mit thailändischem Akzent, und lacht. Benjamas Ramsauer ist nämlich Thailänderin, autodidakte Botanikerin und Kursleiterin mit dem höchsten Zertifikat in ihrem Gebiet. Doch um an diesen Punkt zu gelangen, musste sie einige Herausforderungen meistern.
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Kreative Anfänge in Thailand
Benjamas Ramsauer kam 1970 in der Hauptstadt Thailands zur Welt, in Bangkok. Dort wächst sie als Pflegetochter einer mittelständischen Familie in einem armen Quartier der Stadt auf. Ihre Pflegemutter lebt bereits damals in der Schweiz, wo sie sich als thailändische Restaurantbesitzerin einen Namen macht. «Ich hatte eine gute Kindheit», sagt sie bei einer Tasse Kaffee und Gipfeli am Küchentisch ihrer heutigen Wohnung in Wald bei Zürich. Hinter dem Haus sei eine grosse Grünfläche gewesen, wo sie als Kind immer gespielt habe. Ein Privileg in der Millionenstadt. Als junges Mädchen fällt sie dann aber vor allem mit ihrer gestalterischen Begabung auf und wird von ihrem Kunstlehrer gefördert. Insbesondere perspektivisches und realitätsnahes Zeichnen liegen ihr. «Ich war immer sehr stolz auf meine Werke», sagt sie. Manche hat sie bis heute aufbewahrt, andere zu ihrer Pflegemutter in die Schweiz geschickt. Damals wusste sie noch nicht, dass sie adoptiert war.
Nach der Schule beginnt sie ein Studium in Kommunikation und Journalismus in Bangkok und schliesst mit einem Bachelor ab. Sie ist 23 als sie beschliesst, in die Schweiz zu kommen, um sich weiterzubilden. Worin genau, weiss sie noch nicht. Grafik Design oder doch etwas in der Tourismusbranche? «Ganz ursprünglich wollte ich ja an die Kunst-Akademie in Thailand», sagt sie und lacht. Sie entscheidet sich, zu arbeiten und 50 000 Franken für ein Studium an der Universität zu sparen. In dieser Zeit lernt sie Deutsch, wohnt im Gasthaus der Mutter und hilft ihr im Restaurant.
Doch die Pflegemutter ist streng mit ihr, sodass ihre Beziehung schon nach einigen Monaten mit einem Streit endet. Die junge Frau emanzipiert sich, ist fortan auf sich gestellt in einem fremden Land und arbeitet in anderen Gastronomiebetrieben im Service. «Ich habe in dieser Zeit viel Trinkgeld erhalten und viel sparen können», sagt sie stolz. Während dieser Jahre hat sie Zeit, neuen Hobbys nachzugehen, besucht aus purer Neugier den Kurs «Was blüht denn da?» an der Zürcher Volkshochschule und kauft sich ihr erstes Botanik-Buch. Von da an geht sie in ihrer Freizeit hin und wieder raus und entdeckt die Flora der Schweiz.
Zwischen Alltag und Leidenschaft
«Das waren meine ersten Berührungen mit der Botanik», sagt Benjamas Ramsauer, steht auf und holt das Buch «Naturführer für Blumen» aus ihrem Zimmer. Der grüne Umschlag des Buches ist völlig vergilbt, seine Ecken und Kanten ausgefranzt und eingeknickt. «Dieses Buch ist heilig für mich», sagt sie. Denn es war ihr erstes. Neben ihrer «Bibel», der «Flora Helvetica», hat es einen besonderen Platz in ihrer Büchersammlung. Dann verschwindet sie wieder in ihrem Zimmer und bringt zwei Ordner mit auf den Küchentisch, auf dem noch immer ein halbes Gipfeli und ihr Kaffee steht, der während dem Reden kalt geworden ist. Eines der Ordner ist der «Grundkurs Botanik» von BirdLife, wo unter anderem ihr Name unter dem Titelbild aufgelistet ist.
Sie schlägt ihn auf und zeigt auf die botanischen Abbildungen: Es sind schwarz-weisse Bleistiftzeichnungen, die der Realität verblüffend ähnlichsehen. Gezeichnet hat sie Benjamas Ramsauer im Auftrag von BirdLife im Jahr 2015. «Ich habe mir das selbst beigebracht», sagt sie und strahlt. «Aber ich bin noch nicht so gut darin und möchte einmal einen Kurs dazu besuchen.» Im anderen Ordner bewahrt sie ihre Lernunterlagen und die detaillierten Lernprotokolle für ihr bislang ehrgeizigstes Ziel: Das Botanik-Zertifikat 600. Es ist die höchste Zertifizierung für botanisches Wissen in der Schweiz, die Kenntnisse von 600 Arten sowie fundiertes Grundlagenwissen in der Feldbotanik voraussetzt.
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Das Verlangen, diese Prüfung abzulegen, entflammte im Jahr 2012 in der eifrigen Frau – 19 Jahre, nachdem sie in die Schweiz gekommen ist. Sie studiert nicht mehr und heiratet einen Schweizer Landschaftsarchitekten. Zwischen 1999 und 2006 wird sie dann Mutter dreier Söhne und ist mehrere Jahre nur noch als Hausfrau tätig. Sie beschäftigt sich während dieser Zeit mit Hobbys, die sie zuhause machen kann. Sie näht Kostüme für ihre Kinder und Handpuppen für Kasperlitheater, die sie selbst spielt, besucht Batik-Kurse und engagiert sich in einem lokalen Naturschutzverein. «Mein botanisches Interesse war damals noch sehr oberflächlich», sagt sie.
