Lange gehörten Herbarien zum unverzichtbaren Arbeitsinstrument von Botanikerinnen und Botanikern. In den letzten Jahrzehnten sind sie etwas in Vergessenheit geraten, weil die modernen Technologien in der Biologie mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen erhielten. Damit ist nun Schluss. «Man kann heute so gut mit Herbarien forschen wie niemals zuvor», stellt Dr. Katja Rembold klar.

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Die Botanikerin betont: «Ob sich das Verbreitungsgebiet, die Blattgrösse, Behaarung, Formen und die Blühzeit verändern, kann mit Hilfe der Herbarien festgestellt werden.» Durch neue Analyseverfahren könnten immer vielfältigere Informationen aus dem konservierten Pflanzenmaterial gewonnen werden. Das ermögliche etwa Vergleiche zur genetischen Vielfalt von früher mit heute. Katja Rembold und Kolleginnen und Kollegen haben das Herbarium des Botanischen Gartens der Universität Bern zu neuem Leben erweckt. Während vielen Jahren fristeten die konservierten Pflanzenbelege ein Dasein im Schatten. Das dürfte sich nun aber ändern.

«Man kann heute so gut mit Herbarien forschen wie niemals zuvor.»

Dr. Katja Rembold, Botanikerin

Der Botanische Garten Bern und die Universität mieten neu unterirdische Räumlichkeiten in der Berner Länggasse. Ziel: Rund 500 000 Herbarbelege sicher und fachgerecht archivieren. Katja Rembold betreut, nebst ihren Aufgaben am Botanischen Garten, als Kuratorin das Herbarium, das zu den bedeutendsten der Schweiz gehört. Sie leitet mit ihrem Team die Herkulesaufgabe der Inventarisierung und Digitalisierung. Im April des letzten Jahres begann der grosse Umzug.

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Präzise Angaben des Fundorts

Katja Rembold weiss aus eigener Erfahrung um den Wert von Herbarien. Während sechs Jahren sammelte sie im Rahmen einer tropenökologischen Arbeit in indonesischen Regenwäldern über 8000 Pflanzenbelege. «Für die Tropen gibt es keine Apps und kaum Feldführer, die einzige Bestimmungs- und Vergleichsmöglichkeit ist meist das Herbarium», sagt die grosse Pflanzenfreundin. Sie baute mit dieser Sammlung Referenzbelege auf, um zu dokumentieren, welche Pflanze wo wächst. Nun zieht sie im Herbarium des Botanischen Gartens Bern eine dicke Mappe aus einem Gestell und öffnet einen der zahlreichen Einzelbelege, die sich darin verbergen.

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«Herbarium Fuchs, Flora Helvetica, Elatinaceae, Elatine triandra» steht da über dem gelblichen Blatt, auf dem gepresste kleine Pflanzenteile montiert sind. Ein Text vom 11. Juli 1950 gibt Aufschluss darüber, dass die Pflanze im französisch-schweizerischen Grenzgebiet, «links der Strasse von Faverois nach Suarce, nordöstlich der Ferme de l’Etang Fourchu, halbwegs zwischen Faverois und Suarce, am waldbestandenen, östlichen Ufer des Etang de la Grille im feuchten Ufersand» gefunden wurde.

Katja Rembold lobt: «Die Angaben des Sammlers sind ideal.» Manchmal fände sie lediglich getrocknete, mit einer Sammelnummer versehene Pflanzen. «Zu den Sammelnummern gehört dann ein Notizbuch, in dem vermerkt ist, wann dieser Beleg wo und von wem gesammelt wurde», erklärt die Botanikerin. Die Herbarbelege waren in geographische, private und thematische Sammlungen unterteilt, sodass dieselbe Art in verschiedenen Teilsammlungen versteckt sein konnte.

«Damit man sich in Zukunft besser zurechtfindet, wird die ganze Sammlung umstrukturiert, wobei Angaben über die Zugehörigkeit zu den ehemaligen Teilsammlungen dokumentiert werden», sagt die Kuratorin. In Zukunft würden die Belege alphabetisch nach Familie, Gattung und Art sortiert, wobei zwischen Pilzen, Flechten, Algen,Moosen, Farnen und Samenpflanzen unterschieden werde, erklärt Rembold.

Schatzsuche

Bevor die Pflanzenbelege in das neue Archiv gelangen, werden sie in einer Stickstoffkammer bei einer privaten Firma während eines Monats behandelt. So werden eventuelle Schädlinge abgetötet. Nachher wird jeder Pflanzenbeleg auf Text und Zustand kontrolliert.«Beschädigte werden restauriert», sagt die Botanikerin. Katja Rembold geht durch einen langen unterirdischen Flur, klopft an eine Tür. Kaum ist sie im Raum, ruft ihr eine helle Stimme freudig entgegen: «Wir haben einen Schatz gefunden!» Anne Morel zeigt strahlend ein vergilbtes Papier. Darauf sind sehr spektakuläre Blattrosetten und Blütenstände montiert.

