An dem nebligen Morgen konnte das Reh das Auto unmöglich rechtzeitig sehen. Dem Autofahrer ging es ähnlich, und so war eine Kollision unvermeidbar. Kurz darauf klingelt bei Yves Portmann das Handy. «Der Fahrer meldet, dass das Reh verletzt in den Wald geflohen sei», fasst der Wildhüter das kurze Telefonat zusammen. Der Schaden am Auto würde sich in Grenzen halten, und auch der Fahrer kam wohl mit dem Schrecken davon. Wie es allerdings dem Reh geht, das will Portmann herausfinden.

Verletzten Tieren auf der Spur

Es ist bereits der vierte Unfallbericht an diesem frühen Morgen im 265 Quadratkilometer grossen Revier Portmanns im Gantrisch im Kanton Bern. Zwei Rehe flohen wahrscheinlich verletzt von der Unfallstelle, zwei weitere waren sofort tot. Letztere will der Wildhüter später einsammeln. Zuerst jedoch ist wichtig, die verwundeten Tiere zu finden und wenn nötig zu erlösen. Mit seiner Ausrüstung und den beiden Dienstsuchhunden macht sich Portmann in seinem grünen Skoda auf den Weg zur Unfallstelle. Der Autofahrer hat das Richtige getan, hielt sofort nach der Kollision an, markierte die Unfallstelle mit einem Tannenzweig und rief die Polizei. Diese leitete den Anruf an den regional zuständigen Wildhüter weiter.

«Hier liegen ganz schön viel Haare», murmelt der 45-Jährige, während er die Unfallstelle untersucht. Er folgt den Spuren zum Waldrand und nickt. «Hier muss das Reh ins Unterholz geflüchtet sein. Definitiv ein Job für Chicca.» Die junge Hündin begleitet den Wildhüter zusammen mit ihrer älteren Artgenossin Aischa bei der täglichen Arbeit. Beide Hunde sind für die sogenannte Nachsuche ausgebildet, bei der verwundete Wildtiere aufgespürt werden. Chicca freut sich sichtlich auf die bevorstehende Aufgabe. Ungeduldig winselnd lässt sie sich das reflektierende Halsband umlegen, das miteinem GPS-Sender versehen ist. «So kann ich sie auch im unwegsamen Gelände finden», erklärt Portmann.

Die Schwarzwälder Schweisshündin hat die Fährte bereits aufgenommen und folgt ihr mit der Nase dicht am Boden ins Unterholz. Vorbei an alten Dachsbauten geht es einen Hügel hinauf, dem verwundeten Reh auf der Spur. Chicca hält mehrfach inne, die Schnauze witternd in den Wind, geht ein paar Meter zurück, wo sie die Spur verloren hat. «Das Reh scheint nicht allzu schwer verletzt zu sein. Ich sehe kein Blut, und die Spur ist offenbar nicht stark, sonst würde Chicca nicht so oft zögern», analysiert Portmann. Seine Hündin führt ihn auf das offene Feld, wo der Wildhüter den Boden untersucht. Schnell findet er Hufabdrücke des geflüchteten Rehs.

«Es benutzt alle vier Beine, das ist gut. Es hinkt also nicht.» Portmann lässt den Blick über die angrenzenden Hügel schweifen, späht so gut es geht bis zu den nahen Wohnhäusern. «Wahrscheinlich hat das Reh lediglich etwas Kopfschmerzen. Die Beine scheinen in Ordnung zu sein, und bluten tut es auch nicht. Ich lasse es besser in Ruhe, damit es sich erholen kann.» Der Wildhüter gibt dem freiwilligen Jagdaufseher in der Region Bescheid, der in den nächsten Tagen Ausschau halten und ihm ungewöhnliche Beobachtungen melden wird. Chicca wirkt etwas enttäuscht, lässt sich aber bereitwillig zurück zum Auto führen. Die nächste Aufgabe lässt sicher nicht lange auf sich warten.

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Vermittler und Ermittler

Portmann ist Wildhüter aus Leidenschaft. «Meine Frau und die Kinder müssen allerdings auch sehr tolerant sein. Nicht immer komme ich pünktlich zum Essen nach Hause, denn ich weiss nie genau, wie lange mein Tag dauert.» Sein Handy steht selten still. Gerade erhält er einen Aufruf eines Hofbesitzers, der Ärger mit einem Marder hat. Portmann berät den Landwirt, erklärt verschiedene Vergrämungsmethoden und wie man das Haus mardersicher macht.

«Während der Jungtiersaison darf man die Tiere aber nicht stören», ergänzt der Wildhüter und einigt sich mit dem Anrufer darauf, dass dieser eine Lebendfalle aufstellt, um das Tier umsiedeln zu können. «Trotzdem müssen Sie danach jeden möglichen Zugang zum Haus verschliessen, sonst zieht bald der nächste Marder in das freie Revier ein.» Portmann kennt sich mit Wildtieren aus. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehört es, die Wildbestände in seiner Region zu kontrollieren, die Zahlen abzuschätzen und darauf zu achten, dass die Tiere gesund sind. Aus seinen Beobachtungen leitet sich ab, wie viele und welche Tiere zur Jagdzeit im Herbst geschossen werden dürfen.

