Es röhrt im Wald. Im Wildnispark Zürich ist die Brunft der Rothirsche in vollem Gange. Martin Kilchenmann, der den Bereich Tiere im Park leitet, macht aus seiner Begeisterung für dieses majestätische Tier keinen Hehl. Dass der Rothirsch heute im Wildnispark zu hören ist, grenzt an ein Wunder. Denn diese Tierart war in der Schweiz lange von der Bildfläche verschwunden: Zu oft wurde das grösste Wildtier der Schweiz gejagt, zu oft vertrieben.

In den grossen, naturgetreuen Anlagen des im Jahr 1869 gegründeten Tierparks in Langnau am Albis fand er von Anfang an neben Rehen, Gämsen und Damhirschen Zuflucht. «Wir versuchen die Leute für das Thema Wildtiere zu begeistern. Hier können sie Hirsche mit fast allen Sinnen erleben und vieles über sie erfahren», sagt Martin Kilchenmann. Auf etwas mehr als 70 Hektaren, wovon die Hälfte frei begehbarer Wald rund um die Tieranlagen ist, sind Besuche an jedem Tag des Jahres möglich und erst noch kostenlos.

Rückkehr dank Jagdgesetz

Doch zurück zum König des Waldes: Um 1850 war der Rothirsch in der Schweiz ausgerottet. Permanenter Raubbau an den Schweizer Wäldern und die intensive Bejagung setzten dem Rotwild zu. Im Gegensatz zu den Nachbarländern wurde der Rothirsch in der Schweiz nicht durch den Adel gehegt, sondern war für jeden Bürger jagdbar. Erst in den 1870er-Jahren wurden die ersten Jagd- und Waldgesetze in der Schweiz erlassen. Mit Folgen für Fauna und Flora: «Dank den gesetzlichen Erlassen konnten sich die Wälder und die Wildbestände wieder erholen», sagt Sara Wehrli von Pro Natura, die auf Jagdpolitik spezialisiert ist. Der Rothirsch kehrte infolgedessen zur Jahrhundertwende aus Österreich nach Graubünden zurück. Dank der Beschränkung der Jagdzeit konnte sich der Bestand wieder ausbreiten.

Steckbrief Name: Rothirsch (Cervus elaphus)
Familie: Hirsche (Cervidae) 
Gewicht: Hirschkühe 90 bis 150 Kilogramm, Hirschstiere 100 bis 250 Kilogramm
Geweih: Nur Männchen tragen ein Geweih, welches sich jedes Jahr neu bildet
Fellfarbe: Im Sommer rotbraun, im Winter graubraun
Ernährung: Pflanzenfresser – frisst Gräser, Kräuter, Blätter, Rinden und Baumknospen
Lebensraum: Strukturreiche Wälder mit offenen Lichtungen
Sozialverhalten: Weibchen leben mit ihren Kälbern in Kahlwildgruppen, Männchen in kleinen Gruppen oder einzeln
Nachwuchs: Ein Kalb, selten zwei (Tragzeit etwa 8,5 Monate)
Feinde: Wolf, Luchs, Bär
Lebenserwartung: Bis zu 18 Jahre

Lange Zeit lebte der auf Störungen sensible Rothirsch ausschliesslich in den Alpen. Erst seit diesem Jahrhundert wagt er sich immer mehr ins Mittelland vor und erobert dort Terrain. Heute geht man in der Schweiz von einer Rothirschpopulation von rund 40 000 Tieren aus. Während sich im Sommer der Lebensraum der Hirsche weit bis hinauf in die Berge erstrecken kann, begibt sich der Rothirsch im Winter in tiefere, schneearme Lagen, wo Futter leichter zu finden ist. Dabei streift er durch Talschaften, wo der Mensch allgegenwärtig ist. «In tieferen Lagen findet der Rothirsch deutlich weniger ruhige Orte, an denen er sich im Winter aufhalten kann.» Das hat Folgen.

Aufgrund ihres scheuen Wesens besitzen wild lebende Rothirsche eine «hohe Fluchtdistanz vor Menschen», wie es in der Fachsprache heisst. Nähert sich ein Mensch, ergreifen sie schnell die Flucht. Doch Unruhe und Stress steigern ihren Kalorienbedarf, was gerade im Überwinterungsmodus suboptimal ist. «Ihr ganzer Metabolismus wird so gestört, sie brauchen mehr Futter und verbeissen dementsprechend die Triebe und Rinden der Bäume», erklärt die Wildtierexpertin Sara Wehrli. Knapper Platz und fehlende Ruhe in der Schweizer Landschaft ­– das sind im Moment die grössten Knacknüsse für den Rothirsch.

