Sofía Heinonens Augen mustern aufmerksam den Horizont. Eine Gruppe Truthahngeier kreist am Himmel über der Pampa. In einiger Entfernung beobachten zwei Sumpfhirsche ganz wachsam die sich nähernde Reitergruppe. «Er kann nicht weit sein», sagt die argentinische Biologin. «Vielleicht hat er dort sogar heute Morgen ein Tier gerissen.» Langsam setzt sich ihr Pferd in Bewegung. Heinonen hat sich am Morgen mit Kollegen ihrer Naturschutzorganisation «Rewilding Argentina» aufgemacht, um die grösste Raubkatze Südamerikas aufzuspüren, den Jaguar.

Wo aber hat sich der König der Pampa nur versteckt? In dem teils meterhohen Sumpfgras scheint es schier unmöglich, eines der Tiere zu sichten. Pablo Guerra Aldazábal reckt die Antenne seines Empfangsgeräts noch höher, aber es ertönt kein Signalton. Erst gestern hat der Zoologe ein Weibchen in der Gegend gesehen, das ein Funkhalsband trägt. Mit seinem Ortungsgerät versucht er, ihm erneut auf die Schliche zu kommen.

Über dem Sumpfgebiet liegt eine trügerische Stille. Nur etwa das Flüstern verborgener Vogelstimmen lässt erahnen, dass dieses weite Land im wilden Nordosten Argentiniens in der Provinz Corrientes ein Rückzugsort für unzählige Tierarten ist. Einst waren die Esteros del Iberá, das grösste Feuchtgebiet des Kontinents nach dem brasilianischen Pantanal, einer der Orte mit der grössten Artenvielfalt des Landes. In den letzten hundert Jahren wurde es jedoch von Viehzüchtern und Jägern seiner reichen Biodiversität beraubt. Ozelote, Aras, Ameisenbären und Riesenotter verschwanden, Mähnenwölfe und Pampashirsche standen am Rand der Ausrottung. Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die letzten Jaguare gesichtet. Nun sind sie zurück.

[IMG 2]

Plötzlich dringt der beissende Geruch von Aas in die Nasen der Reiter. Sofía Heinonen hat den von Fliegen umschwärmten Kadaver eines Wasserschweins entdeckt. Er war es, der auch die Truthahngeier und mit den Falken verwandte Karakaras lockte, die der Biologin den Weg hierher wiesen. «Capybaras sind die Lieblingsbeutetiere der Jaguare», erklärt sie. Die entfernten Verwandten des Meerschweinchens sind mit bis zu etwa 130 Zentimetern Länge die grössten Nagetiere der Welt. «Inzwischen gibt es wieder Tausende von ihnen hier», sagt Heinonen. Nur will sich heute der erfolgreiche Jäger des Wasserschweins nirgendwo blicken lassen. Als die Mittagshitze schier unerträglich wird, packt Pablo Guerra Aldazábal sein Ortungsgerät wieder ein. «Auf den meisten Ausritten haben wir bei dem Weibchen mit dem Funkhalsband Glück», sagt er, «aber das hier ist eben kein Zoo. Wir können eine Sichtung nie garantieren.»

Einzigartiges Projekt

2004 übernahm die Expertin Sofía Heinonen die Leitung eines Projekts, das in ganz Südamerika einzigartig ist und erst der Anfang der inzwischen auf mehrere Schutzgebiete ausgedehnten Initiative «Rewilding Argentina» werden sollte. Die zuvor im Iguazú-Nationalpark tätige Biologin siedelte in den Esteros del Iberá schrittweise fast sämtliche Grosstierarten wieder an, die einst hier beheimatet waren. Ab 2007 kehrten Halsbandpekaris, Grosse Ameisenbären sowie seltene Vogelarten wie Nacktgesichtshokkos, Rotfussseriemas und Grünflügelaras zurück. Die Bestände der Mähnenwölfe, Sumpf- und Pampashirsche haben sich inzwischen deutlich erholt. Ozelote und Riesenotter aus Zuchtprogrammen und Zoos werden in weitläufigen und für sie eingerichteten Gehegen auf ihre baldige Freilassung vorbereitet. Im letzten Jahr wurden bereits die ersten Jaguare aus Brasilien und Paraguay in die Wildnis entlassen. Inzwischen durchstreifen acht Tiere wieder das Sumpfland. Ende Juli liess Rewilding Argentina stolz vermelden, dass in den Esteros del Iberá zwei Jaguarkätzchen geboren wurden – die ersten in der Region seit mehr als 70 Jahren.

[IMG 3]

Die Textilmilliardäre und Umweltschützer Kristine und Douglas Tompkins kauften 1997 die Ländereien einer Viehfarm im Zentrum der Esteros del Iberá. Ihr Ziel, das einst artenreiche Sumpfland einfach der Natur zu überlassen und auch als Lebensraum bedrohter Arten wiederzugewinnen, stiess bei den Einheimischen auf wenig Verständnis. Die Tompkins hatten zuvor bereits in Chile riesige Ländereien für den Naturschutz aufgekauft. Wie dort erwarben sie auch in Iberá angrenzendes Farmland, das wegen wechselnder Überflutungen und Trockenperioden nur schwer bewirtschaftet werden konnte. Das so entstandene Schutzgebiet wurde aber inzwischen dem argentinischen Staat übergeben und umfasst heute einen der grössten Nationalparks des Landes. Mit einer Fläche von gut 7500 Quadratkilometern ist es halb so gross wie Schleswig-Holstein.