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Yves Portmann war selbst schon zehn Jahre als Jäger unterwegs, bevor er Wildhüter wurde. «Die Hege und Pflege ist einfach wichtig. Hier im Gantrisch haben wir eine besonders hohe Vielfalt, da ist alles drunter, vom Luchs über Gämse bis zum Birkhuhn. Das ist wirklich schön.» Auch der Wolf wird in der Umgebung immer wieder gesichtet, zuletzt vor einer Woche, als er ein Schaf riss. Der Wildhüter ist dann meistens als Erster vor Ort, untersucht den Riss, spricht mit dem Tierhalter und nimmt Proben für Kora, die Stiftung für Raubtierökologie und Wildtiermanagement.

Dass man dabei ein dickes Fell haben muss, ist Teil seiner Arbeit. Gerade im landwirtschaftlichen Bereich sorgen Wildtiere immer wieder für Konflikte. Im Herbst beklagen viele Landwirte auf ihren Feldern Wildschäden, die vor der Ernte vom Wildhüter begutachtet und abgeschätzt werden, damit Betroffene eine entsprechende Entschädigung erhalten. Portmann wird so auch oft zum Vermittler zwischen Interessensgruppen und nicht zuletzt den Tieren in seinem Revier, deren Schutz er sich verschrieben hat.

Wie wird man Wildhüter?
• Abgeschlossene Berufsausbildung oder gleichwertige Ausbildung
• Jagdfähigkeitsausweis
• Gute körperliche Verfassung
• Sicheres Auftreten und Verhandlungsgeschick
• Bereitschaft zu unregelmässigen Arbeitszeiten
• Gutes Fachwissen in den Bereichen Wildbiologie, Jagd und Naturschutz

Wer hat das Reh gerissen?

Die Wildhut ist ein polizeiliches Organ, das heisst, sie erstattet auch schon mal Anzeige oder verteilen Bussen, wenn ein Naturschutzvergehen oder gar eine Straftat im Raum steht. Sei es der Autofahrer, der eine Kollision mit einem Wildtier nicht unverzüglich meldet, ein Pilzsammler, der mehr als die erlaubte Menge im Körbchen hat, oder gar Wilderer, die unberechtigt Tiere schiessen. In seinen zehn Jahren als Wildhüter hat Yves Portmann schon einiges gesehen. «Am heikelsten ist es allerdings, wenn ich zu einem Wildunfall komme, bei dem der Fahrer noch anwesend ist. Den meisten Unfallverursachern tut das Tier unendlich leid, und sie würden es am liebsten ins Tierspital bringen, aber das geht halt leider nicht.

Oft sind die Tiere zu schwer verletzt, und ein Transport in einem Auto zum Tierarzt, die Behandlung und eine anschliessende Genesungszeit in Gefangenschaft ist für ein Wildtier ein wahnsinniger Stress. Deshalb erlösen wir die Tiere gleich vor Ort, sollten sie nicht schon ihren Verletzungen erlegen sein.» Dass dies nicht immer auf Verständnis stösst, kennt Portmann gut. Wenn er mit seinem Jagdgewehr über der Schulter die Szene betritt, muss er ab und zu die Polizei zur Unterstützung hinzurufen, um die Situation zu beruhigen, bevor er seine Arbeit machen kann. Dabei sind die meisten Wildhüter durchaus sehr tierlieb. «Bestimmte Tiere bringe ich zur Wildtierauffangstation oder nehme sie zu Hause in Pflege, falls die Verletzungen nicht zu schwer sind. Zusammen mit meinen Kindern habe ich auch schon Eichhörnchen gepflegt und wieder ausgewildert. Diese Möglichkeit habe ich zum Glück als Wildhüter.»

Nach der erfolglosen Nachsuche sammelt Portmann zwei bereits tote Rehe vom Strassenrand ein. Bevor er sie in eine Tüte verpackt, untersucht er die Tiere. Eines ist ein junger Bock, man erkennt ihn an den Höckern über den Augen, wo später einmal das Geweih durchgebrochen wäre. Der Körper ist noch leicht warm, der Unfall kann also nicht lange her sein. Früher durften Wildhüter frisch tote Tiere noch verwerten und das Fleisch verkaufen. Heute ist das verboten, was Portmann bedauert. «Eigentlich ist das gutes und wertvolles Fleisch. Aber so bringe ich intakte Tiere halt manchmal noch in den Tierpark Dählhölzli nach Bern, dort haben dann die Raubtiere noch etwas davon.»

