Mitwelt statt Umwelt
Der Alltag der Waldmenschen von Bern
Ein Leben in und mit der Natur, ohne fliessendes Wasser oder Heizung – und das während des ganzen Jahres. Können Sie sich nicht vorstellen? Die Waldmenschen von Bern schon. Wie das funktioniert, haben drei der selbst ernannten Lebenskünstler der TierWelt bei einem Besuch erklärt.
Chrütli, Röfe und Urs sind drei Männer, die sich – aus unterschiedlichen Gründen – für ein Leben abseits der gängigen Zivilisation und für ein Leben in der Natur entschieden haben. Einem breiteren Publikum dürften sie als Waldmenschen von Bern bekannt sein. Oder, wie sie sich auf Facebook nennen, als Lebenskünstler vom Bremgartenwald. Dort verbringen sie 365 Tage im Jahr, führen ein einfaches Leben in und mit der Natur; mit wenig Besitz, wenig Abhängigkeiten, aber vielen Freiheiten. Unumstritten ist diese Lebensform allerdings nicht. Das hat insbesondere Chrütli schon zu spüren bekommen, der erste der Waldmenschen, der aktuell seinen zwölften Winter im Wald verbringt und seither selbstredend weder Miete oder Steuern noch Krankenkassenprämien zahlt. 2012 hat sich der gelernte Bereiter in den Wald zurückgezogen, um einem Burnout zu entfliehen. Die ersten Jahre lebte er auf Waldboden der Burgergemeinde Bern. Diese erachtete den Aufenthalt von Chrütli als illegal und verhängte Bussen, die der Aussteiger zwar im Gefängnis abgesessen hat, nur um unmittelbar danach wieder in den Wald zurückzukehren.
2019 stellte die Stadt den Waldmenschen eine der eigenen Waldparzellen zur Verfügung. Dort führen sie seither ein von der Stadt geduldetes Aussteigerleben. Zu einem grössten Teil könne er so frei und selbstbestimmt leben, sagt Chrütli. «Ein grosser Teil meiner Abhängigkeiten habe ich mit meiner Person abgelegt.» Seinen gebürtigen Namen Martin Wyss verwalte er nur noch, identifiziere sich aber schon lange nicht mehr mit ihm. «Ich habe nur noch einen seit 20 Jahren abgelaufenen Pass, mehr nicht.» Die Lebensweise der Waldmenschen stiess weit über die Grenzen Berns hinaus auf grosses Interesse. Schweizweit bekannt wurden sie durch zwei SRF Dokus aus den Jahren 2021 und 2022, welche die Lebensweise der Aussteiger thematisieren, aber auch der Frage nachgehen, ob sie asoziale Schmarotzer oder eben doch Freigeister sind. Zahlreiche weitere Medienberichte folgten, die Bekanntheit der Waldmenschen wuchs. «Ich kann in der Schweiz nirgendwo mehr hin, ohne erkannt zu werden», erzählt Chrütli. Manchmal sei es etwas unheimlich, aber ebenso spannend. «Ich wundere mich einfach, warum dieses Leben andere so interessiert. Aus meiner Sicht mache ich ja nichts Spezielles – ausser das, was mir guttut.»
