Die beeindruckende Bergwelt der Alpen lockt auch dieses Jahr wieder zahlreiche Wanderer ins Berner Oberland. Kaum einer wird dabei eine Schlange zu Gesicht bekommen, und doch liegen sie manchmal nur wenige Meter neben dem Weg. Von den neun in der Schweiz vorkommenden Schlangenarten findet man fünf in den Berner Alpen. Davon wollen sich Studierende der Universität Bern an einem bewölkten Montag selber überzeugen, und sie begeben sich zusammen mit Andreas Meyer von der Koordinationsstelle für Amphibien- und Reptilienschutz in der Schweiz (Karch) auf Exkursion.

Im unwegsamen Gelände stellt sich sofort die Frage, ob festes Auftreten die Schlangen nicht verscheuchen würde. Schliesslich wird dies Wandernden oft geraten, um die Tiere rechtzeitig zu warnen. «Unsere heimischen Schlangen reagieren kaum auf Vibrationen», antwortet Meyer. «Sie verlassen sich bei der Feindwahrnehmung auf ihre Augen.» Sprich, die Schlangen sehen uns wahrscheinlich lange, bevor wir sie entdecken, und machen sich im Zweifelsfall aus dem Staub. Ob die beinlosen Reptilien hören können, darüber streiten sich die Experten. «Schlangen haben keine äusseren Ohröffnungen, können aber Schall vermutlich auf eine andere Weise wahrnehmen. Momentan geht man allerdings davon aus, dass Schlangen entweder gar nicht oder nur sehr schlecht hören», so Meyer.

Dass sich um Schlangen viele Mythen und Falschinformationen ranken, ist Andreas Meyer gewohnt. Der Reptilienexperte ist Ansprechperson für das Berner Oberland bei Schlangenfragen. Immer wieder bekommt er Anrufe von unsicheren Bürgerinnen und Bürgern. «Die meisten heimischen Schlangen sind völlig harmlos», betont er. «Oft sind es Ringelnattern, die einem im Gartenteich oder auf dem Spaziergang begegnen.»

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Scheue Sonnenbader

Diese wasserliebende Schlangenart ist auch jene, nach denen die Biologiestudenten als Erstes Ausschau halten. Nahe einem Bergbach stapelt sich Schwemmholz in der Sonne, ein idealer Lebensraum für die scheuen Tiere. Wie alle Reptilien sind Schlangen wechselwarm und daher auf das tägliche Sonnenbad angewiesen. Das ist auch ein Grund, warum sich Andreas Meyer über das bewölkte Wetter freut. «Dann müssen sich die Tiere länger exponieren, und wir haben eine grössere Chance, welche zu Gesicht zu bekommen.»

Tatsächlich entdeckt Meyer bald darauf eine Ringelnatter, die leicht grünlich schimmernd auf einem Ast in der Sonne liegt. Sie gehört zu den häufigsten Schlangen der Schweiz und ist ungiftig. Man erkennt die Art meist an einer auffällig hellen Zeichnung im Nackenbereich. Während die Studentinnen und Studenten versuchen, einen möglichst genauen Blick auf das Tier zu werfen, verschwindet die Schlange langsam in den Wirren der Äste und Zweige des Schwemmholzbergs. Der Holzhaufen dient den Tieren nicht nur als Versteck, sondern auch als idealer Ort zur Eiablage. «Die Ringelnatter und die Würfelnatter sind im Berner Oberland die einzigen Schlangen, die Eier legen», erklärt Meyer. Die drei anderen hier vorkommenden Arten sind sogenannt lebendgebärend, das heisst, sie bringen voll entwickelte Jungtiere zur Welt.

Auf einer südexponierten Geröllhalde zieht Andreas Meyer seine bissfesten Handschuhe an. Hier ist die Chance gross, auf eine Kreuzotter zu treffen. Die Steinhaufen bieten einen idealen Platz zum Aufwärmen und anschliessenden Zurückziehen. Die Vegetation besteht vor allem aus Wacholderbüschen und anderen Alpenpflanzen. Beherzt greift Meyer plötzlich in die grüne Matte und hält kurz darauf eine der Giftschlangen in der Hand. Er befördert das Tier ruhig in einen transparenten Behälter mit Schraubdeckel, sodass sich die Studierenden die Schlange gefahrlos aus der Nähe ansehen können.