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Dem Menschen angepasst

Viele Forscher heften sich derzeit an die Fersen dieses unverkennbaren Tiers mit breiter Brust und langem, schlankem Hals. Im Auftrag des Bundesamts für Umwelt haben drei Schweizer Hochschulen das Verhalten der Rothirsche im Schweizer Mittelland untersucht. Mit spannenden Ergebnissen, die Anfang 2024 veröffentlicht wurden. Mit Wildtierkamera-Monitoring und durch das Ausrüsten von Rothirschen mit GPS-Halsbändern haben die Forschenden das Auftreten sowie Verhalten der Hirsche im Mittelland erfasst. Mit von der Partie war auch der Wildnispark Zürich, der neben dem Tierpark Langenberg in Langnau am Albis auch den Naturerlebnispark Sihlwald umfasst.

Der Sihlwald, der 2010 vom Bund zum ersten Naturerlebnispark der Schweiz erklärt wurde, ist eine Waldlandschaft, in der sich die Natur weitgehend ohne menschliche Eingriffe entfalten kann und wo auch Rothirsche ein Zuhause haben. Dort lässt man natürlichen Prozessen freie Hand. Es sei daher für den Wildnispark Zürich selbstverständlich gewesen, sich am Forschungsprojekt der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zu beteiligen, erzählt Martin Kilchenmann: «Auch für uns war es spannend, herauszufinden, wie sich die hiesigen wild lebenden Rothirsche verhalten.»

«Die Rothirsche im Mittelland haben sich an Störungen schon mehr gewöhnt»

Sara Wehrli, Wildtierexpertin, Pro Natura

Eine besonders interessante Erkenntnis aus dem Projekt ist, dass der Rothirsch äusserst anpassungsfähig zu sein scheint. Während er sich tagsüber im Mittelland vorwiegend in Deckung im Wald oder in hochwüchsigen landwirtschaftlichen Kulturen sowie Naturschutzflächen aufhält, begibt er sich erst bei Nacht auf Nahrungssuche in den waldrandnahen Bereichen und im Offenland. «Von Natur aus wäre der Rothirsch eigentlich tagaktiv», so Sara Wehrli. «Die Rothirsche, die sich im Mittelland angesiedelten, haben sich an Störungen schon mehr gewöhnt.» Sie hielten dort bereits geringere Distanzen wie beispielsweise zu Wegen, Strassen oder Siedlungen ein – bleiben aber trotzdem praktisch unsichtbar.

Laut der Studie finden grossräumige Ortsverschiebungen der Hirsche ebenso in der Nacht statt. Gerade in der Brunftzeit sind die Stiere weiträumig unterwegs. Zwar gibt es auch Rothirsche, die ganzjährig im selben Lebensraum im Mittelland verbleiben, doch grössere Wanderungen zwischen dem Mittelland und den südlich gelegenen Quellpopulationen sind keine Seltenheit, heisst es in der Studie weiter. Diese Wanderungen unternehmen vorrangig Hirschstiere, während Hirschkühe eher einem Standort treu bleiben.

Der verlockende Geruch

Auf der Suche nach Weibchen zur Paarung vertrauen die Stiere ihrem ausgezeichneten Geruchssinn. «Es ist während der Brunftzeit auch schon vorgekommen, dass frei lebende Stiere an unser Gehege der Kahlgruppe gekommen sind, da sie die Weibchen gerochen haben», erzählt Kilchenmann vom Wildnispark Zürich. Dort werden die Rothirsche in drei Gruppen gehalten. Wie in der Natur besteht zum Grossteil des Jahres eine Kahlwildgruppe, die sich lediglich aus Weibchen und ihrem Nachwuchs konstituiert. Währenddessen befinden sich die Stiere in einer Junggesellen- oder Seniorengruppe. Pünktlich zur Brunft wird ein genetisch passender Stier auserkoren, der zur Kahlwildgruppe stossen und sich fortpflanzen darf. In freier Wildbahn würde dem Platzhirsch, dem stärksten Stier, die Ehre gebühren.

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Die Brunftzeit fängt in der Regel gegen September an und dauert etwa sechs bis acht Wochen. Während dieser Zeit röhren die Stiere um die Wette und so um die Gunst der Hirschkühe. Kommen sich zwei Stiere zu nahe, fängt das grosse Vergleichen an. Scheut keiner der beiden Rivalen vor einem Kräftemessen, werden die Geweihe gekreuzt und ineinander verkeilt. Der grössere Sturkopf mit stärkerem Stand kann sich behaupten. «Dabei kommt es auf die Kraft an, nicht auf die Grösse des Geweihs», sagt Martin Kilchenmann. Wer dieses Spektakel live miterleben möchte, kann dies jedes Jahr beispielsweise im Walliser Aletschwald tun. In einer geführten Exkursion von Pro Natura geht es bei herbstlicher Morgendämmerung auf die «Pirsch».

