Orca Angriffe vor Gibraltar
Die Rache der Wale
Seit Sommer 2020 beschädigen Orcas Segeljachten vor der Meerenge von Gibraltar, zerstören ihre Ruderanlagen und machen sie manövrierunfähig. Mehrere Hundert Boote wurden so bereits beschädigt. Der passionierte Segler Thomas Käsbohrer versucht das Rätsel der Orca-Angriffe zu entschlüsseln.
Herr Käsbohrer, was und wo genau ist die sogenannte «Orca Alley»?
Britische Segler nennen so inzwischen den Seeweg zwischen der Bretagne und Gibraltar. Seit Juli 2020 interagieren auf diesem Abschnitt Orcas mit Schiffen und Jachten. Wer aus den Niederlanden, Grossbritannien oder Deutschland kommt und im Mittelmeersegeln möchte, muss diese Route nehmen.
Wie viel Angriffe wurden verzeichnet und wie viel Prozent der sich in diesem Gewässer bewegenden Jachten macht das aus?
Das ist sehr schwierig zu enträtseln. Jährlich sind schätzungsweise zwischen 7000 und 9000 Boote in diesem Gewässer unterwegs und innerhalb zweieinhalb Jahren wurden 500 Boote beschädigt. Und mindestens zwei Jachten sind seitdem versenkt worden. Das ist schon eine enorme Menge, wenn man bedenkt, dass Orcas Boote bis dato meist gemieden haben.
Ist das Verhalten, welches die Orcas in der Orca Alley zeigen, einzigartig?
Ja, ein solches Verhalten wird bisher nur vor Portugal, Spanien und Gibraltar beobachtet.
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Gibt es Gemeinsamkeiten bei den Angriffen auf die Schiffe? Sprich, gibt es ein bestimmtes Muster?
Es gibt bestimmte Verhaltensmuster, die immer wieder auftauchen. So sind die Tiere sehr ruhig, wenn sie auf das Boot losgehen. Sie sind völlig auf das Ruder fokussiert. Zuerst rammen die Orcas die Jacht, versuchen sie um 180 Grad zu drehen, dann rammen sie das Ruder und probieren es schliesslich mit ihrem Kiefer wegzureissen.
Welche Orcas greifen die Boote an? Alter, Geschlecht, Grösse etc. …?
Anfangs nahm man an, es seien nur männliche«Rowdys» an den Angriffen beteiligt. Inzwischen weiss man jedoch, dass auch ausgewachsene Orca-Kühe Schiffe angreifen. Häufig schauen auch Jungtiere in einiger Entfernung zu. Die Orca-Gruppe vor Gibraltar umfasst 40 bis 50 Tiere. Davon waren anfangs nur drei an den Angriffen beteiligt, inzwischen sind es mindestens 16 Tiere – jeglicher Couleur.
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Was wie ein Ausschnitt aus Frank Schätzings Roman «Der Schwarm» anmutet, ist also Realität. Orcas greifen Segelboote an …
In Frank Schätzings Thriller «Der Schwarm» sind die Tiere völlig ausser Rand und Band und stürzen sich blutgierig auf Menschen und Boote. Das ist aber bei den Vorfällen in der Orca Alley überhaupt nicht der Fall. Sie wollen die Boote lahmlegen, sie zielen aufs Ruder, bislang nie auf Menschen.
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Denken Sie, Orcas nehmen wahr, dass Stress durch Grossschifffahrt, Überfischung, Verschmutzung der Meere etc. vom Menschen ausgeht?
Ich denke schon. Orcas sind sehr intelligente Wesen. Das menschliche Gehirn wiegt ungefähr 1,2 Kilogramm, ein Orca-Gehirn hat ungefähr fünf Kilogramm und ist viel enger gefaltet. Sprich, es ist viel leistungsfähiger. Im Wesentlichen benutzen sie es, um ihrer Lieblingsspeise, dem Thunfisch, hinterher zu jagen und zum Socializing. Orcas spielen miteinander und kommunizieren sehr viel. Orcas wissen also ganz genau, was sie tun, und haben gerade sehr viel Spass mit den Schiffen in der Orca Alley. Übrigens richten sich ihre Angriffe zu 80 Prozent gegen Segeljachten zwischen acht und dreizehn Metern.
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Sind Meeressäuger wie Orcas zur Rache fähig? Sprich, wehren sich Orcas aktiv gegen den Menschen?
Das glaube ich wiederum nicht. Wir sind in unserer Lesehaltung von Geschichten wie «Moby Dick»geprägt, aber diese entsprechen nicht der aktuellen Realität. Die Orcas gehen bei ihren Angriffen viel zu bedacht vor.
Haben Sie selbst nun mehr Respekt oder sogar Angst auf dem Meer?
