Herrscher der Dunkelheit
Nachtfalter - die unscheinbaren Schmetterlinge der Nacht
Die bunt schillernden Schmetterlinge, die tagsüber von Blume zu Blume flattern, sind bestens bekannt. Den Grossteil der Insektenordnung bilden allerdings die unscheinbaren Nachtfalter. Sobald die Sonne untergeht, beherrschen sie die Dunkelheit.
Es ist finster im nächtlichen Wald. Nur eine blau leuchtende und mit einem Netz geschützte UV-Lampe, die Martin Albrecht am Wegrand installiert hat, erhellt die Umgebung. Wild flattert eine Kätzcheneule um die sogenannte Lichtfalle, bevor sie sich darauf niederlässt. Erst jetzt lassen sich ihr pelziger Körper und die hübsch gefiederten Fühler erkennen. Schönheit liegt bei den grösstenteils unscheinbar gefärbten Nachtfaltern, im Gegensatz zu den bunten Tagfaltern, im Detail. Gekonnt fängt der Insektenkundler das Tier mit einem transparenten Acrylglas ein, um es in Ruhe genauer zu studieren.
Martin Albrecht ist nebenberuflich Entomologe und widmet sich in seiner Freizeit den Schmetterlingen. Zusätzlich ist das Mitglied des Entomologischen Vereins Bern im Biodiversitätsmonitoring Schweiz tätig, einem langfristig angelegten Programm des Bundesamtes für Umwelt zur Überwachung der Biodiversität. Zusammen mit weiteren Experten sammelt er schweizweit Daten zu Tagfaltern, um herauszufinden, wie es um die heimischen Arten in den verschiedenen Lebensräumen bestellt ist.
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Schmetterlinge der Dunkelheit
Fällt der Begriff «Schmetterling», blitzen Bilder von bunt schillernden Zitronenfaltern, Schwalbenschwänzen oder Tagpfauenaugen vor dem inneren Auge auf. Dass aber auch die Nachtfalter zu den Schmetterlingen gehören, ist den wenigsten Menschen bewusst. «In der Schweiz sind momentan rund 3800 Schmetterlingsarten bekannt», erklärt Albrecht. «Da es sich um eine sehr grosse und heterogene Gruppe handelt, haben sich im Laufe der Zeit gewisse Vereinfachungen herausgebildet, um die Vielfalt etwas handlicher zu machen.» So unterscheidet man heute zwischen den ausschliesslich tagaktiven und den bunten Tagfaltern sowie den häufig, aber nicht ausschliesslich nachtaktiven «Nachtfaltern». «Das sind aber keine wissenschaftlichen Bezeichnungen», fügt der Entomologe an. In der Schweiz machen die Tagfalter mit etwa 200 Arten die Minderheit der Schmetterlinge aus. Denn ganze 95 Prozent der Insektenordnung sind Nachtfalter, unter denen sich auch tagaktive Arten wie die Widderchen finden.
Um als Laie einen Tag- von einem Nachtfalter zu unterscheiden, ist ein Blick auf die Fühler am Kopf der Tiere unerlässlich. «Die Fühler bei den Tagfaltern sind am Ende immer zu kleinen Keulen verdickt», erklärt Martin Albrecht den Unterschied. «Diese Fühlerform ist exklusiv bei den Tagfaltern. Alle Fühler, die eine andere Form aufweisen, sei das fadenförmig, ganz dünn, gesägt oder gekämmt, weisen auf Nachtfalter hin.» Typisch für Tagfalter ist zudem, dass sie die Flügel im Ruhezustand nach oben zusammenklappen, Nachtfalter dagegen ruhen mehrheitlich mit flach ausgebreiteten oder dachförmig gestellten Flügeln.
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Erobert haben die Schmetterlinge der Nacht ausser den Fliessgewässern alle Lebensräume der Schweiz. Selbst in den Hochalpen finden sich robuste Arten. So wie Wehrlis Gletscherspanner oder der Matterhorn-Bär, die sich bis auf über 3000 Meter über Meer finden.
Sind alle Nachtfalter nachtaktiv? Etwa 70 Prozent aller bekannten Nachtfalterarten sind, wie es ihr Name verrät, in der Dunkelheit aktiv. Die restlichen Arten fliegen, unter den Tagfaltern gut getarnt, bei Sonnenlicht. Zu ihnen zählt unter anderem die Nachtfalterfamilie der Widderchen, von denen in der Schweiz etwa 27 Arten bekannt sind.