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Kreuzottern sind eindeutig am zickzack-förmigen dunklen Band auf dem Rücken zu erkennen. Es ist bei Männchen stärker ausgeprägt als bei Weibchen. Die Tiere verlassen sich bei der Jagd auf ihren hervorragenden Geruchssinn und töten die Beute mit einem Giftbiss. Letzteres ist auch das, was die Menschen fürchten. «Pro Jahr gibt es zwischen 20 und 30 Bissunfälle mit Schlangen in der Schweiz», berichtet Andreas Meyer. «Etwa die Hälfte davon ist selbstverschuldet, das heisst, die betroffene Person hat das Tier willentlich angefasst.» Von solchen Aktionen rät Meyer dringend ab. «Schlangen sind scheu und meiden den Menschen meistens. Fühlen sie sich jedoch bedroht, so wehren sie sich!» Die meisten Bissvorfälle würden zum Glück relativ glimpflich ablaufen. Bei einem Abwehrbiss wird längst nicht immer viel Gift abgegeben, oft gar keines. 2022 zog lediglich ein einziger Biss schwere Symptome nach sich. In sehr gravierenden Fällen könne auch ein Gegengift verabreicht werden, so Meyer. Dies geschehe mittlerweile jedoch selten. Wichtig sei, dass man die Bissstelle auf keinen Fall versucht abzubinden, auszusaugen oder auszubrennen. «Wer gebissen wird, sollte auf jeden Fall so rasch wie möglich ein Spital aufsuchen», rät Meyer. Dort würden die Patienten beobachtet werden, um allfälligen Symptomen entgegenwirken zu können. Seit 1961 ist in der Schweiz niemand mehr am Biss einer einheimischen Schlange gestorben.

Erste Hilfe bei Schlangenbissen 1. Ruhe bewahren, nicht hektisch werden.
2. Bei Bewusstlosigkeit: stabile Seitenlage. Bei Schockzustand: Schocklagerung (Kopf tiefer als Beine).
3. Bei bekannter Allergie auf Schlangengifte Notfallmedikamente verabreichen.
4. Falls vorhanden, Ringe und Uhr vom gebissenen Arm entfernen.
5. Wunde desinfizieren.
6. Betroffene Gliedmasse ruhigstellen.
7. Anstrengung beim Patienten vermeiden. Zum nächsten Krankenhaus bringen, unter schwierigen Umständen Rettungskräfte anfordern.
8. Keine Stauungsverbände, keine Manipulation der Bisswunde ausser Desinfektion, kein Alkohol trinken.

Was Schlangen zusetzt

Nicolas Joudrier, der die Exkursion begleitet, interessiert sich in seiner Forschungsarbeit weniger für das Gift der Schlangen, sondern viel mehr dafür, was den Tieren selber gefährlich werden kann. «Seit ein paar Jahren erkranken manche Tiere an einem bisher unbekannten Pilz. Man hat ihn ausser in Europa auch in den USA und in Indonesien gefunden, weiss aber nicht genau, wo er herkommt und wie krank er die einheimischen Schlangen macht», berichtet Joudrier. Für seine Arbeit nimmt der 24-Jährige bei den Schlangen Hautabstriche, markiert sie und lässt sie wieder frei, um sie später wieder einzufangen und ihren Gesundheitszustand zu untersuchen. «Im Labor sterben bis zu 20 Prozent der infizierten Tiere. Wir hoffen, dass es in der Natur weniger sind, wissen aber noch nicht viel.» Entsprechend vorsichtig ist Jourdier, wenn er mit den Schlangen umgeht. Er wechselt und desinfiziert die Handschuhe regelmässig, um den Pilz nicht weiter zu verbreiten. Er hofft, dass seine Studie dabei helfen kann, Massnahmen gegen die Ausbreitung des Pilzes zu treffen und die heimische Schlangenwelt besser zu schützen.

Unterdessen hat sich die Gruppe an den Abstieg gemacht. Weiter unten befindet sich ein optimaler Lebensraum der zweiten Schweizer Giftschlange, der Aspisviper. Wie die Kreuzotter ist die Aspisviper lebendgebärend, ernährt sich jedoch primär von Kleinsäugern wie Wühl- und Spitzmäusen, während die Kreuzotter Amphibien und Eidechsen als Beute bevorzugt. Die Aspisviper ist etwas grösser als die Kreuzotter und besitzt ein streifenförmiges, fleckiges Muster auf dem Rücken, weswegen man sie leicht mit einer Kreuzotter verwechseln kann. In der Gegend der Exkursion kommt zudem eine komplett schwarze Form vor.

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Auf einer Wiese durchsetzt mit Steinhaufen suchen die Biologiestudenten nach der scheuen Schlange. Andreas Meyer findet eine Aspisviper beim Sonnenbaden und dirigiert sie zur näheren Betrachtung in den Behälter. «Der Schwanz macht bei Schlangen nur einen kleinen Teil der gesamten Körperlänge aus», erklärt der Fachmann und zeigt auf die Unterseite der Viper. Tatsächlich kann man im hinteren Teil des Tieres die Kloake erkennen. «Das unterscheidet Schlangen unteranderem auch von Blindschleichen. Bei Letzteren ist der Schwanz viel länger und der eigentliche Körper macht lediglich etwa einen Drittel der Gesamtlänge aus.»

