Der wahre König der Lüfte
Bartgeier in den Alpen: Ein majestätischer Jäger kehrt in die Schweiz zurück
Der Bartgeier ist mit einer Flügelspannweite von fast drei Metern der grösste Brutvogel der Alpen. Früher missverstanden und gejagt, feiert er heute ein Comeback. Hinter dem Erfolg steht ein ausgeklügeltes Auswilderungs- und Monitoringprogramm.
In der klirrenden Kälte des frühen Dezembermorgens wagen sich nur wenige Menschen in einen der hinteren Winkel des Saastals (VS). Unter ihnen ist die Biologin Julia Wildi und ihr Begleiter, der Gymnasiast Léo Jeanneret. Dick eingepackt in Outdoorjacken, mit Spektiv und Kamera auf den Schultern, lassen sie ihren Blick über die steilen Felswände der Walliser Alpen schweifen.
Für den einsamen Steinbock, der vom Gipfel des Mittaghorns zu ihnen hinunterblickt, haben die beiden kaum Augen, denn ihr Interesse gilt einem ganz anderen König der Berge. Dieser hat seinen royalen Auftritt nur wenig später. Eine dunkle Silhouette schwebt hinter der Felskante hervor und zeichnet sich deutlich gegen den blauen Himmel ab. Mit seinen fast drei Metern Spannweite ist kein anderer Vogel der Schweiz so gross wie der Bartgeier (Gypaetus barbatus).
Ausgewachsene Tiere haben eine Körperlänge von 90 bis 125 Zentimetern und wiegen bis zu sieben Kilogramm. Mit langsamen Flügelschlägen fliegt das Männchen zu einem der wenigen bereits von der Sonne beschienenen Plätze an den felsigen Hängen. Nun haben Wildi und Jeanneret die Gelegenheit, den beeindruckenden Geier mit ihren Objektiven ins Visier zu nehmen.
Einzigartiges Erscheinungsbild
Bartgeier gehören zu den vier Geierarten, denen man in den Schweizer Alpen begegnen kann. Seinen Namen hat der Bartgeier von den borstenartigen schwarzen Federn, die über dem Schnabel hängen. Die Funktion dieses Barts ist bisher unbekannt, man geht jedoch davon aus, dass er beim Zerkleinern von Aas als eine Art «Tastwerkzeug» dienen könnte.
Während die anderen drei Geierarten meistens Sommergäste sind, kann man Bartgeier auch während der kalten Jahreszeit beobachten. «Zwischen Ende Dezember und Januar legen die Weibchen ihre Eier», erklärt Julia Wildi. In dieser Phase sind die Vögel besonders anfällig auf Störungen. Die Biologin beobachtet dann nicht nur, ob das Weibchen auf dem Nest sitzt, sondern auch, wie gut das Nest gegen Einblicke geschützt ist. «Bartgeier sehen extrem gut und sowohl das Männchen als auch das Weibchen haben uns sicher schon längst entdeckt», so Wildi. Trotz der Entfernung von etwa 500 Metern zum Nest, sind die Vögel aufmerksam und beäugen die Beobachter genau.
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Missverstanden und verfolgt
Bartgeier sind primär in den Gebirgen Asiens und in Ostafrika verbreitet, waren jedoch einst auch in Europa heimisch. Dass Bartgeier in den Schweizer Alpen wieder brüten, war lange keine Selbstverständlichkeit. Die beeindruckenden Vögel wurden wegen ihrer Grösse als «Lämmergeier» gefürchtet und als Konkurrenz gesehen. Doch der Bartgeier ernährt sich lediglich von bereits verendeten Tieren und begibt sich nicht selbst auf die Jagd.
Im Gegensatz zu Beutegreifern sind seine Krallen daher nicht scharf, sondern stumpf. Trotzdem wurde der Abschuss eines Bartgeiers im 19. Jahrhundert mit einer beachtlichen Prämie entlohnt, was schliesslich zur Ausrottung der Vögel in den Alpen führte. Anfang der 70er-Jahre versuchten Naturschützer dann in Afghanistan eingefangene und nach Europa transportierte Bartgeier in Frankreich auszuwildern. Das Projekt scheiterte jedoch schnell an den Schwierigkeiten der Beschaffung und dem hohen Verlust an Tieren.
Erfolgreiche Wiederansiedlung
1978 startete ein Projekt zur Wiederansiedlung des Bartgeiers im Alpenraum, geführt von Experten aus Frankreich, Italien, Österreich, Deutschland und der Schweiz. Diesmal sollten statt eingefangener Tiere junge Bartgeier aus Zoos und Wildparks für die Auswilderung genutzt werden.