Nein, die Angriffe sind momentan ja regional begrenzt. Orcas gehen ausgesprochen selten ins offene Mittelmeer und durchqueren nur selten die Meerenge. Wenn man die Orca Alley segelt, sollte man sich jedoch genau vorbereiten und nicht blauäugig lossegeln – aber Segler sind da sowieso recht akribisch.
Wie würden Sie sich nun bei einem Orca-Angriff verhalten?
Auf keinen Fall sollte man nur auf eine einzige Abwehrmethode setzen. Die spanische Schifffahrtsbehörde rät dazu, alle Geräte und den Motor zu stoppen, vor allem das Sonar auszuschalten und sich einfach uninteressant zu machen. Das hat bei geschätzt 25 Prozent der Angriffe funktioniert. Ich würde auf ein ganzes Set von Dingen setzen, wie zum Beispiel den Wal-PAL und die «Oikomi Pipes» – zirka zwei Meter lange Metallrohre, die man wie ein Windspiel ins Wasser hängt und mit dem Hammer draufschlägt.
Wird es in Zukunft noch mehr Angriffe geben? Und wenn ja, warum?
Aus einem Trend kann Mode, aus Mode kann Tradition und aus Tradition kann Kultur werden. Momentan sind wir auf der Stufe, dass die Angriffe auf Boote eine Mode sind. Ob es eine Tradition wird, werden wir in diesem Sommer feststellen. Sollte sich das Verhalten aufandere Schwertwal-Gruppen übertragen, wird es spannend. Orcas leben in festen Familien, die ein Leben lang zusammenbleiben, Kinder, Enkel, Grosseltern, Tanten. Diese Familien nennt man Schulen oder Pods. Zeitweise kommen mehrere verwandte Schulen zusammen und bilden grosse Clans von bis zu 150 Tieren. Nur junge Männchen verlassen die Pods auf der Suche nach einer Partnerin ausserhalb, um Inzucht zu vermeiden. Sie könnten das neue Verhalten beziehungsweise die Mode an andere Gruppen weitergeben.
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Welche Gefahr besteht nun für die Wale aufgrund ihres Verhaltens?
Das Thema Orca-Angriffe kocht schon jetzt recht hoch. Orcas sind Raubtiere und man hat versucht, diese Raubtiere vor dem Aussterben zu bewahren – was absolut richtig ist. Aber man stösst nun genauso wie bei Wölfen und Bären an seine Grenzen und hat die gleichen Probleme. Die meisten Orcas leben an den Küsten – sprich, der Konflikt mit dem Menschen ist einfach vorprogrammiert. Zudem probieren alle intelligenten Tiere stets etwas Neues aus. Das Gleiche können wir bei Wölfen beobachten. Zeigt ein Wolf ein für uns abnormales Verhalten und kann man dieses nicht korrigieren, muss man das Tier entnehmen – ich befürchte, das Gleiche könnte auch den Orcas blühen, wenn es in diesem Jahr zu noch mehr Angriffen kommen wird.
Was halten Sie persönlich von der Bezeichnung «Killerwal»?
Es ist das englische Wort für Schwertwal. In manchen Regionen gehen Orcas auf Blauwale oder schnappen sich ein Buckelwal-Baby. Je nach Nahrungs-Spezialisierung. Und wenn man bedenkt, dass eine Gruppe Orcas über sechs Stunden einen Wal fertig macht, dann wirkt das auf uns schon sehr grausam. Daher stammt der Name «Killer Whale». Natur ist auch grausam. Das Bild von «Free Willy» stimmt mit der Natur einfach nicht überein. Für mich sind Orcas sehr intelligente Raubtiere, die uns Menschen einen Spiegel vorhalten. Denn auch wir sind nichts anderes als ein intelligentes Raubtier, dem niemand Einhalt gebietet. Orcas zerstören allerdings momentan «nur» ein paar Boote, während der Mensch gerade alles aufs Spiel setzt.
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Rache, Lehrstunde, Vergeltung oder Spiel? Was ist Ihre persönliche Antwort auf die Frage, warum Orcas Boote angreifen?
Ich glaube, sie tun es, weil sie es können. Sie haben einfach irgendetwas entdeckt, das ihnen höllischen Spass macht.
Orcas sind für Sie in drei Worten:
Superintelligent, dem Menschen sehr ähnlich, Raubtiere. Raubtiere wie wir – an ihnen können wir unseren Charakter begreifen.
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Buchtipp
Thomas Käsbohrer ist leidenschaftlicher Segler. Mit seinem kleinen Segelboot «Levje» bereist er die Küsten Europas. Während seiner Reisen entstehen viele Geschichten, die er auf seinem Blog marepiu.blogspot.com erzählt – einer der meistgelesenen Segel- und Reiseblogs. Der gelernte Historiker und Journalist versucht akribisch zu ergründen, was mit uns passiert, wenn wir uns in die scheinbar vertraute Natur vorwagen. So auch in seinem neuesten Buch «Das Rätsel der Orcas», erschienen im Verlag millemari.
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