Es ist ein unscheinbares Fleckchen Wald, oben auf dem Südranden, nicht weit von der Stadt Schaffhausen entfernt. Der Wanderweg wird etwas breiter, der Boden ist etwas feuchter als im Rest des Unterholzes, dicke Reifenspuren sind im Schlamm zu erkennen. Links und rechts wachsen dünne weisse Bäume in die Höhe. Noch tragen sie keine Blätter, nur die Weiden daneben haben schon feine gelbe Blüten an den Enden ihrer Zweige.

Bernhard Egli wirkt in seiner orangen Regenjacke wie ein Fremdkörper in dieser Idylle. Er nähert sich der ehemaligen Grube, bleibt stehen und blickt sich um. Mit dem Finger deutet der 64-Jährige auf einen der Stämme und raunt: «Das ist jetzt eben so eine Zitterpappel.» Dass die Populus tremula, auch als Espe bekannt, an dieser Stelle so zahlreich vorkommt, ist kein Zufall. Die Baumart wird von Eglis Team gezielt gefördert: Letztes Jahr kamen sie vorbei, entfernten einige andere Pflanzen und sorgten bei den Pappeln künstlich für eine Störung. «Man fällt einen der Zitterpappelbäume, welcher dann mittels Wurzelschossen eine ganze Anzahl junger Bäumchen produziert»,erzählt er und schmunzelt. Durch dieses Eingreifen des Menschen entstand ein Pionierwald; ein Lebensraum, der sich durch die frühe Phase der natürlichen Sukzession auszeichnet, wie sie etwa nach einem Windwurf oder einem Erdrutsch vorkommt. Statt alter Fichten und Buchen, die dicht beieinander stehen, gibt es eine lichte Mischung aus jungen Bäumen und Sträuchern wie Birken, Weiden oder eben Zitterpappeln.

Egli bringt sein Gesicht nahe an die helle Rinde und kneift die Augen zusammen. In der Nähe der Endknopsen der Seitentriebe könnten sie sich verstecken, die Raupen des Kleinen Schillerfalters – ihretwegen ist er heute hier. Sie überwintern an den Zweigspitzen, schmiegen sich eng an diese an und wechseln ihr Äusseres zwecks Tarnung zu einer dunkleren, oliv-grünen oder braunen Farbe. Erst wenn sie im Frühjahr erneut aktiv werden, leuchten sie wieder grün. Die Raupen ernähren sich von der Pappel, verpuppen sich an ihr und verwandeln sich so in jenen bezaubernden Schmetterling, dessen Männchen – getreu ihremNamen – bläulich schillern. In der Schweiz steht der Kleine Schillerfalter auf der Roten Liste, eingestuft als «verletzlich». Im ganzen Land gibt es nur noch wenige zusammenhängende Verbreitungsgebiete, etwa in den Kantonen Jura, Genf und Tessin sowie am Südufer des Neuenburgersees. Und eben auch im Kanton Schaffhausen.

Der Kleine Schillerfalter ist eine von 24 ausgewählten Zielarten, die vom Naturpark Schaffhausen gefördert werden. Neben ihm kümmert sich Bernhard Eglis Abteilung etwa auch um die Wildkatze, die Schlingnatter oder den Steinkrebs. Sie alle sind selten und sie alle teilen ein Problem: Die Arten sind sehr anspruchsvoll, was ihren Lebensraum anbelangt. Der besagte Falter etwa legt seine Eier nur an kleinen, nicht blühfähigen Zitterpappeln ab, braucht also Pionierwälder zum Überleben. Diese sehr spezifische Spezialisierung auf ein Gebiet und eine Pflanzenart macht es dem Schmetterling so schwierig. Oder, wie es Egli pragmatisch ausdrückt: «Gewissermassen sind diese hoch spezialisierten Arten selber schuld, dass sie so kom-plexe Anforderungen an den Lebensraum haben.»

Ein langer Weg mit Widerstand

Der Schillerfalter braucht Pionierwälder. Diese wiederum benötigen eine regelmässige Störung, damit junge Arten nachwachsen können. Im behüteten Schaffhausen jedoch, auf der fast flachen Ebene des Südlichen Randens, kommt es kaum zu Erdrutschen oder Waldbränden. Die natürliche Verjüngung fehlt, weshalb es Egli und sein Team braucht. Um den Schillerfalter zu fördern, greift der Naturpark Schaffhausen ein.

