Ideales Bärengebiet in der hiesigen Natur: bergiger Tannenwald von Buchen durchsetzt, leuchtend rote Walderdbeeren zwischen Kalkfelsen, üppige Himbeerstauden am Abhang und undurchdringliches Brombeerdickicht. Hier könnte der Bär gut überleben, Waldbeeren und vieles mehr schlemmen. Doch der letzte Braunbär der Region wurde im Jahr 1757 erlegt. Ein verwitterter Stein mit schlecht lesbarer Inschrift erinnert wenig oberhalb der Ferme Robert im Kessel des Creux du Van im Kanton Neuchâtel an das dramatische Ereignis.

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Im Jurabogen und entlang der Nordalpen wurden Bären bis um 1850 ausgerottet. Im Mittelland verschwand der Bär bereits um das Jahr 1500. Das Gebiet war schon damals durchgehend besiedelt, Wald wurde gerodet. Im Kanton Graubünden hielten sich die Petze am längsten. Doch am 1. September 1904 wurde auch da der letzte im Val S-charl an der Flanke des Piz Pisoc erlegt. Die beiden Jäger Padruot Fried und Jon Sarott Bischof gingen auf Gamsjagd. Da trafen sie auf den Bären. Und erlegten ihn. Der Kanton zahlte sogar eine Prämie. Es sollte rund 100 Jahre dauern, bis 2005 wieder ein Braunbär im Graubünden auftauchte. Seither besuchen Bären die Schweiz fast jährlich. 2016 gelang eine Beobachtung in der Innerschweiz, 2017 gar im Kanton Bern. Die der Schweiz am nächsten gelegene Bärenpopulation ist diejenige des italienischen Trentino, etwa 40 Kilometer vom Puschlav entfernt. Es handelt sich um eine bergige Provinz mit Nationalparks. Bisher wanderten junge Männchen aus diesem Gebiet ab – und trotten manchmal auch durch Schweizer Wälder auf der Suche nach neuen Territorien. Mangels Partnerinnen setzten sie sich in der Schweiz bisher nicht fest.

Vorliebe für Honig

Bären sind meist ungefährlich. Sie sind sehr scheu. Bereits wenn sie Menschen riechen, suchen sie das Weite. Probleme kann es mit Bären geben, die gelernt haben, dass sie in der Zivilisation Nahrung finden. Werden sie überrascht, kann es zu Angriffen kommen, weil sie sich erschrecken.

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Bären decken ihren Nahrungsbedarf zu drei Vierteln mit pflanzlicher Kost. Ausserdem stehen Insekten auf ihrem Speisezettel. Die Nahrung variiert je nach Jahreszeit. Im Spätsommer und Herbst naschen sie Beeren, Früchte und Nüsse, um sich für die Winterruhe Reserven anzulegen. Ansonsten verspeisen sie Wurzeln, Gräser, Kräuter, Pilze und Schösslinge. Legendär ist die Vorliebe der Bären für Honig. Diese Neigung führte dazu, dass eingewanderte Bären prompt die Bienenstöcke plünderten. Bären sind Opportunisten. Wenn es sich ergibt, fallen sie auch über ungeschützte Nutztiere her. In der Schweiz fielen ihnen besonders Schafe zum Opfer.

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Im Gegensatz zum europäischen Braunbären jagen und fischen nordamerikanische Bären regelmässig. Die Winterruhe verbringen die Bären in einer Höhle. Manchmal graben sie ihre Ruhestätte selbst oder legen sich geschützt zwischen Steine. Im Gegensatz zum Winterschlaf sinkt während der Winterruhe die Körpertemperatur nicht ab. Die Ruhezeit wird von kurzen Wachphasen unterbrochen, die Braunbären nehmen normalerweise weder Nahrung noch Wasser auf. Kot und Urin werden nicht ausgeschieden. Am Ende der Winterruhe haben Braunbären bis zu 30 Prozent ihres Körpergewichts verloren. Die im Herbst angefutterten Nahrungsreserven sind dann ganz aufgezehrt. Die Bärin gebiert sogar während der Winterruhe ihre zwei Jungen und säugt sie. Je nach Witterungseinflüssen und Gebiet dauert die Winterruhe unterschiedlich lange, bis wieder Nahrung verfügbar ist. Bären in südlichen Gebieten halten keine Winterruhe.