Obwohl Nachtfalter so häufig und allgegenwärtig sind, verkörpern sie eine grosse Unbekannte, sind für die Menschen oft nicht mehr als ein störendes Insekt, das in einer schönen, lauen Sommernacht um die im Garten installierte Lichtquelle schwirrt. Dass nicht nur der bekannte Totenkopfschwärmer, sondern selbst die Lebensmittelmotte, mit der wir in der Küche kämpfen, zu den Nachtfaltern gezählt wird, mag überraschen. Tatsächlich weiss nicht nur ein Grossteil der Bevölkerung wenig über die Tiere, auch Insektenforscher haben längst noch nicht ausgelernt.
Dass Nachtfalter schlechter erforscht seien als Tagfalter, liege daran, dass sie schwieriger zu beobachten seien, erklärt Martin Albrecht. «Man muss sie mit Speziallampen anlocken, dazu braucht es einiges an Ausrüstung, und man muss sich die Nacht um die Ohren schlagen. Deshalb gibt es sehr viel weniger Entomologen, die sich mit den Nachtfaltern beschäftigen.» Eine weitere Problematik liegt darin, dass sich nicht alle Arten vom Licht angezogen fühlen und auch, dass es tagaktive Arten gibt, die sich als Wespen oder Bienen tarnen und so gar nicht als Nachtfalter erkannt werden.
An Albrechts Lichtfalle ist mittlerweile trotz der niedrigen nächtlichen Temperaturen im April einiges los. Die meisten Nachtfalterarten sind sehr wärmeliebend und fliegen bevorzugt in den Sommermonaten. Will man allerdings die Lebensweise der Tiere und die Artenzusammensetzung in einem bestimmten Gebiet studieren, lässt es sich nicht vermeiden, auch in den kälteren Monaten hinauszugehen.
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Vor allem männliche Nachtfalter finden sich an den Lichtquellen der Insektenforscher ein, denn sie sind mobiler als ihre weiblichen Artgenossen. Die Weibchen sind träge, schliesslich müssen sie in ihrem meist nur wenige Tage bis Wochen andauernden Leben verhältnismässig schwere Eier in sich tragen. Zudem ist das Fliegen eine gefährliche Angelegenheit, da Räuber in der Dunkelheit lauern. Einfacher ist es, still dazusitzen und Pheromone auszustossen, die paarungsbereite Männchen anlocken. Den Grossteil ihres Lebens verbringen die Tiere allerdings nicht als Falter, sondern als Raupen. Diese fressen sich an ihren bevorzugten Futterpflanzen voll, bevor sie sich, genau wie die Tagfalter, verpuppen und dank dem Wunder der Metamorphose erst als ausgewachsene Falter wieder zutage kommen.
Die filigranen Nachtfalter sind einigen Gefahren ausgesetzt. Spinnennetze, Hagel, Starkregen, Vögel, andere Insekten und Fledermäuse machen ihnen das Leben schwer. Ganz wehrlos sind die Tiere allerdings nicht. So haben viele Nachtfalterarten Abwehrmechanismen gegen Fledermäuse entwickelt. Hörorgane, die sich im Laufe der Evolution weiter ausgebildet haben, ermöglichen den Insekten, die Ultraschallrufe, die die Fledermäuse zur Jagd nutzen, zu vernehmen. Nähern sich die fliegenden Säuger ihren Opfern, lassen sich die Nachtfalter fallen, um den Zähnen der Räuber zu entkommen. Die Bärenspinner können mithilfe spezieller Muskeln sogar selbst Ultraschalltöne produzieren, um die Fledermaus zu verwirren. Gegen Parasitoide dagegen sind unsere heimischen Nachtfalter bisher noch machtlos. Hierbei handelt es sich um hoch spezialisierte Parasiten, deren Opfer letztlich den Tod finden. Zu ihnen gehören unter anderem gewisse Hautflügler sowie Fliegen, die ihre Eier auf oder in Nachtfalterraupen ablegen. Sind die Larven dann geschlüpft, bohren sich diese in die Raupe und fressen sie von innen bei lebendigem Leib.