Meyer lässt das Tier am Steinhaufen, wo er es gefunden hat, wieder frei. «Diese bieten Aspisvipern und vielen anderen Tierarten einen idealen Lebensraum, werden allerdings immer weniger», bedauert der Schlangenexperte. Grund dafür sei, dass Landwirte die Steinhaufen als Hindernisse beim Mähen sehen und dass die für die Artenvielfalt so wichtigen Kleinstrukturen gemäss Direktzahlungsverordnung des Bundes auf den meisten landwirtschaftlichen Nutzflächen als unproduktive Fläche gelten, für die der Landwirt finanziell bestraft wird. Die Intensivierung der Landwirtschaft und das Verschwinden von Kleinstrukturen wie Steinhaufen, Steinwällen oder Trockenmauern ist so eine der Hauptursachen für den Rückgang vieler Reptilienarten. Der Erhalt, die Neuschaffung und die Pflege von Kleinstrukturen ist in den Augen von Andreas Meyer denn auch eine sehr wichtige Massnahme, um Reptilienvorkommen zu schützen und zu fördern.

Mit der zunehmenden Tageszeit und Wärme verringert sich die Chance, weitere Schlangen zu Gesicht zu bekommen, und so macht sich die Gruppe auf zu den Ufern des Brienzersees. Hier hoffen die Schlangenexperten auf Würfelnattern zu treffen. Diese kommen hier natürlicherweise eigentlich nicht vor, wurden aber wahrscheinlich in den 1960er-Jahren von einem Schlangenliebhaber ausgesetzt. «Das ist eigentlich nicht wünschenswert und wäre heutzutage auch illegal, aber in diesem Fall verdrängen die Tiere immerhin keine anderen Arten», so Andreas Meyer. Würfelnattern sind streng ans Wasser gebunden und jagen in den Spalten am Ufer nach kleinen Fischen. An diesem Sommertag ist jedoch keine der scheuen Reptilien zu finden, wahrscheinlich ist es dafür schon zu warm. Trotzdem sind Exkursionsleiter und -teilnehmer zufrieden. Wie so oft war nicht vorherzusehen, ob man wirklich Tiere zu Gesicht bekommt. Und gerade bei bedrohten Tierarten wie den Schweizer Schlangen freut man sich umso mehr, sie in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten zu können.

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Ausflugstipp: Moulin de Vert Schlangenexperten geben aufgrund der Gefährdung ihrer Schützlinge nur ungern bekannt, wo Schlangen zu finden sind. Bei einem Naturschutzgebiet machen sie jedoch eine Ausnahme: Das Moulin de Vert (GE) gilt als wahres Eldorado für Naturinteressierte. Ohne den Weg verlassen zu müssen, kann man hier nebst Biber, Sumpfschildkröten und verschiedenen Vogelarten auch Schlangen wie Vipernatter, Ringelnatter und Aspisviper beobachten. Am ehesten sieht man die Reptilien bei bewölktem Wetter.


Schlangen in der Kultur

Die Bibel machte die Schlange als listige Verführerin zum Symbol der Falschheit und des Bösen. Sie über-redet darin Eva, von der verbotenen Frucht zu essen, was zur Verbannung Adams und Evas aus dem Paradies führte. Auch die Schlange wurde von Gott verflucht, auf dass sie fortan auf dem Bauch kriechen und Staub fressen müsse.

Im Alten Ägypten zierte eine Kobra mit aufgestelltem Nackenschild die Stirn von Göttern und Königen. Sie sollte als Schutzschild mit dem Gluthauch ihres vermeintlichen Feueratems Feinde und Unheil abwenden. Das Schlangensymbol wurde auch als Schutzsymbol an Bauwerken angebracht, zum Beispiel am Tempel von Abu Simbel und am Tempelhaus von Kom Ombo. Zudem nahm die Göttin Wadjet die Gestalt einer Kobra an.

Im alten Griechenland galt die Schlange als religiöse Verbindung mit der Erdtiefe und somit als Beschützerin der Unterwelt. Ihre Häutung symbolisierte Wiedergeburt, ewige Jugend und Unsterblichkeit. Der Sage zufolge hat eine Schlange zudem Asklepios, den griechischen Gott der Heilkunst, auf die Wirksamkeit verschiedener Heilpflanzen aufmerksam gemacht. Der Äskulapstab, um dessen Schaft sich eine Schlange windet, ist noch heute das Wahrzeichen der Ärzte und Apotheker. Asklepios war in der römischen Kaiserzeit einer der meistverehrten Götter. In ihm zu Ehren erbauten Tempeln wurden oft Äskulapnattern gehalten und von Kranken als Wallfahrtsorte aufgesucht.

In Indien werden Schlangen als «Nagas» verehrt. Sie gelten als Schutzpatrone des Wassers und der Wolken, können aber auch Dürren und Überschwemmungen auslösen. Die Gottheit Vishnu ruht zudem aufeiner Schlange, der Weltschlange Ananta, und es gibt verschiedene Darstellungen von Schlangengottheiten sowie Menschen mit dem Kopf oder Körper einer Schlange. Im Buddhismus gelten die Nagas als Helfer und Beschützer Buddhas.

Die Regenbogenschlange ist eine zentrale Figur in der Mythologie der Aborigines, der australischen Ureinwohner. Sie steht als Symbol für das Leben, bringt unter anderem Regen und soll das Volk beschützen. Um die Regenbogenschlange ranken sich zahlreicheMythen und Geschichten, die einen wichtigen Teil der Kultur der Aborigines bilden.