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Geschrumpftes Verbreitungsgebiet

Braunbären sind aus der Schweiz verdrängt worden, doch zu Europa gehören sie nach wie vor. Sie haben sich in wenig besiedelte Gebiete zurückgezogen. Ohne die Vorkommen in Russland zu zählen, wird der Braunbären-Bestand gemäss der Fachstelle für Raubtierökologie und Wildtiermanagement (Kora) aus Ittigen bei Bern in Europa zwischen 15 000 und 20 000 Tieren geschätzt – im europäischen Teil Russlands sind es zwischen 50 000 und 55 000 Bären.

Verwandte
Mit den Bären verwandt sind die Kleinbären (Procyonidae). Dazu gehört beispielsweise auch der Waschbär. Kleinbären leben in 14 Arten in den gemässigten oder tropischen Zonen Amerikas. Entfernt mit Bären verwandt sind Hunde, Wölfe, Marder, Dachse, Skunks und Fischotter. Sie entstammen einem gemeinsamen Vorfahren aus dem Erdzeitalter Miozän, das vor etwa 23 Millionen Jahren begann.

Die letzten überlebenden europäischen Populationen liegen weit verteilt auf dem Kontinent und haben keinen Kontakt mehr untereinander. Im Trentino in Italien hat ein kleiner Bestand überlebt, der zwischen 1999 und 2002 durch die Umsiedlung von zehn Bären aus Slowenien verstärkt wurde. Weiter leben im Dreiländereck Italien-Österreich-Slowenien Braunbären, die aus der dinarischen Population eingewandert sind. Die Alpenpopulation wird auf 49 bis 69 Bären geschätzt. Im dinarischen Gebirge, das sich von Nordostitalien über Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Südwestserbien, Montenegro und Nordalbanien zieht, lebt eine Population von 3950 Braunbären. Dazu gehören auch die Tiere, die durch die ausgedehnten Wälder und über die Gebirgszüge rund um das abgeschiedene Gebiet der Plitvicer-Seen in Kroatien streifen. Dort plätschert glasklares Wasser über Kaskaden in tiefblaue Seen mitten im Wald. Obwohl das Signet dieses Nationalparks ein Bärenkopf ist, bekommt eine Touristin kaum je einen zu Gesicht. Die Einzelgänger meiden den Menschen.

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Im Karpaten-Gebirge in Osteuropa leben um die 7630 Bären. Auch in Norwegen und Schweden sowie im finnischen Karelien, also im Grenzgebiet zwischen Finnland und Russland, lebt eine Population von über 4000 Bären, ebenso wie im Baltikum, im Ostbalkan, im zentralen Apennin in Italien und im spanischen Kantabrien – also in Nordspanien und in den Pyrenäen. In Westeuropa sind heute wegen der Ausbreitung des Menschen die Populationen auf wenige kleine Gebiete beschränkt, doch im Osten kommt der Braunbär in einem riesigen Gürtel durch ganz Russland bis zur Beringsee sowie über Alaska und Kanada vor.

Neugeborene Winzlinge

Entsprechend des riesigen Verbreitungsgebiets sind auch die Lebensräume variabel. Während Bären in Europa heute in Gebirgswäldern leben, kommen sie in Kanada eher in der Tundra vor. Bären streifen mit Vorliebe in der Dämmerung und nachts als Einzelgänger im Passgang umher. Das heisst, beide Beine einer Körperseite werden gleichzeitig bewegt. Wenn sie auch langsam durch den Wald trotten, so können sie doch mit etwa 50 Kilometern pro Stunde sehr schnell rennen, etwa wenn sie auf der Flucht sind. Nur bei der Fortpflanzung zwischen April und August kommt es zu kurzen Verbindungen von Bär und Bärin.