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Fluoreszierende Raupen
Um nicht nur die Nachtfalter, sondern auch deren Raupen aufzuspüren, greift Martin Albrecht zu seiner mit UV-Licht ausgerüsteten Spezialtaschenlampe und leuchtet die Vegetation ab. «Ein Kollege von mir hat herausgefunden, dass manche Nachtfalterraupen in der Dunkelheit leuchten, was es einfacher macht, sie zu entdecken», erzählt Albrecht. Tatsächlich fluoreszieren gewisse Raupenarten im Schein des UV-Lichtes, ganz so, wie es bereits von Skorpionen bekannt ist. Dank des Einfallsreichtums von Entomologen lassen sich so neue Entdeckungen machen. «Mit der UV-Taschenlampe konnte ich feststellen, dass auf einigen Kartoffeläckern rund um meine Heimat im Seeland, die nicht gerade mit Insektiziden besprüht wurden, die Raupen des Totenkopffalters zu finden sind», berichtet der Insektenkundler. Für die Totenkopffalter hat Albrecht eine besondere Faszination, nicht nur wegen der fluoreszierenden Raupen. Die Nachtfalter, deren Weibchen im Juni aus dem Mittelmeerraum über die Alpen auch in die Schweiz wandern, um dort ihre Eier abzulegen, können bei Bedrohung wie eine Maus quieken, wie der Schmetterlingsexperte lachend erzählt.
Warum werden Nachtfalter vom Licht angezogen? Über diese Frage zerbricht sich die Wissenschaft auch heute noch den Kopf. Eine britische Forschergruppe stellte kürzlich die Theorie auf, dass die Tiere nicht vom Licht angezogen werden, sondern beim zufälligen Vorbeifliegen vom Licht «gefangen» werden. Verantwortlich dafür ist der sogenannte Lichtrückenreflex.
Eine im Dunkeln leuchtende Raupe lässt sich am heutigen Abend allerdings nicht entdecken. Vor einer blühenden Weide bleibt Martin Albrecht stehen und betrachtet sie im Schein der Taschenlampe aufmerksam. Die Weidenkätzchen sind für viele Nachtfalter eine wichtige Nahrungsquelle. Mit ihrem Saugrüssel nehmen sie Nektar und andere Pflanzensäfte zu sich. Zumindest die Tiere, die Mundwerkzeuge haben. Bei manchen Arten lohnen sich solche nicht, denn ihr Leben dient rein der Fortpflanzung. Und tatsächlich, bevor sich der auf dem Weidenkätzchen sitzende Nachtfalter versieht, landet er im Fangnetz des Entomologen. «Weiden sind eine gute Nahrungsquelle für Insekten, denn sie liefern schon früh im Jahr Nektar. Die Leute sollten im Garten lieber Weiden anstatt Thuja anpflanzen», erklärt Albrecht, der sich Sorgen um die Situation der Insekten in der Schweiz macht.
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Als Schmetterlingsexperte bekommt er aus erster Hand mit, wie die Vielfalt an Nachtfalterarten im Schweizer Mittelland durch Umweltprobleme wie die Verarmung der Landschaft und Lichtverschmutzung zurückgeht. Eine Rote Liste, wie es sie für diverse Tier- und Pflanzenarten gibt, existiert für Nachtfalter in der Schweiz noch nicht. Yannick Chittaro arbeitet bei Info Fauna, dem nationalen Daten- und Informationszentrum der Schweizer Fauna, und beschäftigt sich unter anderem mit den Schmetterlingen. Er schildert die Problematik: «Bisher wurden die Nachtfalterarten in der Schweiz nicht bewertet. Ihre Identifizierung ist oft sehr schwierig und es gibt nur eine geringe Anzahl von Spezialisten, die die Tiere mit Sicherheit bestimmen können.» Allerdings geht es nicht allen Nachtfalterarten in der Schweiz grundsätzlich schlecht. «Es gibt Arten, die sich in der Schweiz ausbreiten, insbesondere solche, die von der Klimaerwärmung profitieren», berichtet der wissenschaftliche Mitarbeiter. «Allerdings ist klar, dass eine grosse Anzahl von Arten im Gegensatz dazu rückläufig ist.»
Wirtspflanzen sind essenziell
Die Hauptbedrohung für die Nachtfalter sieht Yannick Chittaro in der Zerstörung und Verschlechterung der Lebensräume. «Wenn die Wirtspflanzen der Raupen und die Nektarpflanzen für die Nachtfalter verschwinden, dann verschwindet auch der Schmetterling. Eine zusätzliche Bedrohung, die nachtaktive Falter betrifft, ist die Lichtverschmutzung.» Auf ihren nächtlichen Flügen können sie von künstlichen Lichtquellen gestört werden. «Zum einen sind sie dann nicht mehr in der Lage, ihren üblichen Aktivitäten wie der Suche nach Nahrung und Sexualpartnern nachzugehen und zum anderen werden sie zu einer leichten Beute für Fledermäuse oder in den frühen Morgenstunden für Vögel», erklärt der Biologe.
