In Leukerbad beisst uns am zeitigen Morgen noch der Frost im Gesicht. Gerne lassen wir uns daher mit der Luftseilbahn einen Stock höher befördern, auf den Gemmipass, wo bereits die Sonne wärmt und der präparierte Winterwanderweg über die Gemmi beginnt. Während der Seilbahnfahrt hinauf könnte mancher Bauch ein wenig rebellieren, so steil schwebt die Kabine die Felswände entlang in die Höhe. Von oben sieht Leukerbad aus wie ein Spielzeugdorf. Diesen Tiefblick von der Aussichtsplattform sollte man nicht verpassen, ehe man sich den Dreitausendern und der Weite des Daubensee-Plateaus zuwendet. Die höchsten Berner Kalkalpen, zu Beginn vor allem das Rinderhorn, beherrschen das Blickfeld, während wir dem Weg zuerst etwas absteigend zum Daubensee folgen. Der tiefgefrorene und zugeschneite See lässt sich jedoch unter der weissen Hochfläche nur erahnen.

Genuss auf halbem Weg

Am anderen Ende des Sees schlängelt sich der Weg durch eine Engstelle, die sich bald wieder öffnet und den Blick auf neue Gipfel freigibt. Scheinbar überhängende Felswände ragen zur Linken über die Schneehänge empor, rechts erscheinen Balmhorn und Altels. Und geradeaus erblicken wir das Berghotel Schwarenbach, das Vorfreude auf einen Imbiss weckt.

Schon in den Anfängen des Tourismus überquerten erste Reisende in den Sommermonaten die Gemmi. Unter diesen befanden sich prominente Künstler, Dichter und Politiker wie etwa Mark Twain, Alexandre Dumas, Lenin und Picasso. Sie alle logierten im Berghotel Schwarenbach auf halbem Weg zwischen Leukerbad und Kandersteg. Bekannt wurde die Gemmi bereits in den 1730er-Jahren, nachdem der Berner Universal-gelehrte Albrecht von Haller über den Pass wanderte und anschliessend mit seinem Lehrgedicht «Die Alpen» eine Ära einläutete, in welcher man die Berge nicht mehr fürchtete, sondern in ihrer wilden Schönheit neu zu entdecken lernte.

Mark Twains Erlebnisse

Den US-amerikanischen Schriftsteller Samuel Langhorne Clemens kennt man fast nur unter seinem Pseudonym Mark Twain (1835–1910). Bekannt sind vor allem seine Bücher über die vielen Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn.

Twain wuchs in armen Verhältnissen auf, reiste als wandernder Schriftsetzer in Amerika herum, wurde Lotse auf einem Mississippidampfer, arbeitete als Goldgräber und schrieb Artikel für die Zeitung seines Bruders. 1867 unternahm er eine erste Schiffsreise nach Europa und in den Nahen Osten. 1878 folgte die zweite Reise nach Europa, die ihn mit einem Reisegefährten durch Deutschland, die Schweiz und Italien führte. Daraus entstand sein Reisebericht «A Tramp Abroad» (Bummel durch Europa), in welchem er mit bissigem Humor von seinen Reisen, Wanderungen und Begegnungen erzählt. Twain reist nach Luzern, über den Brünig nach Meiringen, Brienz und Interlaken, wo ihn besonders die Aussicht auf die Jungfrau fasziniert: «Das war der mächtige Gipfel der Jungfrau, deren Umrisse sich weich gegen den Himmel abzeichneten und vom Sternenlicht mit einem schwachen silbernen Glanz übergossen wurden. Etwas Dämpfendes lag in der Gegenwart dieses schweigenden, ernsten und ehrfurchtgebietenden Berges; man schien dem Unveränderlichen, dem Unzerstörbaren, dem Ewigen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen und die unbedeutende und vergängliche Natur des eigenen Daseins durch den Gegensatz umso stärker zu empfinden.» Es folgte die Wanderung von Kandersteg über den Gemmipass. Twain liebte die Alpenblumen, nur dem Edelweiss konnte er nicht viel abgewinnen: «In den hohen Lagen fanden wir in reicher Fülle die herrliche rote Blume vor, die Alpenrose heisst, aber wir fanden kein Exemplar des hässlichen schweizerischen Lieblings, den man Edelweiss nennt. Der Name scheint darauf hinzuweisen, dass es eine edle Blume und dass sie weiss sei. Sie mag ja recht edel sein, aber sie ist nicht schön und sie ist nicht weiss. Die fusselige Blüte hat die Farbe schlechter Zigarrenasche und scheint aus grauem Plüsch billiger Qualität hergestellt zu sein.»

