Wenn früher ein Mensch und ein Sumpf zusammenkamen, verschwand der Mensch, jetzt der Sumpf», kalauerte 1930 der Wiener Wissenschaftstheoretiker Otto Neurath. Tatsächlich hatte sich der Mensch – jedenfalls der europäisch geprägte – die Welt nachhaltig untertan gemacht. Ein halbes Jahrhundert vor Neurath wurde das Berner Seeland mit der Juragewässer-Korrektion trockengelegt. Allerorten waren Fabriken, Wohnsiedlungen und Eisenbahnlinien entstanden. Die Land- und die Forstwirtschaft waren intensiviert worden. 

Gewisse Bevölkerungsgruppen begannen zu spüren, was mit der Nutzung der Natur verloren ging. «Die Natur wandelte sich von etwas, vor dem sich der Mensch schützt, zu etwas, das vor dem Menschen zu schützen ist», sagt Patrick Kupper, Umwelthistoriker an der Universität Innsbruck und Verfasser einer Geschichte über den Schweizerischen Nationalpark. Es sei vorab das Bildungsbürgertum in den Städten gewesen, welches dieses Unbehagen verspürt habe, sagt Kupper. Mit eine Rolle gespielt haben dürfte einerseits ein neuer, wissenschaftlicher Umgang mit der Natur. Andererseits nährte die ausklingende Strömung der Romantik eine Verklärung der Natur. In den Vereinigten Staaten führte dies 1872 zur Gründung des Yellowstone National Park im Nordwesten der USA. 

Man kannte zwar längst Gesetze, welche den Gebrauch der Natur regelten. Dabei standen aber die Bedürfnisse des Menschen im Vordergrund. Dass die Natur um ihrer selbst willen geschützt werden sollte, war im ausgehenden 19. Jahrhundert neu. Vogel-, Tier-, Pflanzen- und Naturschutzvereine schossen nun wie Pilze aus dem Boden. Sie wollten einerseits unberührte Flecken Natur oder auch Naturmonumente erhalten und vor dem Zugriff des Menschen schützen. Andererseits sollten Tier- und Pflanzenarten vor dem Aussterben geschützt werden. So schuf der Club Jurassien 1882 das erste Naturschutzgebiet der Schweiz im Creux du Van NE.

Wildnis konservieren und Arten schützen
Zahlreiche europäische Länder bestimmten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs ebenfalls Naturschutzgebiete. In ihnen sollte Wildnis (oder was man dafür hielt) konserviert, bedrohte Tier- und Pflanzenarten geschützt werden. Diese Bestrebungen fruchteten ausserhalb Europas noch schneller als auf dem alten Kontinent. So wurden in den damaligen Kolonien Afrikas Wildparks eingerichtet, bereits 1898 der spätere Krüger-Nationalpark in der britischen Kolonie Südafrika, 1907 der spätere Etosha-Nationalpark in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. 

In der Schweiz war es eine Gruppe von Wissenschaftlern rund um den Basler Forschungsreisenden Paul Sarasin, die schon vor 1910 die Schaffung eines Nationalen Gross-Naturschutzgebiets vorantrieb. Es sollte ein Gebiet werden, «wo jegliche Einwirkung des Menschen für alle Zeiten ausgeschaltet ist», wie Sarasins Mitstreiter, der renommierte ETH-Professor Carl Schröter, erklärte. 

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Immer wieder wurden im Nationalpark Tiere ausgesetzt, hier
Steinböcke.
  Bild: Schweizerischer Nationalpark

Es war am 1. April 1910, als «Der Bund» von Streitereien in der Nationalpark-Kommission des Nationalrats berichtete. Eine Gruppe wolle den Nationalpark mit einer hohen Mauer hermetisch von der Umgebung abschotten, hiess es. In diesem Reservat solle sich die Natur absolut unberührt von allem menschlichen Zutun entwickeln können – bis sich aus niederen Formen wiederum Menschen entwickelt hätten, welche den Urtypus des reinen, alpinen Schweizers darstellten. Eine andere Gruppe wolle die Entwicklung des neuen Menschengeschlechts nicht dem Zufall überlassen, sondern einen neuen «Adam» und eine neue «Eva» im Park aussetzen. 