Braunbären besetzen keine Reviere. Wie gross ein Gebiet ist, das von einem Individuum durchstreift wird, hängt vom Nahrungsangebot ab. Es kann sein, dass sich Lebensräume überlappen. Männchen decken deshalb nach Möglichkeit mehrere Weibchen. Nach der Paarung bleibt die befruchtete Eizelle frei in der Gebärmutter – die sogenannte Keimruhe, die etwa fünf Monate dauern kann. Erst mit Beginn der Winterruhe erfolgt dann die eigentliche Tragzeit. Das heisst, die Zeitspanne zwischen Fortpflanzung und Geburt beträgt zwar 180 bis 270 Tage, die eigentliche Trächtigkeit dauert aber nur sechs bis acht Wochen.

«Niemals würde man einen Bären erahnen, sähe man das Frischgeborene.»

Bei allen Bären besteht ein ausserordentlich grosser Gewichtsunterschied zwischen dem Weibchen und dem Jungen. Neugeborene Bärchen erscheinen trotz kurzen grauen Haaren nackt, haben die Augen geschlossen, messen nur 23 bis 28 Zentimeter und wiegen 340 bis 680 Gramm. Ihr Köpfchen ist rundlich und erinnert an ein Meerschweinchen. Niemals würde man einen Bären erahnen, sähe man das frischgeborene Junge. Sie ernähren sich von der protein- und fettreichen Bärenmilch und wachsen entsprechend schnell. Die Bärin hat ein Paar Zitzen an der Brust und zwei weitere am Bauch. Zu ihren Jungen hat sie denn auch eine starke Bindung: Wenn die Kleinen – es werden ein bis drei junge Bärchen geboren – fünf Monate alt sind, nehmen sie erstmals feste Nahrung zu sich. Richtig selbstständig sind sie mit eineinhalb bis zweieinhalb Jahren.

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Mindestens bis zum zweiten Frühling bleiben die Jungen bei ihrer Mutter. Und dann plötzlich verjagt sie diese, um neuen Nachwuchs zu zeugen. Die Männchen werden mit viereinhalb Jahren geschlechtsreif, die Weibchen etwas später. Das Wachstum der Bären dauert bis zehn Jahre, und sie werden in der Natur schätzungsweise zwischen 20 und 30 Jahre alt. Bären in Schweizer Wäldern sind zwar verschwunden, in Bern gehören sie aber seit Jahrhunderten zur Stadt – die Mutzen leben mindestens seit 1513 in der Hauptstadt der Schweiz, als Söldner der Schlacht von Novarra unter der Führung von Bartholomäus May nach Bern zurückkehrten und mit ihrer Kriegsbeute einen jungen Bären mit nach Hause brachten – und den sie in einem Graben hielten. 1764 wurde der Graben verlegt, doch bereits 1798 erfolgte die grosse Schmach. Die Stadt Bern wurde am 5. März 1798 von den Franzosen unter Napoleon besetzt, die der alten Eidgenossenschaft ein Ende setzten. Am 26. März entführten sie dann auch noch die Bären nach Paris!

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Bären am Aarehang in Bern

Die Geschichte der Bärenhaltung in Bern wird auf Informationstafeln im kleinen Bärengraben der Hauptstadt erzählt. Peter Schlup, Biologe und Zoopädagoge, steht dort, wo früher Mutzen lebten. Er leitet seit zehn Jahren den Bärenpark Bern und sagt lächelnd: «Die Entführung der Bären war vermutlich für die Berner schlimmer als der Raub des Staatsschatzes.» Schlup weiss über die Geschichte der Bärenhaltung Bescheid und erzählt: «Bis im Oktober 1810 blieb der Bärengraben leer.» Dann seien wieder Bären im Graben herumgetrottet. 1825 wurde der Bärengraben abermals verlegt, 1857 kam er an den heutigen Standort bei der Nydeggbrücke. 2009 erfolgte die letzte Etappe: Der Bärenpark am Aarehang wurde eröffnet.