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Schon länger tot ist ein Reh, das ein Anrufer auf einem Feld gefunden hat. Nur noch die Hälfte sei übrig. Das Einsammeln von Kadavern gehört zum Tagesgeschäft eines Wildhüters. Vor Ort begutachtet Portmann das, was die Aasfresser übriggelassen haben: Die Hinterbeine liegen bis auf den Knochen abgenagt neben dem leergeräumten Körper der Rehgeiss. «Füchse lieben Innereien», erklärt Portmann. Aber woran ist das Reh gestorben? Weit und breit ist keine befahrene Strasse in Sicht, und Füchse selber reissen keine Rehe. Portmann deutet an den verrenkten Hals der Rehgeiss. «Hier sieht man Blutspuren, eventuell ist es ein Luchsriss.»

In der Region sind alle möglichen Reviere von Luchsen besetzt, der Population geht es gut. Portmann klappt sein Jagdmesser aus und trennt die Haut vom Fleisch am Hals des toten Rehs. Nun kann man deutlich zwei Löcher mit Einblutungen sehen. «Definitiv ein Luchs», schlussfolgert der Wildhüter. «Der Zahnabstand stimmt, und Luchse gehen immer an die Kehle. Der Biss muss zur Lebzeit des Rehs erfolgt sein, sonst wären keine Hämatome sichtbar.» Wäre der Riss frisch,würde Portmann ihn liegen lassen, damit der Luchs noch fressen kann. Aber der Kadaver ist so alt, dass er für die scheuen Tiere uninteressant ist, und der Wildhüter ihn entsorgt.

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Tierisch durchs Arbeitsjahr

Obwohl der Tod ein ständiger Begleiter ist, kümmern sich Wildhüter auch viel um die Lebendigen. Im Gürbetal ist ein Biber besonders aktiv und staut auch diverse Nebenarme mit kleineren Bauten. Diese Kanäle überfluten bei Starkregen leicht, sehr zum Leidwesen der Landwirte, die die umliegenden Felder bestellen. Darum kontrolliert Portmann regelmässig die Bauaktivitäten des Nagers und schafft an mancher Stelle Abhilfe. Die Nebendämme legen die emsigen Tiere meistens nur temporär an, wenn sie eine Futterstelle gefunden haben. Ein abgeerntetes Maisfeld zum Beispiel hält für einen Biber noch genügend Leckerbissen bereit.

Droht Gefahr, so muss er sich schnell zurückziehen können. Um die nötige Wassertiefe zuerreichen, staut der Biber dafür auch mal ein kleines Rinnsal. Ist an der Futterstelle nichts mehr zu holen, hat auch der Damm ausgedient, und Portmann sorgt dafür, dass das Wasser wieder frei abfliessen kann. Er entfernt dafür erst einen kleinen Teil des Nebendamms und kehrt nach ein paar Tagen zurück, um zu kontrollieren, ob der Biber die Stelle ausgebessert hat. Ist das der Fall, so weiss der Wildhüter, dass der Damm noch in Gebrauch ist. Falls nicht, so entfernt Yves Portmann auch den Rest des Holzes. So wird verhindert, dass sich weitere Äste verfangen und das Gewässer überläuft.

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Solche Arbeiten erledigt der Wildhüter, wenn keine akuten Fälle anstehen. Dann markiert er auch Wildschutzgebiete, insbesondere in der Winterzeit, damit die Tiere genügend Rückzugsgebiete haben und nicht von Wintersportlern gestört werden. Die dafür nötige Beschilderung liegt auch im saisonalen Aufgabenbereich der Wildhut. Im Frühling und Sommer dominieren verwaiste und verletzte Jungtiere den Arbeitsalltag, im Herbst ist es die Koordination der Jagd und die Kontrolle der Abschüsse. Dazwischen werden immer wieder Bestandesaufnahmen gemacht, nachts mithilfe von Scheinwerfern und Wärmebildkameras. Dazu kommt der Bereitschaftsdienst, denn die Wildhut ist zwischen 7 und 19 Uhr direkt erreichbar, danach bei Bedarf über die Polizei. «Wir machen viele Überstunden», berichtet Wildhüter Portmann.

An Nachwuchs mangelt es nicht, aber an entsprechenden Stellen. In den letzten Jahren sind viele Wildhüter in Pension gegangen, und die Posten wurden nicht nachbesetzt. Das bedeutet mehr Arbeit für die noch vorhandenen Wildhüter. Trotzdem macht Portmann seinen Job aus Leidenschaft. «Ursprünglich bin ich Werkzeugmacher, aber der Beruf hat mich nie ganz ausgefüllt und ich wollte etwas anderes machen», erzählt er.

Wer zur Wildhut möchte, sollte eine abgeschlossene Berufsausbildung haben sowie eine Jagdprüfung, idealerweise mit mehrjähriger Jagderfahrung. Die Stellen sind begehrt, häufig bewerben sich bis zu 80 Interessierte. Auch Portmann hat mehr als nur eine Bewerbung geschrieben, bis es geklappt hat. «Ich möchte nichts anderes machen», schwärmt er und streichelt seine Hündin Chicca, bis er wieder in seine Brusttasche greifen muss, weil das Handy klingelt und der nächste Einsatz wartet.