Bei der sogenannten Hacking-Methode werden die noch nicht flugfähigen Jungtiere im Alter von 90 bis 100 Tagen in einer gut geschützten Nische im Alpenraum freigesetzt und dort regelmässig mit Futter versorgt und überwacht. Im Alter von 110 bis 130 Tagen unternehmen die Vögel ihre ersten Flugversuche und lernen in den folgenden Wochen, sich selbstständig Futter zu suchen. Die Methode hat Erfolg: 88 Prozent der so ausgewilderten Bartgeier überleben das erste Jahr, und danach steigt die Überlebensrate gar auf 96 Prozent.
1991 wurden auch in der Schweiz die ersten Tiere ausgewildert. Bis 2023 fanden so 53 Bartgeier eine Heimat in den Schweizer Alpen. Aktuell wird der Bestand von der Stiftung Pro Bartgeier auf 32 Brutpaare geschätzt.
Bartgeier-Fieber
Um die Überwachung und das Monitoring der Schweizer Bartgeier kümmert sich die Stiftung Pro Bartgeier. Im Wallis ist Julia Wildi für die Koordination zuständig und geht auch gerne selbst raus, um ihre Schützlinge zu beobachten. Ihr junger Begleiter Léo Jeanneret liess sich ebenfalls schon früh mit dem «Bartgeier-Fieber» anstecken. «Als ich als Junge meinen ersten Steinadler gesehen habe, konnte ich kaum glauben, dass es noch grössere Vögel gibt», erzählt der Gymnasiast.
Da Pro Bartgeier auf freiwillige Beobachter angewiesen ist, ist solch begeisterter Nachwuchs hoch erwünscht (siehe Box). «Ist er nicht schön?», schwärmt Jeanneret und richtet seine Kamera auf das immer noch in der Sonne sitzende Bartgeiermännchen aus. Trotz seiner Grösse, die in etwa der eines Höckerschwans entspricht, ist der Vogel in den Felsen gut getarnt. Dies verdankt er unter anderem seinem schwarzen, weissen und ockerfarbenen Gefieder. Mit dem Ocker färben sich die Vögel gezielt ein, indem sie sich eisenoxidhaltigen Schlamm suchen, in dem sie baden. Welchem Zweck das Verhalten dient, ist bisher ungeklärt.
Während Léo Jeanneret das Männchen bewundert, sucht Julia Wildi nach dem Nest und dem hoffentlich darin sitzenden Weibchen. Die Biologin achtet dabei genau auf durch Kotspuren verfärbte Stellen in den Felswänden, die geübten Augen die Position des Nestes verraten. Im Sommer konnte Wildi das Bartgeierpaar bei seinen Balzflügen beobachten. Dabei zeigten die grossen Vögel beeindruckende Verfolgungsjagden hoch in der Luft, Loopings, Fliegen auf dem Rücken und akrobatische Manöver, bei denen sich die beiden Tiere kurz an den Fängen fassten.
Jetzt im kalten Winter entdeckt Wildi in einer Nische in der kargen Felswand den Horst und darin den Kopf des Weibchens, der über den Nestrand hinausschaut. Für Wildi ist dies ein untrügliches Zeichen, dass das Weibchen brütet. «Bartgeier legen immer zwei Eier», erklärt die 29-Jährige. «Schlüpft aus dem ersten Ei kein Jungtier, so dient das zweite Ei als Backup.» So zieht das Brutpaar pro Saison maximal ein Jungtier gross.
Dass die Brutsaison ausgerechnet in den Winter fällt, ist dabei kein Zufall. «Da Bartgeier sich von Aas ernähren, finden sie während der Schneeschmelze am meisten Futter», erläutert Wildi. Im März, wenn das Jungtier schlüpft, offenbart das schwindende Eis die Opfer des Winters. Gämsen, Steinböcke, Hirsche und Rehe kommen während der kalten Jahreszeit zu Tode und werden bis zum Frühjahr wie in einem Kühlschrank konserviert. Nun findet sich genügend Futter für die Jungtiere, die von beiden Elternvögeln versorgt werden.
Die Knochenspezialisten
Während die Kleinen noch mit Fleischstückchen gefüttert werden, so entwickeln ausgewachsene Tiere zunehmend eine Vorliebe für Knochen. Diese spezielle Nahrung müssen sich die Bartgeier mit keinem Konkurrenten teilen, denn Knochen sind sehr hart und schwer verdaulich.