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Peter Schlup wurde als Experte bereits in die Planung der Anlage einbezogen. Heute präsentiert sie sich prächtig. Überall wuchern Ulmen, Ahornbäume, Weiden und Holunderbüsche. Es sieht aus, als würden die Bären frei durch einen Wald am Aareufer streifen. Das war nicht immer so. «Als die Anlage neu war, wurden zwar Sträucher und Bäume gepflanzt, doch die Bären haben die Gewächse sofort wieder ausgegraben», erzählt Peter Schlup. Wird eine Pflanze mit Wurzelballen und Erde eingesetzt, würde das ein Bär sofort riechen. «Dieser frische Geruch ist für ihn etwas Spannendes.» Der Biologe streicht die besonderen Merkmale des Bären heraus: kleine Knopfaugen im Verhältnis zum grossen Körper, lange Schnauze mit schwarzer Nase. «Der Bär riecht ausgezeichnet», betont Schlup.

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Als die Anlage 2015 saniert wurde, verbrachten die Bären ein halbes Jahr im Juraparc zwischen Vallorbe und Le Pont im Waadtland. «Das war unsere Chance, wir setzten über 200 einheimische Sträucher, und zwar wurzelnackt», erzählt Schlup. Mit wurzelnackt sind Pflanzen gemeint, deren Erde vollständig abgeschüttelt wurde. Das funktionierte. Das Resultat lässt sich sehen. Die Bären drücken zwar manchmal immer noch ganze Weidensträucher nieder – für sie ist das ein Kinderspiel –, doch die Anlage ist mit rund 6000 Quadratmetern gross genug. Die drei Bewohner verwüsten mit Graben, Ausreissen und Knicken von Ästen das Gelände nicht. Im Gegenteil: Jedes Jahr sind umfangreiche Rückschnitte nötig, damit die Anlage nicht komplett zuwächst.

«Bären decken ihren Nahrungsbedarf zu drei Vierteln mit pflanzlicher Kost.»

Den Park bewohnen Bärin Björk, die 2000 zur Welt kam, das Männchen Finn, das 2006 geboren wurde, und Tochter Ursina, die 2009 aufgezogen wurde. Peter Schlup erinnert sich: «Ursinas Schwester Berna konnten wir nach Dobritsch in Bulgarien in eine grosse Anlage geben.» Die beiden Schwestern hätten sich im Erwachsenenalter zusammengetan und die Mutter bedrängt. «Ursina war eine Mitläuferin. Jetzt, wo Berna weg ist, geht es gut mit den dreien.» Das Männchen sei sterilisiert. Für Jungbären habe es in Bern keinen Platz, und gute Haltungen sind rar, darum wolle man nicht mehr züchten. «Uns ist es wichtig, dass Finn weiterhin seine Persönlichkeit behält, darum ist er sterilisiert und nicht kastriert worden.» Er decke zwar während der Paarungszeit regelmässig, doch Nachwuchs bleibe aus. Im Bärenpark leben reine Europäische Braunbären.

Riechend lesen

Peter Schlup sitzt jetzt an einem Tisch in der Tiefe der Stallungen des ehemaligen Bärengrabens. Dort, wo die Bären einst nebenan hausten, hat er die Einsatzpläne für die freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgelegt und bereitet die nächsten Wochen vor. Auch von nebenan sind Geräusche zu hören. Der Tierpfleger Roland Meier steht in einem ehemaligen Bärenstall und bereitet das Futter vor, schneidet Äpfel, Fenchel, Sellerie, Gurken sowie Randen in Stücke und legt sie in eine Kiste. Er schmunzelt und erzählt, am Vortag habe er Vermicelles in der Anlage verteilt. Das Püree an Baumstämme und auf Steine gestrichen, so wie er es ab und zu auch mit Honig mache. Peter Schlup erklärt ergänzend: «Beim Bären läuft alles über den Geruch.