Doch als ihr Mann gesundheitliche Probleme erleidet, muss sie die ganze Familie allein stemmen. Sie steckt ihre eigenen Bedürfnisse zurück, geht putzen, pflegt ihren Mann und umsorgt die Kinder mehrere Jahre lang mit der Unterstützung der Schwiegereltern. Tagein, tagaus, bis es nicht mehr geht. «Irgendwann habe ich keine Luft mehr gekriegt», sagt sie. Das Resultat sind ein Nervenzusammenbruch und eine Scheidung. «Seither weiss ich, was eine Depression ist», sagt sie. Das ist der einzige Moment unseres Treffens, in der die gestandene Frau langsamer und mit gedämpfter Stimme spricht. «Ich bin unendlich dankbar für Unterstützung meiner Schwiegereltern in dieser Zeit.»
Auf dem Weg zur Botanikerin
Als alleinerziehende Mutter lässt sie sich schliesslich zu guten Bedingungen als Reinigungsfachkraft anstellen und jobbt bei mehreren Arbeitgebern gleichzeitig. Und dann kommt 2012 alles aufs Mal: Sie meldet sich als Kursleiterin bei BirdLife an und sieht ein Inserat für das Zertifikat 600. «Das war ein magischer Moment für mich. Ich wusste, ich will dieses Zertifikat!» Ihre Mine lässt nun nichts mehr von den vergangenen Strapazen ahnen. Sie gibt sich sieben Jahre Zeit, die Prüfung zu bestehen. «Ich stand jeden Morgen um fünf Uhr auf, um zu lernen», sagt sie. «Für meine Söhne war das normal geworden.»
Fast fünf Jahre lang führt sie täglich Protokoll über ihren Lernfortschritt, nimmt jedes Jahr an der Prüfung teil, gibt nebenbei Kurse für BirdLife und macht eine Weiterbildung als Erwachsenenbildnerin. Die Struktur der Botanik gibt ihr eine Art Kontrolle über ihr Leben zurück und sie blüht wieder auf. Ihre Fortschritte bei den Prüfungen hält sie als Grafik fest und wird jedes Jahr besser, bis sie 2016 schliesslich besteht. «Ich war sogar die Beste bei der Artenkenntnis», sagt sie und strahlt bis über beide Ohren.
Heute steht sie auf eigenen Beinen und ist mit «Feldflora» eigenständig als Feldbotanikerin. Sie gibt Kurse, arbeitet auf Augenhöhe mit Biologinnen und Biologen an Botanikprojekten in der ganzen Schweiz und ist mittlerweile auch im zweiten Ausbildungsjahr zur Wissenschaftlichen Mitarbeiterin am Biodiversitätsmonitoring der Schweiz. Und das alles ohne Studium. «Ich glaube schon, dass ich stolz darauf sein kann, an diesem Punkt zu stehen», sagt sie.
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Mehr als ein Hobby
Zurück in ihrem Zimmer taucht sie erneut in ihr Reich ein. In jedem Winkel hat sie botanische Unterlagen und handgefertigte Arbeiten verstaut. Aus ihrem offenen Kleiderschrank etwa holt sie eine Kiste mit Postkarten heraus, die sie von Hand gefertigt hat. Zahlreiche botanischer Sujets, fotografiert von ihr. Sie greift eine Reihe heraus und erklärt, dass sie alle Fotos einzeln drucken lässt, sie dann auf harten Karton klebt und mit ihrem persönlichen «Feldflora»-Stempel versieht. Unter diesem Namen findet man sie im Internet und auch auf Instagram. Über 700 verfolgen dort ihre Tätigkeiten und detailreichen Fotografien aus der Welt der Pflanzen. Die Fotos schiesst sie übrigens alle mit dem Smartphone durch ihre Lupe, wie sie mir erzählt. «Das braucht etwas Übung, aber mittlerweile habe ich den Bogen raus», sagt sie und freut sich über die vielen Menschen, die sich für ihr Tun interessieren. Dann holt sie eine durchsichtige Aufbewahrungsbox von einem Stapel am Boden. Was aussieht wie viele bunte Perlen sind Pflanzensamen, die sie darin gesammelt hat. «Ich finde sie so schön», sagt sie. «Aber ich sammle noch nicht so lange.»
Benjamas Ramsauer ist eine unglaublich disziplinierte Frau und Mutter mit schier ansteckender Lebensfreude und Kreativität. Sie hat in der Botanik eine Erfüllung gefunden, wie sie sich viele Menschen in ihrem Leben wünschen. «In der Natur bist du wie alle anderen auf der Welt. Sie fragt nicht, woher du kommst, wie du aussiehst oder ob du studiert hast», versucht sie sich die Leidenschaft zu erklären. «Es ist schön das tun zu dürfen, was man liebt. Aber genug gequatscht. Ich muss dir ja noch mein Atelier im Keller zeigen. Komm mit», sagt sie zum Schluss.
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