Auf dem Weiterweg hat er die Schweiz schon damals als Hochpreisinsel erlebt, und zwar in der Nähe des Daubensees: «Hier stiessen wir auf eine Holzhütte und trafen einige Männer dabei an, ein Steinhaus zu bauen; also würde der Schwarenbach bald Konkurrenz bekommen. Wir kauften hier wohl eine Flasche Bier; jedenfalls nannten sie es Bier, aber der Preis verriet mir, dass es verflüssigte Edelsteine waren, und der Geschmack verriet mir, dass verflüssigte Edelsteine kein gutes Getränk sind.» Aber auf dem Gemmipass begeistern ihn der Blick zu den Walliser Alpen und der Tiefblick nach Leukerbad: «Wir blickten anscheinend in ein Märchenland hinunter.»

Einstige Strassenpläne

Der Schwarenbach war ursprünglich eine Zollstation und wurde 1742 zum Berghaus umgebaut. Es ist auch für heutige Gemmiwanderer ein willkommener Etappenort, wo man sich gerne bewirten lässt. Zurückgelehnt an die sonnenwarme Hauswand, liesse sich lange hier verweilen. Reissverschlüsse öffnen sich, Mützen verschwinden im Rucksack, und spätestens jetzt wird die Sonnenbrille Pflicht.

Dass der Weg über die Gemmi immer noch so viel Natur zu bieten hat, ist nicht selbstverständlich. In den 1950er-Jahren bestanden Pläne für eine Passstrasse über die Gemmi, die glücklicherweise wieder in der Schublade verschwanden. So «zieren» denn heute nur ein paar Hochspannungsleitungen die ansonsten kaum berührte Landschaft.

Noch einmal geht es absteigend weiter zur Spittelmatte und zum unter Naturschutz stehenden Arvenwald. Nach der Überquerung der Spittelmatte wärmt ein letzter Anstieg hinauf zum Sunnbüel, dem Endpunkt der Wanderung. Hier verführt eine weitere Berghausterrasse dazu, sich Sonne und Bergsicht noch länger hinzugeben, bevor es mit der Luftseilbahn wiederum schwindelerregend steil nach Kandersteg hinuntergeht.

Woher weht der Wind?

Die Wanderung ist in beide Richtungen gleichermassen schön. Bei der Wahl von Start und Ziel gilt vor allem: nicht gegen den Wind wandern! Das kann im Winter und auf dieser Höhe sehr unangenehm sein. Es lohnt sich, vor dem Ausflug bei den Wetterprognosen die Windrichtungen zu beachten und die Wanderrichtung entsprechend zu wählen.

An- und Rückreise

Zug bis Leuk Bahnhof, Postauto bis Leukerbad, Luftseilbahn auf den Gemmipass.

Luftseilbahn von Sunnbüel hinunter und Bus bis Kandersteg Bahnhof.

Route

Gemmipass–Berghotel Schwarenbach–Sunnbüel 3 Std. In Gegenrichtung 3 Std. 30 Min. Über die Öffnung und den Zustand des Weges informiert man sich beim Sunnbüel oder Schwarenbach.

Einkehren und übernachten

Bergrestaurant Sunnbüel, Tel. 033 675 81 41, sunnbuel.ch

Berghotel Schwarenbach, Tel. 033 675 12 72, schwarenbach.ch

Literatur

Jochen Ihle: «Pfade in Weiss», Weber-Verlag, ISBN 978-3-85932-600-2, Fr. 29.90.

Mark Twain: «Bummel durch Europa», Diogenes-Verlag, ISBN 978-3-257-21880-0, Fr. 19.–.