Er ist neugierig und riecht, wo sich etwas Essbaresbefindet.» Schon von seiner Biologie her müsse der Bär neugierig sein. Es sei deshalb wichtig, dass die Tiere lange mit der Futtersuche beschäftigt seien und durch olfaktorische Reize angeregt würden. «Sporadisch wird Suppenpulver in der Anlage verstreut, Wisentkot verteilt oder mit einer Spritzkanne Blut eines geschlachteten Tieres an verschiedenen Stellen ausgegossen.» Die Bären sind dann stundenlang mit dem «Lesen» dieser Nachrichten beschäftigt. «Wir achten immer darauf, dass nichts regelmässig geschieht», betont Schlup. So agiere jede Tierpflegerin oder jeder Tierpfleger selbstständig. Sie bestimmen selbst, wann sie was füttern. Das sei für einen Opportunisten wie den Bären ideal. «Der Bär frisst, was er findet, passt sich ans Klima und Gelände an.» Entsprechend richte er sich ein. Die saisonalen Fruchtstücke und Beeren sowie das verschiedene Gemüse werden durch gelegentliche Fleisch- und Fischgaben ergänzt.

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Die Bären erhalten sporadisch Spezialpellets mit Nähr- und Mineralstoffen, manchmal werfe er Schwimmpellets ins Bassin, welche die Bären herausfischen müssen, erzählt Tierpfleger Meier. Jetzt klemmt er die Harasse mit den Futterstücken unter den Arm und geht in den grossen Graben. «Um das Gelände des Bärenparks zu reinigen und Futter zu verstecken, locken wir die Bären in den alten Graben», erklärt der Bärenpark-Leiter Schlup. Auch der alte Bärengraben, der einst durch eine Mittelmauer getrennt und dessen Boden vollständig gepflastert war, wurde mit Steinquadern und natürlichem Boden zu einer Landschaft verändert.

«Die Bären sind während der Aktivphase Tag und Nacht in der Parkanlage, ein Wildtier braucht keinen Stall.»

Peter Schlup, Leiter Bärenpark in Bern

Tierpfleger Roland Meier steckt unten im Graben Äpfel auf Äste, wirft Gemüsestücke in eine Holztonne mit Loch, zwischen Steine und ins Gras. Auch Tomaten kullern über den Boden. Sie würden von den Bären besonders gerne verzehrt, sagt er. Björk, Finn und Ursina halten sich derweil im grossen Parkgelände auf. Finn liegt auf einem Haufen mit Sägespänen im Schatten eines Jungwuchses. Weit unter ihm fliesst die grüne Aare. In der Anlage in einem Bassin sprudelt Wasser, darin schwimmen Döbel. Bären würden zwar gerne Fische fangen, erklärt Schlup während eines Kontrollgangs. «Es gelingt ihnen aber nur, wenn sie im Wasser stehen können. Und das Becken hier ist zu tief, sie müssten schwimmen.» Zwischenzeitlich hat Roland Meier das Gemüse und die Äpfel versteckt und ist zurück in den kühlen unterirdischen Stallungen. Er öffnet im Gang verschiedene, mehrfach gesicherte Schieber. Über einen Bildschirm sieht er, dass die drei Berner Mutzen bereits parat stehen. Sie sind zur Türemarschiert, offenbar haben sie Hunger. Dann öffnet der Tierpfleger den Hauptschieber zur Anlage am Aarehang und die drei stürmen in die Ställe, rennen durch mehrere Abteile hindurch direkt in den alten Graben und machen sich sogleich auf die Suche nach den Leckerbissen. Erstaunlich, wie agil und schnell die behäbig wirkenden Tiere sind.

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Die Stallungen dienen heute nur noch als unter-irdische Durchgänge und teilweise als Arbeitsräume. «Die Bären sind während der Aktivphase Tag und Nacht in der Parkanlage, ein Wildtier braucht keinen Stall», sagt Biologe Peter Schlup. Tagsüber sei immer Tierparkpersonal anwesend, nachts würden Mitarbeitende eines Sicherheitsdiensts die Anlage bewachen.