«Pilze sammeln ist Meditation»
Es ist der letzte Montag im Oktober – strahlend blauer Himmel und T-Shirt-Wetter an der Sonne; der Wald herbstlich eingefärbt. Chrütli geht zielsicher durch den Wald. Immer an seiner Seite ist seine Hündin Manali. «Den Platz, wo wir jetzt leben, habe ich bereits als Kind gekannt», erzählt er. Schliesslich ist er unweit davon in Bern-West aufgewachsen. Leise Rave-Musik lässt erkennen, dass das Ziel nicht fern ist. Und tatsächlich dauert es vom Stadtrand her kaum zehn Minuten, um die Lichtung zu erreichen, auf der die Waldmenschen leben. Jeder von ihnen schläft in einem rudimentären, selbst gebauten Unterstand mit integrierter Feuerstelle; daneben ein Gemüsegarten, eine weitere Feuerstelle «für den Sommer» und ein Tisch mit einer Bank, wo Röfe bereits sitzt, Musik hört und raucht. Der 48-Jährige war vor seinem Ausstieg Bauer; hat nun seinen zweiten Winter im Wald vor sich. Chrütli gesellt sich zu ihm – doch nicht, ohne vorher einen Lungenseitling aus dem Boden zu ziehen. «Toll, das gibt ein leckeres Znacht!» Pilze zu sammeln sei für ihn wie Meditation, erzählt der 53-Jährige. «Für mich ist das die beste Auszeit des Tages, wenn ich mir einige Stunden Zeit nehme, mit den Hunden querfeldein gehe und zusehe, was ich finde.» Wenn dabei auch Abfall von anderen Waldbesuchenden ist, wird dieser genauso mitgenommen wie die Pilze. Denn: «Trage Sorge zur Natur und hinterlasse alles so, wie du es vorgefunden hast», lautet eine der wenigen Regeln, die unter den Waldmenschen gelten.
Die Welt der Pilze wurde Chrütli früh von seinem Vater nähergebracht. «Schon mit vier Jahren sammelte ich mit ihm im Oberland Steinpilze.» Sowieso habe er durch seine Eltern – der Vater gelernter Gärtner, die Mutter Köchin – vieles mit auf den Weg bekommen, was ihm in seiner heutigen Lebensweise nützt. Insbesondere kochen könne Chrütli gut, meint Röfe. «Er muss nie nachwürzen, sondern hat immer das Gefühl für die richtige Menge.» Chrütli lacht. «Tatsächlich habe ich noch keine Frau kennengelernt, die besser kocht als ich.» Frauen sucht man vergebens bei den Waldmenschen – genau wie fliessendes Wasser auch. «Frauen haben einfach ein anderes Hygienebedürfnis als wir.»
50 Franken pro Woche reichen Chrütli
Wasser holen ist – genau wie Holz sammeln – eine jener Aufgaben, welche die Waldmenschen täglich bewältigen. Urs hat das gerade erledigt und gesellt sich nun zur Gruppe. «Es gibt in der Nähe einen Brunnen, der das ganze Jahr läuft», erzählt der 59-Jährige. Grundsätzlich schaue dabei jeder für sich. «Unter uns gelten folgende Regeln: Jeder muss sich selbst einen Unterstand bauen können. Er muss selbst permanent ein Feuer unterhalten können. Und er muss selbst sehen, dass er zu seinem Essen kommt», betont Chrütli. «Wir kochen dann und wann mal zusammen, aber letztendlich verstehen wir uns als Zweckgemeinschaft. So entstehen keine Abhängigkeiten.» Ein Solarpanel versorgt die Waldmenschen mit Strom; Smartphones sorgen für den Kontakt zur Aussenwelt und die Möglichkeit, up to date zu bleiben. Chrütli sieht das als Pflicht. «Wenn es irgendwo auf der Welt ‹tätscht› und eine Versorgungskette zusammenbricht, betrifft mich das ja letztendlich auch mich.» Das wenige, was Chrütli braucht, kauft er mit Geld, das er sich durch Schnitzereien und Dogsitting verdient. «Mit 200 Franken pro Monat lebe ich ein sehr angenehmes Leben.» Doch wie angenehm ist das Leben im Wald, wenn die Temperaturen näher an den Gefrierpunkt rücken? «Seit ich im Wald wohne, hatte ich noch nie das Gefühl, dass es zu kalt sei», so Chrütli. Er möge alle Jahreszeiten. «Morgens als Erster durch frisch gefallenen Schnee zu stapfen, ist wunderschön.» Das Grundlegende im Winter sei die Feuerstelle im Unterstand. Manali und im Notfall eine Bettflasche wärmen ihn zusätzlich, krank sei er so gut wie nie. Sehnsucht nach einer geheizten Wohnung? Fehlanzeige. «Schliesslich lebe ich hier in der Umwelt.» Ein Wort, das Urs nie mochte. «Sag doch ‹Mitwelt›, schliesslich leben wir ja, auch wenn wir ausgestiegen sind, mit der Welt.»
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