Der Naturpark Schaffhausen ist ein Verein. Eine Organisation, die sich gezielt für die Stadt am Rhein und ihre ländliche Umgebung einsetzt. Oberstes Ziel des Naturparks ist es, die gesamte Region nachhaltig zu fördern. Nicht nur die Natur, die Artenvielfalt und die Biodiversität, sondern auch die Wirtschaft und die Gesellschaft. Dies geschieht auf vielerlei Weisen:Projekte werden angestossen und realisiert, Kampagnen auf die Beine gestellt, die regionalen Produzenten vernetzt oder auch touristische Angebote lanciert. Wie auch bei den anderen Schweizer Naturpärken (siehe Box auf Seite 25) ist das Engagement derart breitgefächert, dass es schwerfällt, alles zu erfassen. «Wir sind Ermöglicher», vereinfacht es Bernhard Egli, der heute den Bereich Natur und Landschaft leitet, aber schon von Anfang an dabei war.

2008 wurde im Entlebuch der erste Naturpark eröffnet. Das Konzept war damals in anderen europäischen Ländern bereits weitverbreitet und etabliert. In Frankreich etwa wurde der erste «Parc Naturel Régional» 1968 gegründet, heute gibt es dort 51 solcher Organisationen. In der Schweiz hingegen musste erst die gesetzliche Grundlage geschaffen werden, was 2007 mit der Revision des Natur- und Heimatschutzgesetzes geschah. Noch im selben Jahr startete man in Schaffhausen mit den Vorbereitungsarbeiten. Erst einmal galt es, die Grenzen abzustecken. Dafür wurde jede Gemeinde im Kanton beurteilt, «für jede einzelne mussten wir eine 60-seitige Checkliste vom Bund ausfüllen», erinnert sich Egli. Seine private Beratungsfirma war es, welche die Tabellen ausfüllte, sich mit der Exekutive jeder Gemeinde traf und zusammen mit der Zürcher Hochschule Winterthur die Machbarkeitsstudie ausführte. 2009 stellten sie das Gesuch beim Bundesamt und fünf Jahre später konnte dann endlich mit der eigentlichen Errichtungsphase begonnen werden. Erste kleinere Projekte wurden lanciert und von Bund und Kanton finanziert. «Vier Jahre hatten wir daraufhin Zeit, uns zu behaupten.» 2016 schliesslich stimmten 15 ausgewählte Gemeinden über einen Beitritt ab, 2018 wurde der Park offiziell gegründet.

Mit langen Schritten macht sich Bernhard Egli auf den Rückweg zu seinem Auto, das er am Feldweg mitten im Wald abgestellt hat. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet, die Hände ruhen in den Jackentaschen, während er erzählt: «Nicht alle Gemeinden waren damals von unserem Vorgehen begeistert.» Am Informationsanlass in Hallau beispielsweise habe es grossen Widerstand gegeben. Die Leute dachten, man nehme ihnen alles weg. Besonders die SVP habe sich gegen den Beitritt zum Naturpark ausgesprochen, weshalb das Anliegen mit rund 67 Prozent Neinstimmen abgelehnt wurde. Ein Jahr später meldete sich ausgerechnet jener Herr bei den Initianten, der damals an der Veranstaltung so laut gegen den Park vorgegangen war. «Er hat gesehen, was wir in den Nachbargemeinden alles geleistet haben», erzählt Egli, während sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitet, «woraufhin Hallau nachträglich dem Park beigetreten ist.»

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Freiwilliger Einsatz für Wildbienen

In seinem silbernen Volkswagen tuckert Bernhard Egli aus dem Wald hinaus, hinunter auf die weite Ebene der Schaffhauser Hügellandschaft, hinein in das Dorf Hallau. Hinter den markanten Fachwerkhäusern er-heben sich die Rebberge der Gemeinde. Der Weinanbau sei eine wichtige Attraktion der Region, erzählt der ausgebildete Biologe und schwärmt von der jährlichen Weinprobe, die jeweils im August im Kreuzgang des Museums zu Allerheiligen stattfindet – für ihn persönlich die schönsten drei Tage des Jahres. Egli kennt die meisten Weinbauern persönlich, hat er doch mit fast allen schon das eine oder andere Projekt umgesetzt. Dass der Naturschutz auch im Weinanbaugebiet keinen Halt macht, zeigt sich während der Fahrt über die schmalen Strässchen hinauf auf die Hügel. Alle paar Meter liegt ein Asthaufen zwischen den Rebzellen: Sie kamen auf Initiative eines Vernetzungsprojekts Hallau-Wilchingerberg-Trasadingen und weiterer Projekte zustande. Sie veranlassten, dass jeder Weinbauer Beiträge vom Bund erhält, wenn er einen Teil seines Gebiets als Ökofläche zur Verfügung stellt. «Eine gute Sache, die einschlug wie eine Bombe», rühmt Egli.

