Kurz nach 15 Uhr am Samstagnachmittag, 25. Januar, dürften viele Augen im Nationalen Pferdezentrum (NPZ) in Bern nach oben geblickt haben. Der Grund ist einfach: Das Weissstorchweibchen ist in die Bundesstadt zurückgekehrt. Um 15.05 Uhr hat die Webcam «Berner Storch» die erste Aufnahme der Storchendame geschossen. So früh ist die Storchendame, die seit 2017 in Bern brütet, noch nie zurückgekehrt.

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«In den letzten Jahren kam sie im Februar immer früher. 2024 hat sie erstmals die Grenze zum Januar überschritten», sagt David Külling. Der Biologe und Leiter des Kompetenzzentrums Natur bei Armasuisse, der Eigentümerin der NPZ-Anlage, unterstützt die Projekte rund um die Berner Störche. «Heuer kam sie nochmals einen Tag früher als noch 2024 aus ihrem Winterquartier zurück.» Wo sich dieses genau befindet, ist unklar. «Dass die Berner Störche den Winter über im Land bleiben, hat man noch nicht festgestellt», so Külling.

Tatsache ist, dass viele Störche die Schweiz in der kalten Jahreszeit mittlerweile nicht mehr verlassen. Dies zeigten auch die Ergebnisse der Winter-Storchenzählung, welche die Gesellschaft Storch Schweiz am 4. Januar durchgeführt hat. Vom Bodensee bis zum Genfersee zählten zahlreiche Freiwillige insgesamt 1041 Störche. Das entspricht knapp der Hälfte des Brutpaarbestandes in der Schweiz.

Dass so viele der grossen Vögel auch im Winter hierbleiben, hat einen simplen Grund: Die Winter werden milder. In vielen Regionen des Landes sind tagelang bleibende Schneedecken oder zugefrorene Gewässer mittlerweile eine Seltenheit. In dieser Zeit genügend Nahrung zu finden, ist für die Störche kein Problem mehr. Viele der Vögel sparen sich daher die kräftezehrende Reise nach Afrika.

Besonders viele Störche würden am Flachsee im Kanton Aargau überwintern, erzählt Külling. «Dort sind Dutzende bis Hunderte Störche anzutreffen, im Winter noch mehr als während der Brutzeit. Das hat den Grund, dass das Wasser durch die Reuss bewegt wird und nicht zufriert. Viele Fische leben dort.» Dies ziehe nicht nur Störche an. «Auch andere Vögel wie die Rohrdommel, ein Wintergast, der in der Schweiz seit 100 Jahren nicht mehr brütet, sieht man dort fast jeden Winter.» Andere Störche würden in Spanien überwintern, so der Biologe. «Auch sie sparen sich den Weg über das Mittelmeer.»

Die Storchen-Community wächst

Zurück zum Nationalen Pferdezentrum: Seit zehn Jahren nisten Störche mitten in Bern; Aufmerksamkeit erregt haben sie allemal. Dank der eingerichteten Webcam haben alle die Möglichkeit, die imposanten Zugvögel zu beobachten – zu jeder Uhrzeit. Die Kamera erzeugt alle fünf Minuten ein neues Foto. «Wenn wir es ein paar Stunden nicht merken, dass der Storch da ist, merken wir es spätestens kurze Zeit später, wenn die ersten E-Mails eintreffen», schildert NPZ-Betriebsleiterin Salome Wägeli. Doch nicht nur im Frühjahr, sondern während des ganzen Jahres erhalte sie immer wieder Nachrichten, was die Störche zu welcher Uhrzeit treiben.

Doch was macht genau diese Vögel eigentlich so beliebt? «Ich denke, sie übersteigen die reine Vogelfaszination: Störche sind gross, weit sichtbar, auffällig und schön. Auch Leute, die sich sonst nicht für Vögel interessieren, interessieren sich für Störche.»

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Den Alltag im NPZ stören die beliebten Vögel aber nicht. Inmitten der denkmalgeschützten Anlage finden täglich diverse Kurse, Unterrichtsstunden und weitere Aktivitäten statt. Durchschnittlich 140 Pferde sind hier zu Hause. Gegenüber dem regen Betrieb verhalten sich die Störche aber gar nicht scheu, erzählt Wägeli. «Manchmal stehen sie bei uns auf dem Miststock. Oder im Teich des Springgartens – natürlich genau dann, wenn wir dort durchreiten wollen.»

Üblicherweise kehren Storchenpaare getrennt zu ihrem Nest zurück – in Bern machte die Dame die letzten Jahre das Rennen. Richtig bemerkbar würden sie sich vor allem machen, wenn sie nicht mehr alleine sind. «Dann geht das berühmte Klappern los und wir werfen immer wieder einen Blick auf die Dächer.»

14 Berner Jungstörche

Fünf Horste befinden sich auf den Dächern der Anlage. Natürlich entstanden ist nur jener, den Interessierte seit Februar 2017 per Webcam beobachten können. Die anderen vier Horste wurden auf Brutplattformen errichtet, die 2022 bereitgestellt wurden. Insgesamt 14 Jungstörche wurden auf den NPZ-Dächern erfolgreich grossgezogen. «Was mich immer wieder fasziniert, ist die Hingabe der Altvögel. Sie geben wirklich alles – von ihnen kann man sich ein Stück abschneiden», schwärmt David Külling. «Das beginnt bereits mit der Besetzung des Horsts: Wie können sie im Januar bei starkem Wind stundenlang auf diesem Horst stehen? Sie lösen das, in dem sie sich stromlinienförmig gegen den Wind stellen.»

Auch das doppelte Federkleid, das innen wärmt und von aussen wasserdicht ist, sowie der Wärmeaustausch zwischen den Blutgefässen in den Beinen helfe ihnen gegen die garstigsten Witterungsverhältnisse. «Zwei Mal kam es vor, dass es im März stark geschneit hat, als unser legendäres Storchenpaar bereits Eier gelegt hatte. Über die Webcam konnte ich verfolgen, dass sich die beiden tatsächlich komplett einschneien liessen – sie sind die ganze Nacht nicht aufgestanden, um die Eier zu schützen.»

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Das Wetter zählt nebst Greifvögeln, Raubtieren und menschlichen Einflüssen zu den grössten Bedrohungen der imposanten Vögel. «Der Schnee ist aber nie das Problem, sondern eher die Nässe», sagt Külling. Am gefährlichsten werde es für die Jungtiere, wenn sie so gross sind, dass der Altvogel sie nicht mehr alle bedecken kann. Oft werde dann das kleinste und schwächste Junge von den Eltern aus dem Horst geworfen. «Meistens allerdings erst, wenn es bereits tot ist.»

Vor zwei Jahren kam es aber anders. Ein prägendes Erlebnis für Salome Wägeli: «Ein Babystorch wurde aus dem Nest geworfen und verhedderte sich im Schneefang auf dem Dach.» Der verloren gegangene Spross wurde sehr schnell bemerkt und konnte durch NPZ-Mitarbeitende gerettet werden. «In der Pflegestation in Utzenstorf wurde der junge Storch aufgepäppelt. Aus dem vormals kleinsten wurde innert kürzester Zeit der grösste Storch, der schliesslich wieder ausfliegen konnte. Das war sehr besonders.»

Eines hat man im NPZ noch nicht gesehen: Einen Jungvogel, der seinen Weg zurück nach Bern fand. «Eigentlich sollten wir mittlerweile mehrere Jahrgänge haben, die potenziell retour kommen könnten. Darauf warte ich jedes Jahr.» Ob es vielleicht 2025 der Fall sein wird?