Bald in Winterruhe

Dass die Bären so hungrig sind, kommt nicht von ungefähr. «Jetzt gegen Herbst wollen sie sich Futterreserven für die Winterruhe anfressen», sagt Schlup. Da verzehre ein Bär bis 40 Kilo Futter pro Tag. «Normalerweise würden sich die beiden Weibchen im November je in eine Höhle in der Anlage zurückziehen», sagt der Bärenspezialist. Sie hätten selbst Höhlen in den Hang gegraben, würden aber auch künstlich angelegte für ihre Ruhezeit benützen. Finn halte etwas später Winterruhe. «Er zieht es vor, in einem alten Stall zu überwintern.» Bis im März sehe man von den Bären kaum etwas. Wenn aber der Bärlauch beginnt zu spriessen, dann streiften sie wieder umher. «Vermutlich heisst wohl deshalb das Knoblauchgewächs auch so, weil Bären wie Bärlauch im Frühlingswald als erste zu sehen sind», hält Peter Schlup fest und fügt an: «Unsere Bären fressen jedenfalls keinen Bärlauch.» Während den ersten Wochen nach der Winterruhe würden die Bären vor allem Gras fressen und erst allmählich zum üblichen Futterübergehen.

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Während Peter Schlup erzählt, strömen Touristen zum Graben. Gleich dahinter liegt das Sandstein-Schlösschen mit zwei Türmen. Da, wo einst der Bärenwärter Futter zubereitete und verkaufte. Peter Schlup wohnt seit vielen Jahren in der Stadt Bern und ist mit dem Bärenpark eng verbunden. «Es ist ein sehr schöner Arbeitsort», lobt er. Er und seine Kolleginnen und Kollegen, die die Bären betreuen, folgen einer langen Tradition. Schlup sagt: «Man fühlt die Geschichte.» Seine legendären Vorgänger waren die beiden langjährigen Bärenwärter Emil Hänni senior und junior. Beide haben Bücher über ihre Arbeit publiziert. Emil Hänni junior betreute zeitweise gar 28 Bären im ehemaligen Bärengraben. Er schreibt in seinem Buch: «Der Oschtersunntig isch immer e bsundere Tag gsy. Wenns über e Winter jungi Bärli gäh het, sy si ar Oschtere zerschte Mal mit ihrer Mueter use cho.» Da hätten sich die Bernerinnen und Berner jeweils Stunden vorher eingefunden, um einen guten Platz an der Brüstung zu ergattern.

Schmökerecke
Der ehemalige Bärenwärter von Bern, Emil Hänni, hat seine Erlebnisse mit Bären in einem berndeutschen Buch festgehalten. Er wuchs bereits beim Bärengraben auf und führte die Arbeit seines Vaters, der ebenfalls Emil hiess, während 27 Jahren weiter.

Emil Hänni (2008): Bäregrabe-Gschichte - Erinneringe vom Bärewärter
ca. Fr. 26.--, Blaukreuz-Verlag Bern

Emil und seine Frau Margrit Hänni haben junge Bärchen mit der Flasche aufgezogen. So auch den Bären Freddy-Urs, mit dem er auch später, als der Bär schon grösser war, zusammen im Graben war. So habe sich der Bär auf die Hinterbeine gestellt und sich mit einer Tatze am Gestell des fahrbaren Kehrichtkübels gehalten, mit dem der Bärenwärter den Graben gut reinigte. Das habe ausgesehen, als sei der Bärenwärter mit seinem Gehilfen unterwegs, erinnert sich Hänni in seinen Memoiren. Freddy-Urs wurde 30 Jahre alt. Damals war es üblich, dass der Bärenwärter direkten Kontakt zu den Bären hielt und junge Bären auch von Hand aufzog. Überzählige Bären wurden geschlachtet, das Fleisch wurde in speziellen Berner Restaurants zu Gerichten zubereitet. Emil Hänni war der letzte Bärenwärter von Bern, heute sind verschiedene Tierpfleger verantwortlich.

In Mutzopolis

Bern ist die Stadt der Bären. So schreibt der Kulturanthropologe und Ethnobotaniker Wolf-Dieter Storl in seinem 2016 beim Aarauer AT-Verlag erschienenen Buch «Der Bär» von Mutzopolis und meint damit die Hauptstadt der Schweiz. Die Legende besagt, dass der Stadtgründer Herzog Berchtold von Zähringen die Stadt nach dem ersten Tier benannte, das er in den umliegenden Wäldern erlegte. Es war ein Bär, und so kam Bern zum Namen. Als die Stadt 1191 gegründet wurde, mögen durchaus Bären durch die Eichenwälder um die Aareschleife gestreift und vom Aarewasser getrunken haben. Seither ist der Bär in Bern präsent und der Berner identifiziert sich mit seinem Wappentier. Wenn man Wolf-Dieter Storl glauben will, so gleichen sich Bär und Berner. Er schreibt: Je länger ich mich in der Bärenstadt und im Bernbiet aufhielt, desto mehr kamen mir die einheimischen Berner selbst wie mensch-gewordene Bären vor. Storl schreibt von der kräftigen, stämmigen Statur, dem Gesichtsausdruck, der sich kaum verändere wie derjenige eines Braunbären.

