«Man hört das Wasser rauschen, sieht Eiszapfen und allerlei schöne Gebilde, welche die Natur formt», schwärmt Marcel Schenk. Der Bergführer ist einer der ganz wenigen, die in der Schweiz Winter-Canyoning anbieten. Er selbst sei zusammen mit einem Kollegen auf die Idee gekommen, in der Wildwasserschlucht Ova da Bernina winterliche Ausflüge durchzuführen.

«2017 war ein schneearmer Winter und wir suchten eine Alternative zum Skitourenfahren», erzählt Schenk. «So kam die Entdeckerlust in uns auf und wir prüften, wo man durchkommt und wo nicht.» Dadurch hätten sie die Schönheit dieser Schlucht, die bereits weiter unten fürs Eisklettern bekannt war, neu entdeckt. «Wir fragten bei der Gemeinde nach, ob wir die Installation einrichten dürfen», so Schenk. «Diese stimmte zu, mit der Bedingung, dass sie nicht öffentlich zugänglich ist, sondern nur geführt begangen wird.» So entstand mitten im Dorf Pontresina die Möglichkeit, auf zwei- bis dreistündigen Touren in eine raue und wilde Winterlandschaft einzutauchen.

Wandern, Klettern und Schweben

Damit das Winter-Canyoning stattfinden kann, sind Temperaturen im stabilen Minusbereich vonnöten. Erst unter diesen Voraussetzungen formt das Eis einen begehbaren Weg, der um den Wildbach herumführt. Zudem geht das Schmelzwasser, das ständig durch die Schlucht donnert, auf ein Minimum zurück. «An manchen Stellen der Tour befindet man sich zehn Meter unter dem Höchststand, den der Bach im Sommer annimmt», erklärt Bergführer Marcel Schenk. Im Winter jedoch wird der Blick frei auf die ausgewaschenen Felsen, durch die sich das Wasser über Jahrtausende hinweg seinen Weg durchgefressen hat.

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«Das Ziel ist, dass alle trocken zurückkommen», betont Marcel Schenk. Anders als beim klassischen Canyoning springt man also nie ins Wasser rein, sondern hangelt sich drumherum. «Der fehlende Wasserkontakt nimmt der Tour seine grösste Gefahr», erklärt der Bergführer. Auch abgeseilt wird hier nicht. «Unser Winter-Canyoning ist eine Mischung zwischen Seilpark und Klettersteig», so Schenk. Vor der Tour rüsten sich Teilnehmende mit dem klassischen Seilpark-Material aus Gstältli, zwei Karabinern und einer Seilrolle aus und üben kurz das Handling. Zusätzlich gibt es Grödel oder Spikes auf die Bergschuhe für den Grip auf dem Eis. Danach wird gewandert, geklettert und mittels Ziplines über Miniseeli gesaust. Mehrmals wechseln die Teilnehmenden damit die Seite der Wildwasserschlucht. «Man muss keine Vorkenntnisse mitbringen», betont Schenk. «Ideale Voraussetzungen sind etwas Geschicklichkeit, aber vor allem Neugierde und Entdeckungsfreude.»

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Trotz der niedrigen Einstiegshürden sei der grosse Ansturm auf das seltene Angebot bisher ausgeblieben, erzählt der Bergführer. Er glaubt auch nicht, dass noch ein grosser Hype auf das Dorf zukommt. «Ich denke, es ist ein spannendes Mehrangebot, wenn mal der Schnee fehlt», so seine Einschätzung. «Dennoch ist es abhängig von den Verhältnissen.» Bei anderen Anbietern könne das natürlich anders aussehen. Ihm sind jedoch bisher keine bekannt.

Im Gegensatz zum Winter-Canyoning hat sich sein sommerliches Pendant in der Schweiz längst etabliert. Nach einem tragischen Unfall im Berner Oberland im Jahre 1999, bei dem 21 Menschen starben, wurden die Vorlagen strenger.

Kompatibel mit Wildtieren?

Doch nicht nur in Sachen Sicherheit gab es Aufholbedarf. Diverse Stimmen aus dem Naturschutz fürchteten beim Aufkommen des Canyoning-Trends um verschiedene Elemente des Schluchten-Ökosystems. Darunter bestimmte Vogelarten, die in der sonst so menschenleeren Umgebung ungestört nisten können. Ein Thema, das auch in Pontresina mit der Wildhut diskutiert wurde. «Tatsächlich kam man zum Schluss, dass die Schlucht, in der wir das Winter-Canyoning eingerichtet haben, ein wichtiger Rückzugsort für Vögel und Fledermäuse ist», hält Schenk fest. «Allerdings wurde uns gesagt, dass wir dort im Winter keine Tiere stören.» Bis diese wieder aktiv werden, sei die Installation längst schon wieder abgebaut. «Ganz selten habe ich Spuren von Hasen oder Füchsen in der Schlucht gesehen», erzählt Schenk. Grundsätzlich seien in dieser Schlucht aber kaum Tiere unterwegs, weil sie erstens schlecht zugänglich ist und sich zweitens quasi mitten im Siedlungsgebiet befindet. Mit Natur- und Umweltschutzorganisationen zusammenzuarbeiten, ist mittlerweile Pflicht für Canyoning-Anbieter. Genau hinschauen lohnt sowieso. Ob zum Wohl der Wildtiere oder schlicht, um die imposante Landschaft zu bestaunen.