Wie so oft steckt das wirklich Interessante auch hier im Unscheinbaren. Neben einer kleinen überwucherten Ausbuchtung im Weg hält Egli sein Fahrzeug an, zieht die Handbremse und steigt aus. Die Böschung zu seiner Rechten sinkt fast senkrecht ab, am oberen Ende wuchert das Gras, darunter entblösst sich eine grosse, fast freie Fläche aus lehmartiger Erde. Der Experte geht auf die Knie und deutet mit dem Finger auf eine überhängende Wurzel: «Eine Wildbiene!» Kaum entdeckt, schwirrt das nur wenige Millimeter grosse Insekt auch schon wieder davon. Allein im Rebgebiet um Hallau, mit den wenige Meter breiten Böschungen, habe man 96 verschiedene Wildbienenarten gefunden, schwärmt der Naturparkmitarbeiter. Die winzigen Brummer sind auf solche Biotope angewiesen: Sie graben ihren Bau im festen, senkrechten Erdboden und legen dort ihre Brutzellen an. Und weil sich zwischen den Rebstöcken immer blühende Pflanzen finden, finden sie auch immer genügend Pollen.

Doch auch hier kommt die Vielfalt nicht ohne das Eingreifen des Naturparks zustande. Immer wieder organisiert Bernhard Egli Ausflüge mit Schulklassen, um die Böschungen vom Bewuchs zu befreien und so das Erdreich freizulegen. Ohnehin sei er oft mit Freiwilligen unterwegs. Neben Kindern gehören auch Angestellte von Firmen zu seinen häufigen Begleitern: Grössere Unternehmen zahlen dafür, dass ihre Angestellten einen Tag lang im Wald oder auf den Feldern mitarbeiten dürfen. «Das ist jeweils ein Riesengaudi», erzählt der Projektleiter mit einem Grinsen, «dann wird gebrätelt und viel gelacht.» Natürlich wären die Profis ohne die Freiwilligen effizienter, die Pflanzen und Sträucher wären schneller ausgerissen und entfernt. «Aber auf diese Weise können wir den Leuten auch immer etwas beibringen.» Das gehöre eben zum Naturpark: dass die Menschen sensibilisiert und gebildet werden. «Und das ist den Aufwand alle Male wert.» Vom Netzwerk profitieren

Ortswechsel, weg vom Hang, hinein in den Hofladen. Das Geschäft von Sophie Bührer ist liebevoll dekoriert: Von der Decke hängen bemalte Ostereier an Zweigen, auf dem Tisch in der Mitte stehen selbst gemachte Osterhasen, die auf Traktoren sitzen. In den Regalen steht fast alles, was man für den täglichen Bedarf benötigt. Mehl, Teigwaren, Eier, Honig, Fleischwaren, Milchprodukte, Joghurts, Glace und vieles mehr. An den Wänden hängen selbst geschriebene Schilder, die den Kunden verraten, woher die Produkte stammen und wie diese hergestellt wurden. Das meiste stammt vom eigenen Hof, alles kommt direkt aus der Region. «Das Einzige, was noch fehlt, sind Früchte und Gemüse», sagt Bührer und lächelt. Sie hätten es versucht, der logistische Aufwand sei aber schlicht zu gross gewesen. «Aber was nicht ist, kann ja noch werden.»

Die junge Frau steht hinter der Theke, die Haare nach hinten gebunden, vor ihr zwei liegen Kartonsvoller Eier. Sie stammen von dem familieneigenen Legehennenstall, der etwas ausserhalb von Bibern liegt. Neben den Hühnern besitzt die Bauernfamilie eine eigene Milchverarbeitung, bei der sie einen Teil der Milch ihrer 50 Mutterkühe verarbeitet. Weiter gibt es neun Hektaren Urdinkelfelder, rund 300 Hochstammobstbäume, mehrere grosse Maschinen, mit denen sie Lohnarbeiten ausführen, sowie eine Herde aus elf Zebus. Die Buckelrinder stehen zurzeit zufrieden in der strahlenden Frühlingssonne auf der Weide.

Der Hofladen der 22-Jährigen ist erst zwei Jahre alt, 2020 wurde der Anbau eröffnet. Um die regionalen Produkte an die Kundschaft zu bringen, hat die Familie der jungen Landwirtin einiges investiert.Sophie Bührer führt durch das Labyrinth aus Hinterräumen: Neben dem Lokal selbst wurde eine Restaurantküche installiert, eine Saftpresse für den eigenen Most angeschafft, eine Nudelmaschine für die Teig-waren, eine Glacemaschine für die kalten Köstlich-keiten. Und im Keller lagern die selbst hergestellten Produkte – bereit, verkauft und genossen zu werden.