In Bern trotten Bären nicht nur im Bärenpark am Aarehang, sondern sie sind an Wände gepinselt, in Dachgiebel geschnitzt, in Stein gemeisselt, als Brunnenwächter postiert, oberhalb von Fresken in Kirchen an Sandstein gemalt, leuchten in farbigen Kirchenfenstern, prangen auf Lebkuchen als Zuckergussverzierung, werden als Schokoladen- und Mandelbärchen verkauft und marschieren zu jeder vollen Stunde beim Glockenschlag über dem Torbogen des Zytglogge-Turms aus einer kleinen Tür als bewaffnete Truppe, um gleich wieder zu verschwinden. Der Bär als Wappentier des Kantons hat eine lange Tradition. Die älteste bekannte Verwendung des Bären als Emblem der Stadt Bern ist ein Stadtsiegel von 1224. Eine Berner Münze von 1228 zeigt ebenfalls bereits den Bären.

Verschiedene Braunbären
Der Europäische Braunbär (Ursus arctos arctos) ist die Nominatform. Dies Art kann in der Schweiz nicht nur im Bärenpark in Bern, sondern auch im Wildnispark Langenberg ZH, im Juraparc zwischen Vallorbe und Le Pont VD sowie im Bärenland Arosa GR beobachtet werden. Je nach Autoren gibt es eine ganze Anzahl an Unterarten. Eine der bekanntesten ist der Kodiakbär (Ursus arctos middendorffi). Zusammen mit dem Kamtschatkabären (Ursus arctos beringianus) handelt es sich um die grössten Bären überhaupt. Weiter werden der Grizzlybär (Ursus arctos horribilis) und der Syrische Bär (Ursus arctos syriacus) unterschieden. Letzterer lebt in der Schweiz im Zoo de Servion VD sowie im Natur- und Tierpark Goldau SZ. Im Tierpark Bern leben Ussuri-Braunbären (Ursus arctos lasiotus). Die Fellfarben und die Körperproportionen sind bei manchen Unterarten unterschiedlich. So hat der Syrische Bär beispielsweise einen hellbraunen bis blonden Pelz. Der Atlasbär, der einst in Nordafrika verbreitet war, wurde ausgerottet und gilt seit dem 19. Jahrhundert als ausgestorben. Er wurde in römischen Berichten erwähnt.

Mystische Verbindung

Der Braunbär ist verankert in der europäischen Geschichte und Mythologie. Wenn er auch physisch in der Schweiz schon lange verschwunden ist, so trifft man doch immer wieder auf Hinweise seiner einstigen Präsenz. Beispielsweise oberhalb der Stadt Saint-Ursanne JU am Doubs. Dort liegt in einer Höhle der nach 610 verstorbene heilige Ursicinus als Statue dargestellt. Er stützt seinen Kopf ab, über ihm ein Altar mit einer Marienstatue und davor die Skulptur einer offenen Bibel. Neben Ursicinus steht aufrecht ein hölzerner Bär. Der Eremit war ein Schüler von Abt Kolumban aus Irland. Auf ihrer Reise in das Gebiet der heutigen Schweiz soll ein Bär seinen Esel gefressen haben. Ursicinus habe danach zu ihm gesagt, dass er ihm nun als Gehilfe dienen müsse. Er soll fortan mit dem Bären in der Höhle gelebt haben. So erhielt erseinen Namen Ursicinus. «Ursus» heisst im Lateinischen «Bär», daraus wurde Saint-Ursanne.