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Hilfe für Nachtfalter
Nachtfalter zu erhalten und zu schützen, ist wichtig, denn ihre Funktion in den Ökosystemen ist von unschätzbarem Wert. «Nachtfalter tragen zur Bestäubung vieler Wildpflanzen bei, wahrscheinlich sogar viel mehr, als man sich bis vor Kurzem vorstellen konnte», erklärt Yannick Chittaro. «Ausserdem sind sie Teil einer globalen Nahrungskette und dienen vielen anderen Tieren wie Spinnen, Fledermäusen und Vögeln als Nahrung.»
Unter den vielen Nützlingen gibt es einige wenige Arten, die vom Menschen als Schädlinge klassifiziert werden. So können einige Raupen der Eulenfalter durch Frassschäden Probleme in der Landwirtschaft bereiten. Auch für die menschliche Gesundheit spielen einige wenige Arten eine Rolle. So wie der Pinien-Prozessionsspinner und der Eichen-Prozessionsspinner, deren Raupen stark nesselnde Haare tragen und für Hautausschläge sorgen können. Von den mehr als 3400 in der Schweiz nachgewiesenen Nachtfalterarten spielen diese «Schädlinge» laut Chittaro jedoch nur eine untergeordnete Rolle. «Die überwiegende Mehrheit der Tiere stellt kein Problem dar und ist im Gegenteil sogar sehr wichtig für das Gleichgewicht der Ökosysteme.»
Können Schmetterlinge nicht mehr fliegen, nachdem man ihre Flügel berührt hat? Dabei handelt es sich um ein Ammenmärchen. Die Schuppen von Schmetterlingen haben keine aerodynamische Funktion, sondern enthalten Farbpigmente, die zur Tarnung oder als Warnfarbe dienen. Wenn Schuppen und selbst Teile eines Flügels verloren gehen, können die Tiere dennoch fliegen.
Um den Nachtfaltern unter die Arme zu greifen, lassen sich für Privatpersonen einige Dinge leicht umsetzen. «Zum einen kann man jede unnötige Lichtemission in der Nacht begrenzen oder im besten Fall abstellen», wie der Schmetterlingsexperte erklärt. «Zum anderen hilft es den Nachtfaltern, indem man ein Maximum an einheimischer Pflanzenvielfalt fördert.» Da die Nachtfalter so vielfältig sind, sind es auch ihre Nahrungsvorlieben. So kann fast jede in der Schweiz heimische Pflanze als Nahrungsquelle für Raupen oder erwachsene Falter dienen. Deshalb Yannick Chittaros Rat: «Geben Sie unbedingt der Vielfalt den Vorzug.»
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Eine wissenschaftlich wertvolle Sammlung
Die Acrylbehälter des Entomologen Martin Albrecht füllen sich derweil mit verschiedenen Nachtfaltern. Manche werden nach dem Fang wieder in die Freiheit entlassen, andere zur genaueren Bestimmung unter dem Mikroskop vom Entomologen nach Hause genommen. Vielleicht finden einige von ihnen auch ihren Weg in Albrechts Schmetterlingssammlung. «Was viele Menschen nicht nachvollziehen können, ist, dass Entomologen Sammlungen betreiben. Die Identifikation von Arten ist in vielen Fällen jedoch nur möglich, wenn man die Tiere genauer untersuchen kann», erklärt Albrecht. «Eine grosse Anzahl von Arten sieht sich sehr ähnlich und kann nur anhand von Untersuchungen von gewissen inneren Organen oder der DNA bestimmt werden. Das schafft man nicht draussen im Feld.» Zudem ermöglichen gut gepflegte Sammlungen, auch in mehreren Hundert Jahren noch spannende Erkenntnisse zu gewinnen. Insbesondere dann, wenn neue Untersuchungsmethoden entstehen.
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«Aus biologischer Sicht spielt das Sammeln von Insekten keine Rolle für den Artenschutz», führt der Entomologe aus. «Schmetterlinge sind, salopp gesagt, ein Verbrauchsmaterial der Natur. Das einzelne Individuum fällt auch bei seltenen Arten nicht ins Gewicht für den Gesamtbestand, denn Insekten haben hohe Reproduktionszahlen und kurze Generationszyklen, sodass Verluste locker ausgeglichen werden können.» Wichtiger sei es laut Albrecht, dass die Lebensräume der Tiere intakt blieben.
Der Schmetterlingsexperte ist zufrieden mit der Ausbeute des heutigen Abends und beginnt, seine Sachen zusammenzupacken. Der kurze Einblick in das Leben der heimlichen Insekten erlischt mit dem Ausschalten der UV-Lampe. Dunkelheit umhüllt Martin Albrecht und die um ihn schwirrenden Nachtfalter.
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