Der Laden war eine Investition, die gerade zu Beginn der Coronapandemie auch ein grosses Risiko dargestellt hatte. Die Familie griff der Landwirtin unter die Arme, nahm einen Kredit auf, steckte viel Geld in den Umbau und das neue Standbein. Die Eltern erkannten, wie wichtig das Unterfangen für ihre Tochter war: Nächstes Jahr übernimmt sie den Betrieb. «Da wollte ich unbedingt etwas Eigenes machen», so Sophie Bührer.Unterstützung erhielt sie nicht nur von der Familie, sondern eben auch vom Naturpark Schaffhausen. Der Verein setzt sich nämlich nicht nur für die Natur, sondern auch für die Landwirtschaft und die Menschen in der Region ein.

«Am Anfang wusste ich gar nicht so richtig, was der Naturpark eigentlich ist», gesteht Bührer beim Gang über den Hof. Erst als sie sich mit der Organisation auseinandersetzte, wurde sie neugierig. «Besonders dieses Miteinander hat mich fasziniert.» So organisierte der Naturpark etwa den sogenannten «Randenbus»; einen Pendlerbus, der die Besucherinnen und Besucher hinauf auf den Randen bringt, den höchsten Berg in der Region, und wieder hinunterfährt. Eine vermeintlich kleine Aktion, die aber zumindest bei Bührer für Aufmerksamkeit sorgte. Sie meldete sich beim Naturpark, «und bald werden wir zum Naturparkladen.» Dann finden noch mehr Produkte von lokalen Herstellern ihren Weg in das hübsch dekorierte Geschäft der Familie. Und ihre eigenen Waren werden mit dem Naturpark-Label ausgestattet.

Das habe seine Vor-, aber auch seine Nachteile,gesteht die Landwirtin. Durch den Beitritt zum Naturpark nehme die Bürokratie zu, für die Zertifizierung muss der Inhalt der eigenen Produkte mindestens zu 80 Prozent aus der Region stammen. Dafür helfe ihr der Naturpark aber bei der Vermarktung: «Sie haben für uns Gespräche geführt, uns mögliche Abnehmer vermittelt und so geholfen, den Vertrieb zu stärken.» In all seiner Vielfalt ist der Naturpark vor allem eines: ein riesiges Netzwerk. Und von diesem profitiert nicht nur die Natur, nicht nur Schmetterlinge und Wildbienen, sondern eben auch die Menschen.

 

Pärke von nationaler Bedeutung in der Schweiz
- Schweizer Nationalpark, GR, Nationalpark seit 1914, nationalpark.ch
- UNESCO Biosphäre Entlebuch, LU, Regionaler Naturpark seit 2008, biosphaere.ch
- Naturpark Thal, SO, Regionaler Naturpark seit 2010, naturparkthal.ch
- Wildnispark Zürich Sihlwald, ZH, Naturerlebnispark seit 2010, wildnispark.ch
- Biosfera Val Müstair, GR, Regionaler Naturpark seit 2011, val-muestair.ch
- Landschaftspark Binntal, VS, Regionaler Naturpark seit 2012, landschaftspark-binntal.ch
- Parc régional Chasseral, BE/NE, Regionaler Naturpark seit 2012, parcchasseral.ch
- Naturpark Diemtigtal, BE, Regionaler Naturpark seit 2012, diemtigtal.ch
- Parc Ela, GR, Regionaler Naturpark seit 2012, parc-ela.ch
- Naturpark Gantrisch, BE/FR, Regionaler Naturpark seit 2012, gantrisch.ch
- Parc naturel régional Gruyère Pays-d’Enhaut, VD/FR, Regionaler Naturpark seit 2012, gruyerepaysdenhaut.ch
Jurapark Aargau, AG/SO, Regionaler Naturpark seit 2012, jurapark-aargau.ch
- Naturpark Beverin, GR, Regionaler Naturpark seit 2013, naturpark-beverin.ch
- Parc du Doubs, JU/NE/BE, Regionaler Naturpark seit 2013, parcdoubs.ch
- Parc Jura vaudois, VD, Regionaler Naturpark seit 2013, parcjuravaudois.ch
- Naturpark Pfyn-Finges, VS, Regionaler Naturpark seit 2013, pfyn.finges.ch
- Regionaler Naturpark Schaffhausen, SH,CH/DE, Regionaler Naturpark seit 2018, naturpark-schaffhausen.ch
- Parco Val Calanca, GR, Kandidat Regionaler Naturpark seit 2020, parcovalcalanca.swiss

 

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