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Auch Gallus ist mit Kolumban von Irland weggezogen und wurde der Legende nach des Nachts von einem Bären überrascht, der sich auf den Hinterbeinen aufrichtete. Gallus gebot dem Tier, im Namen des Herrn für sein Essen zu arbeiten. Der Bär gehorchte und trug Holz zum Feuer. Anschliessend erhielt er von Gallus ein Brot unter der Bedingung, dass er sich nicht mehr blicken lasse. Der Bär tauchte nie wieder auf. Bis heute aber ziert er das Wappen der Stadt St. Gallen. Weiter wird der Bär in den Wappen von Dielsdorf ZH, Orvin BE und Trogen AR geführt.

Der Bär als grösstes Raubtier Europas war Teil der Lebenswelt frühzeitlicher Menschen. Als mächtiges Tier hatte er eine mystische Bedeutung. Das geistig-spirituelle Leben der Frühmenschen war darum von Bären geprägt. In den Ostschweizer Höhlen Wildkirchli, Wildenmannlisloch und Drachenloch fand man Überreiste von über tausend Bären. Die Petze scheinen nicht alle selbst in die Höhlen gelangt zu sein.

Das Drachenloch liegt oberhalb von Vättis SG. Dort wurde eine der ältesten Kultstätten der Menschheit ausgemacht und der bedeutsamste Nachweis eines archaischen Bärenkults erbracht. In Steinkästen wurden lange Beinknochen von Bären und Schädel, deren Schnauzen sorgfältig zum Ausgang der Höhle gerichtet waren, gefunden. Das Alter der Steinkästen wurde auf rund 70 000 Jahre geschätzt.

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Die Bedeutung dieses eindrücklichen Tiers hat sich in unsere Gene eingeprägt. Obwohl der Bär schon längst ausgerottet ist in der Schweiz, hat er im Namen zahlreicher Gasthöfe überlebt, ebenso wie in Sprichwörtern. So hat vielleicht einen Bärenhunger, wer im Bären einkehrt; bindet, gesättigt vom reichen Mal, einem Tischkumpan einen Bären auf und zeigt sich, zumindest verbal, bärenstark. Der Bär macht dem Menschen Eindruck. Die Beziehung ist aber ambivalent. Der Mensch hat den Bären zurückgedrängt, indem er sich seinen Lebensraum aneignete und ihn bejagte. Heute freut er sich über Paddington, den lieben Londoner Bären, über Balu aus dem Dschungelbuch oder über Teddybären, die von Margarete Steiff in Deutschland anfangs des 20. Jahrhunderts erfunden wurden. Während diese Bären als lieb betrachtet werden, werden Bären, die in die Schweiz einwandern, rasch mit Argwohn beobachtet, besonders wenn sie sich an Bienenstöcken vergreifen oder ein Schaf reissen. Dann werden sie als Problembären bezeichnet, von welchen Gefahr ausgehen könnte, während allein im Jahr 2021 200 Menschen an Autounfällen verstarben.

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Was liegt für den Bären mehr auf der Hand, als sich am schmackhaften Honig zu bedienen, den er auf dem Präsentierteller findet. Oder ein Schaf zu reissen, das so einfach zu fangen ist? Der Berner Bärenpark-Leiter Peter Schlup ist überzeugt: «Der Bär wird in die Schweiz einwandern.» Wenn wir ihm Platz gäben, würde das Zusammenleben gelingen. Schlup findet, dass die Zeit von ungeschützten Herden, irgendwo auf einer Alp, vorbei sei. Es sei, unabhängig von der Präsenz von Grossraubtieren, störend, Tiere ohne Aufsicht auf eine Alp zu stellen. Ein Zusammenleben mit dem Bären sei möglich, es gelinge aber erst, wenn der Mensch auch Vorkehrungen treffe. Und wenn Bienenstöcke und Haustiere mit Elektrozaun gesichert werden und Abfall in bärensicheren Containern verstaut wird, können Schäden und unliebsame Begegnungen vermieden werden. Vielleicht gelingt es dann, den Bären in den Schweizer Bergen zu akzeptieren. Jedenfalls halten die Botschafter nach wie vor ihre Stellung in Bern.