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Die Botanikerin Morel fertigt hochaufgelöste digitale Fotos an und vervollständigt die Etikettentexte in einer Datenbank. Sie blickt verklärt auf die getrocknete Pflanze und schwärmt: «Die Saxifraga florulenta.» Die Pflanze stamme aus dem französisch-italienischen Grenzgebiet, sei sehr selten, es daure bis zu 75 Jahre, bis sie blühe. Wieder ist es der Sammler Hans-Peter Fuchs, dem der Fund am 9. Oktober 1955 gelang und der genaue Angaben dazu festgehalten hat. Anne Morel legt den Beleg unter ihre spezielle Fotostation. Zum Bilddokument notiert und vervollständigt sie in der Datenbank alle Angaben.

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«Die Erfassung ist eine Sicherung und ermöglicht, Dokumente einfach externen Forschern zur Verfügung zu stellen, doch der Herbarbeleg gibt ein Vielfaches mehr her als eine Fotografie», stellt Katja Rembold klar. Zum Beispiel kann durch Analysen von Pflanzenmaterial von Herbarbelegen und heutigen Pflanzen am gleichen Standort untersucht werden, ob sich die genetische Vielfalt verändert hat. Oft stellen Botaniker fest, dass die genetische Vielfalt der Herbarbelege wesentlich höher ist als diejenige heutiger Bestände.

Der Blick in die Pflanzengeschichte reicht beinahe 300 Jahre zurück. Der älteste bis jetzt entdeckte getrocknete und gepresste Pflanzenbeleg im Berner Archiv stammt von 1753. «Wir verwahren auch zahlreiche Typusexemplare», verrät Katja Rembold.

Nach diesen Belegen sei eine Art ursprünglich beschrieben worden. So wie etwa das Langblättrige Lungenkraut (Pulmonaria longifolia) aus der portugiesischen Provinz Beira Baixa, an der Strasse von Fondão nach Alpedrinha, am 23. Mai 1978 von einem M. Bolliger gesammelt. Diese Belege spielten in der Forschung eine grosse Rolle. In Bern lagerten Pflanzenbelege aus aller Welt. «Der Fokus liegt aber auf der heimischen Flora», sagt Rembold. Die meisten Schweizer Arten seien als Herbarbelege vorhanden.

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Aufwendiges Verfahren

Zum Herbarium gehören weitere exquisite Sammlungen. Beispielsweise Fossilien mit Versteinerungen von Bärlappgewächsen und Farnen. Oder die Alkoholsammlung. Sie besteht aus voluminösen Pflanzenteilen wie dem Blütenstand einer Titanwurz. Auf dem Etikett der Flasche steht: «Amorphophallus titanum, Blütenstand aus Knollen von Sumatra, im Bot. Garten Bern aufgezogen, 1936». Weiter werden Samenkapseln, Zapfen und Kalebassen in der Trockensammlung eingelagert. Umfangreiche Diasammlungen und historische botanische Bücher ergänzen das Archivmaterial.

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Die Pflanzenbelege sind alle mit Herbarklebestreifen auf einen Bogen säurefreies Papier geklebt. Katja Rembold sagt, wie das Sammeln ablaufen soll: «Der Beleg sollte im Feld mit einer Sammlungsnummer versehen werden.» In einem Notizbuch würden alle wichtigen Angaben zu dieser Sammelnummer festgehalten: wann, wo, von wem gesammelt, falls möglich mit Koordinaten. Zudem müsse alles notiert werden, was später beim Herbarbeleg nicht mehr zu sehen sein werde, wie Blütenfarbe, Duft, bei Bäumen die Rindenstruktur und ob Milchsaft produziert worden sei, streicht die Botanikerin heraus.

«Schliesslich wird der Beleg gepresst und getrocknet. Dazu wird er meist in Zeitungspapier eingeschlagen.» Erst wenn der Beleg vollständig trocken sei, könne er auf das Herbarpapier montiert werden. «Wenn gar kein Trockenschrank vorhanden ist, sollte die Zeitung täglich gewechselt werden, bis der Beleg trocken ist.» Es sei wichtig, dass auch heute Pflanzenbelege gesammelt würden. «Wenn dieser Umzug abgeschlossen ist, möchte ich das gerne wieder beginnen», sagt die passionierte Botanikerin und erwähnt das grösste Herbarium der Schweiz im Botanischen Garten Genf.

Dort würden regelmässig Sammelreisen, beispielsweise nach Westafrika, unternommen. Katja Rembold: «Je mehr Ökosysteme man versteht, desto besser begreift man das grosse Ganze.» Sie und ihre Mitarbeitenden bewältigen eine Herkulesaufgabe. Sie haben das Herbarium aus dem Dornröschenschlaf erweckt. Zum Vorschein wird bestimmt noch so mancher Schatz kommen.

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