Weint jemand Krokodilstränen, so unterstellt man ihm geheuchelte Betroffenheit und Mitgefühl. Tatsächlich sondern Krokodile Tränen ab, jedoch beim Fressen und nicht aus Traurigkeit. Man geht davon aus, dass beim Öffnen des Mauls Druck auf die Tränendrüsen ausgeübt wird, wobei Tränenflüssigkeit austritt. Carlos de la Rosa machte in Costa Rica kürzlich eine interessante Beobachtung: Er entdeckte Insekten, die Krokodilstränen trinken.

Sowohl der gelb-orange Julia-Falter als auch eine Solitärbiene labten sich an den Tränen eines Kaimans. De la Rosa geht davon aus, dass die Insekten dabei auf die Salze und Eiweisse in der Flüssigkeit aus sind, ein für Pflanzenfresser wie Schmetterlinge und Bienen ein rares Gut.

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Auf der Suche nach Salz

Hierzulande sieht man oft ganze Schwärme von Schmetterlingen an Pfützen trinken. Ihr Ziel ist dabei nicht unbedingt die Aufnahme von Wasser, sondern von darin enthaltenen Mineralsalzen. Diese Nährstoffe sind in Nektar kaum bis gar nicht enthalten, jedoch lebenswichtig. Salze spielen eine Rolle in der Aufrechterhaltung des Blutdrucks und der neuromuskulären Aktivität, also der Kommunikation zwischen Hirn und Bewegungsapparat.

Tatsächlich ist das Phänomen von tränentrinkenden Insekten schon länger bekannt. Am peruanischen Amazonas laben sich Schmetterlinge regelmässig an den Tränen von Schildkröten. Kleine Bienen der Familie Halictidae werden im Englischen zudem auch «Sweat Bees» («Schweiss-Bienen») genannt, da sie menschlichen Schweiss lecken, wenn man sie lässt. In beiden Fällen dürfte es auch wieder Salze sein, die die Tiere anlocken.

2018 landeten dann auch Vogeltränen auf der Liste der bekannten Salzquellen für Insekten. Der Biologe Leandro Moraes beobachtete in Brasilien einen Nachtfalter, der die Tränen eines schlafenden Nördlichen Grauameisenschnäppers trank. Dabei waren die Augenlieder des Vogels geschlossen, und die Trinkaktion blieb von ihm unbemerkt.

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Auch in Madagaskar gibt es Motten, die Vogeltränen trinken. Ihr Saugrüssel ist dafür sogar mit winzigen Haken an der Spitze versehen, durch den sich die Insekten durch eine abrupte Bewegung des schlafenden Vogels nicht so leicht abschütteln lässt. Merken tun die gefiederten Tiere dies nicht, denn sie schlafen einfach weiter. Auch Krokodile und Schildkröten scheinen sich nicht an den Tränentrinkern zu stören. Ob sie einen Nutzen davon haben, dass ihnen die Tränenflüssigkeit weggesaugt wird, ist allerdings nicht bekannt.

Wahrscheinlich handelt es sich um eine Form des Kommensalismus. Bei dieser Form der Interaktion erhält einer der Beteiligten einen Vorteil, während dem anderen keine Kosten oder Nutzen entstehen. Dies ist jedoch nur der Fall, falls beim Tränentrinken keine Bakterien, Viren oder Parasiten übertragen werden.

Mittlerweile hat das Phänomen des Tränentrinkens auch einen wissenschaftlichen Namen: Lachryphagie. Nicht nur Insekten mit einem Rüssel scheinen dieser Tätigkeit nachzugehen. 2019 gelang es in Ecuador einem Fotografen das Bild einer Schabe festzuhalten, die sich über den Kopf einer Saumfingerechse (Anolis) beugte und offenbar an deren Auge leckte. Erstaunlicherweise hat die Echse die Gelegenheit nicht am Schopf gepackt und die Schabe gefressen.