Im Wildnispark Zürich bleibt der Zuchtstier etwa bis Ende Jahr bei der Kahlwildgruppe, danach lebt er wieder mit der Junggesellengruppe zusammen. In der Setzzeit, die im Mai anfängt, bekommen die Hirschkühe ihre Kälber. Die Jungtiere bleiben nach der Geburt ein bis zwei Tage regungslos liegen. In dieser Phase wird täglich das Gehege abgelaufen, damit das Jungtier eine Ohrmarke erhält, sein Geschlecht bestimmt wird und seine Gesundheit überprüft werden kann. «Hat man es in dieser Phase nicht erwischt, dann lässt es sich später nicht mehr einfangen», so Martin Kilchenmann, Leiter Bereich Tiere des Parks. Die Jungtiere werden nicht verkauft, aber bei Bedarf an andere Zoos abgegeben. Der Grossteil – eine Kuh gebärt in der Regel ein Jungtier, selten zwei – wird geschossen und zur Fütterung der Raubtiere im Park genutzt. «Es ist ein sehr ökologisches Raubtierfutter. Das Tier kommt bei uns auf die Welt, wird hier geschossen und wenn möglich sofort verfüttert – für unsere Raubtiere gibt es kein besseres Futter», erklärt Kilchenmann.

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Weniger Feinde, dafür grössere Barrieren

In der Schweiz ist der Rothirsch durch natürliche Feinde so gut wie gar nicht mehr gefährdet. Das ist nicht unproblematisch: In den letzten Jahren breitet er sich immer weiter aus. Und stösst dabei nicht selten auf Hindernisse: Dazu gehören Autobahnen, denn sie sind abgezäunt. «Die Autobahnen verhindern auf grosse Distanz, dass der Rothirsch sich von den Alpen und Voralpen hin über das Mittelland bis in den Jura ausbreiten kann», so Sara Wehrli. Sie lassen sich nur an sehr wenigen Stellen wie an einem Bach oder einem Viadukt über- oder unterqueren. Gerade die A1, die von der Ostgrenze bei St. Gallen bis hin zur Westgrenze bei Genf führt, stellt das mit Abstand grösste Hindernis für den Rothirsch und dessen Ausbreitung in den Jura dar.

«Es benötigt noch weitere Massnahmen, um Wildtieren zu helfen»

Sara Wehrli, Wildtierexpertin, Pro Natura

Damit unterbrochene Wildtierkorridore wieder hergestellt werden können, benötigt es Wildtierüberführungen bzw. -brücken. Im August 2024 wurde eine solche bei Mühleberg im Kanton Bern über der A1 eröffnet. Sie soll die Lebensräume Voralpen und Jura miteinander verbinden. Laut Sara Wehrli verstreicht zu viel Zeit, bis solche Brücken gebaut bzw. saniert werden: «Sie werden meist erst dann gebaut, wenn sowieso Bauarbeiten an einem bestimmten Abschnitt erfolgen.» Seit 2001 sind der Bund und das Bundesamt für Strassen daran, Wildtierkorridore mit überregionaler Bedeutung zu sanieren. Denn Wildtierbrücken helfen auch zahlreichen weiteren Wildtieren bis hin zu Fledermäusen. «Fledermäuse benötigen ebenfalls Strukturen, an denen sie sich orientieren können», erklärt Wehrli. Mit der neu eröffneten Wildtierbrücke bei Mühleberg sei das Problem jedenfalls noch nicht gelöst: «Es benötigt noch weitere Massnahmen, um Wildtieren zu helfen.»

Zu viele Rothirsche in der Schweiz?

Doch zurück zum Status quo: Mit rund 40 000 Rothirschen ist der Bestand derzeit so hoch wie noch nie in der Schweiz. Ob er gar zu hoch ist, wird laut Wehrli derzeit zwischen Jägern und Förstern rege diskutiert. «Unter den heute herrschenden Bedingungen gibt es lokal Gebiete, wo der Rothirschbestand auch etwas tiefer sein dürfte», gibt Sara Wehrli zu bedenken. Konflikte bestehen vor allem im Wald und auf landwirtschaftlich genutzten Flächen. Das alljährliche Fegen und Schlagen des Geweihs an Bäumen sowie deren Schälen und Verbiss durch Rothirsche schadet den Baumbeständen. Aufgrund des Klimawandels ist die Forstwirtschaft jedoch darauf angewiesen, die Wälder klimastabil umzubauen. Was wiederum nur gelingt, wenn die Wildschäden durch den Rothirsch in Zaum gehalten werden können.

Was bedeutet das für die Praxis? Eigentlich ist der Fall klar: Der Rothirsch darf unter keinen Umständen noch mehr eingeengt werden. Wird er zu sehr in die Wälder gedrängt, verbeisst und gefährdet er die nächste Waldgeneration. Um Störungen zu minimieren, braucht er wieder mehr Platz. Ein echter Platzhirsch eben.