Bartgeier hingegen haben extrem saure Magensäfte, die den Knochenkalk auflösen können. Mit dem grossen Schnabel können die Greifvögel Knochen in einem Stück verschlucken. Da die Luftröhre fast bis zur Schnabelspitze reicht, ersticken die Tiere nicht, sollte einmal ein Knochen im Rachen feststecken. Knochenstücke, die zu gross zum Schlucken sind, lassen Bartgeier aus grosser Höhe auf Geröllhalden fallen, um anschliessend die schnabelgerechten Splitter aufzusammeln. Wanderer müssen sich jedoch nicht fürchten, dass ihnen einmal ein Knochen auf den Kopf fallen könnte, denn die Bartgeier suchen sich ihre Knochenknackstelle weit ausserhalb des menschlichen Publikumsverkehrs aus.
Trotzdem haben Berggänger laut Julia Wildi in den ganzen Alpen eine gute Chance, Bartgeier beobachten zu können. «Alleine im Wallis haben wir mittlerweile 11 Brutpaare. Hinzu kommen Jungvögel, die auf der Suche nach einem Revier umherstreifen.» Nebst der Meldung solcher Beobachtungen finden in der Schweiz jedes Jahr im Herbst spezielle Bartgeier-Beobachtungstage statt. Dank dabei entstehenden Fotos können die Tiere unter anderem individuell zugeordnet, das Alter anhand des Gefieders bestimmt und ihre Flugrouten in den Alpen nachvollzogen werden.
Ein Leben lang
So klärte sich auch die Frage, wohin die jungen Bartgeier abwandern, sobald sie selbstständig sind. «Bartgeier können sehr grosse Distanzen zurücklegen», sagt Julia Wildi. «Ein in den Alpen geschlüpftes Tier flog sogar bis nach Skandinavien.» Auch die Alpentäler in den benachbarten Ländern sind ein beliebtes Ziel, und umgekehrt finden Vögel aus Italien, Österreich und Frankreich in der Schweiz eine neue Heimat.
«Haben sich Männchen und Weibchen dann gefunden, bleiben sie meist ein Leben lang zusammen», erzählt Wildi. In Gefangenschaft können Bartgeier bis zu 50 Jahre alt werden.
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Die Lebensspanne in der Natur ist kürzer, doch nicht minder beeindruckend, wie man am Fall der 1999 ausgewilderten Bartgeierdame Veronika sehen kann. Mit ihren 24 Jahren gehört sie zu den ältesten Bartgeiern, die 2023 in den Alpen brüteten. Wie viele ausgewilderte Vögel ist sie mit einem GPS-Sender versehen, über den die Stiftung Pro Bartgeier ihren Standort verfolgen kann. So fiel es auch schnell auf, dass Veronika sich im Oktober 2024 nicht mehr von der Stelle rührte. Das Schlimmste befürchtend, machten sich die Experten auf die Suche nach der Vogeldame und fanden sie verletzt und geschwächt am Boden sitzend vor. Untersuchungen am Tierspital Zürich zeigten, dass Veronika an Arthritis leidet und nicht mehr fliegen kann. Wäre sie nicht gefunden worden, wäre sie bald verhungert. Nun verbringt sie ihren Lebensabend im Natur- und Tierpark Goldau.
Bartgeier beobachtenEinen Bartgeier im Flug zu erkennen, ist auch für einen Laien nicht schwer. Von der Grösse her ist er lediglich mit Steinadlern zu verwechseln. Der Bartgeier hat jedoch einen keilförmigen Schwanz, während der Schwanz des Steinadlers abgerundet ist. Zudem sind die Flügel des Bartgeiers ungewöhnlich lang und spitz. Die Silhouette des Kolkraben sieht dem des Bartgeiers zwar ähnlich, jedoch ist der Vogel deutlich kleiner und bewegt sich schneller.
Bartgeiern kann man im gesamten Alpenraum begegnen. Besonders gute Beobachtungsorte sind der Gemmipass, die Tektonikarena Sardona und Melchsee-Frutt. Alle drei Regionen bieten geführte Touren auf den Spuren der Bartgeier an.
Sichtungen von Bartgeiern in der Schweiz sollten idealerweise gemeldet werden. Dies kann man entweder über das Meldeformular der Stiftung Pro Bartgeier oder die Vogelbeobachtungsplattform «ornitho» tun.
bartgeier.ch ornitho.ch
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