Rewilding Argentina, das die Arbeit der Tompkins seit 2010 weiterführt, hat inzwischen neun Nationalparks gegründet und erweitert, darunter neben den Esteros del Iberá das Urwaldgebiet El Impenetrable im Gran Chaco sowie sieben in Patagonien. Die von der Organisation verwalteten Gebiete umfassen heute mehr als 10 000 Quadratkilometer Landfläche. Und dazu kommen etwa 100 000 Quadratkilometer geschützte Meeresfläche im äussersten Süden Argentiniens.

[IMG 4]

«Als ich ein Kind war, gab es hier fast keine Tiere mehr», sagt Domingo René Gonzalez, «sogar Capybaras waren damals nur selten zu sehen.» Der Naturführer ist mit einer Reitergruppe von der ehemaligen Viehfarm Rincón del Socorro aufgebrochen, um ihr die Tierwelt des Sumpflands zu zeigen. Einst hatten hier die Tompkins gewohnt, doch inzwischen wurde sie zu einer Lodge mit stilvoll eingerichteten Zimmern und einem Pool umgebaut. Kristine McDivitt Tompkins hat bis heute hier eine Wohnung und kehrt bisweilen auch nach dem Tod ihres Mannes Doug, der 2015 bei einem Kajak-Unfall in Chile starb, hierher zurück.

Mehr spannende Artikel rund um Tiere und die Natur?Dieser Artikel erschien in der gedruckten Ausgabe Nr 22/2022 vom 3. November 2022. Mit einem Schnupperabo erhalten Sie 6 gedruckte Ausgaben für nur 25 Franken in Ihren Briefkasten geliefert und können gleichzeitig digital auf das ganze E-Paper Archiv seit 2012 zugreifen. In unserer Abo-Übersicht  finden Sie alle Abo-Möglichkeiten in der Übersicht.

Jetzt Schnupperabo abschliessen

Zur Abo-Übersicht

Skepsis ist verflogen

«Meine Eltern haben wie viele Einheimische das Projekt der Tompkins vor rund 20 Jahren noch sehr kritisch verfolgt», sagt Gonzalez, «heute aber sehen sie den Nutzen nicht nur für die Natur, sondern auch für die Bevölkerung im Umkreis des Schutzgebiets.» Vor allem während der Pandemie entwickelte sich das Sumpfland zu einem der wichtigsten Reiseziele Argentiniens. Es sind die mittlerweile wieder frei lebenden Jaguare, die viele Touristen anlocken. Und inzwischen haben auch ausländische Veranstalter wie der britische Naturreise-Spezialist Wildlife Worldwide und das südafrikanische Safari-Unternehmen AndBeyond den Nationalpark in ihr Programm aufgenommen.

[IMG 5]

Ein Gürteltier flüchtet vor den sich nähernden Reitern. Nicht weit davon haben sich an einem Flussarm Dutzende Wasserschweine versammelt. Sie schenken den Pferden nur wenig Beachtung. Und um sie herum halten Silber-, Marmor- und Cocoireiher Ausschau nach Beute. Ein Wehrvogel kündigt die Reitergruppe mit lautstarkem Warnrufen an und scheucht einen Schwarm Pfeifgänse auf. Sie suchen ganz aufgeregt zwitschernd das Weite. Ein paar Kaimane, die sich am Ufer sonnen, scheint dies nicht wirklich zu stören. Die Reiter wähnen sich auf einer Entdeckungsreise in ein Naturparadies, in das der Mensch scheinbar noch nie vorgedrungen ist. Zwar bekommen sie auch an diesem Abend keinen Jaguar zu Gesicht, das Eindringen in sein wiedergeborenes Revier erfüllt sie dennoch mit grosser Ehrfurcht. «Mein Grossvater hatte Angst vor den letzten Jaguaren, weil er sie für unberechenbar und gefährlich hielt», erzählt Gonzalez. «Meine elfjährige Tochter freut sich heute über ihre Rückkehr. Für sie ist er ein Zeichen einer intakten Natur.»

Als die Sonne im Sumpfland versinkt, beginnt ein Konzert aus Hunderten Froschkehlen. Gonzalez’ Gäste treten in der Dämmerung ihren Rückweg an. Sie wissen genau, dass mit Einbruch der Dunkelheit der Beutezug des Königs von Iberá beginnt. «Ihn hier in der Wildnis zu sichten, ist weiterhin sehr schwer», sagt der Guide, «aber in Zukunft werden wir den Jaguaren sicher öfter begegnen.» Für die Reiter hat sich der Ausflug ins Reich der Raubkatze klar auch ohne Auftritt seiner Majestät gelohnt. Über dem Sumpfland werden nun die ersten Sterne sichtbar. Für eines der arglosen Capybaras, die die Abenteurer in der Finsternis zurücklassen, mag in seinem irdischen Paradies gerade die letzte Stunde verrinnen.

[IMG 6]