Der Verfasser dieses Aprilscherzes hatte nicht nur Gutgläubige an der Nase herumgeführt. Er hatte auch ­gezeigt, in welchem Umfeld die Nationalpark-­Idee gedieh. Noch hingen weite Teile der Wissenschaft und der Bildungsbürger der Idee einer gradlinigen Evolution an, die sich zwangsläufig so und nicht anders entwickeln müsse und sich demzufolge wiederholen liesse. Dazu gehörte auch die Vorstellung, der Mensch könne ein Gebiet von menschlichem Einfluss säubern. 

Naturschutz als Landesverteidigung
Schliesslich diente die Nationalpark-Idee in dieser weltpolitisch bedrohlichen Zeit auch der nationalen Identitätsfindung. Die politische Debatte war geprägt von der Frage, wie «typisch schweizerisch» das Hochtal am Ofenpass an der Grenze zu Italien denn sei. Die Initianten, die bis dahin neben dem naturschützerischen vor allem den wissenschaftlichen Aspekt des Nationalparks betont hatten, sahen sich gezwungen, vermehrt nationalpolitisch zu argumentieren. 

Als das Parlament 1914 das Gebiet am Ofenpass in den Stand eines Nationalparks erhob, wurde, anders als etwa im Yellowstone-­Park, die «totale Reservation» gewählt. Das verschaffte dem Schweizer Park weltweite Beachtung und Anerkennung. Auch in anderen Ländern waren bereits Naturschutzgebiete eröffnet worden, doch so weit wie im Nationalpark ging der Schutz nirgends. Aus ganz Europa kamen Naturschützer, Wissenschaftler und Politiker ins Engadin, um den Park von nahe zu sehen.

Gerne hätte die Schweiz bezüglich Naturschutz international auch weiter eine Vorreiterrolle übernommen. Doch noch im Jahr der Eröffnung des Nationalparks brach der Erste Weltkrieg los, und kaum hatte sich die Welt wieder etwas erholt, der Zweite. Die Zwischenkriegszeit war eher eine Zeit der Konsolidierung des Naturschutzes als eine Zeit der grossen Würfe. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte sich die Schweiz wieder einbringen, als der Naturschutz international wieder Fahrt aufnahm.

Zugleich aber wuchsen mit der Hochkonjunktur der 1950er- und 1960er-Jahre neue Probleme. Es entstand eine Massenmobilität, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Der Tourismus eroberte Naturschutzgebiete und andere noch intakte Landschaften. Zugleich wurden die Bergflüsse für die Elektrizitätserzeugung entdeckt; viele der grossen Staudämme stammen aus dieser Zeit. Selbst im Nationalpark wurde der Spöl trotz des Widerstands der Naturschützer zum Lai da Ova Spin aufgestaut. 

Gestaute Flüsse, verschmutzte Seen, verschmutzte Luft, Lärm, verbaute Landschaft – um 1970 entstand nicht nur der Begriff Umwelt im heutigen Sinn, sondern auch eine neue Welle zu deren Schutz. Zudem kamen damit verbundene Fragen rund um Energie, Mobilität und Entwicklungspolitik auf die Traktandenliste. Die Anti-AKW-Bewegung formierte sich, noch vor Kaiseraugst und Tschernobyl. 1971 wurde in Neuenburg eine erste Grüne Partei gegründet. War der Naturschutz früher eine bürgerliche Domäne, waren es nun vor allem linke Gruppen, die ihn vorantrieben.

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Forschung ist eine zentrale Aufgabe des Nationalparks.
  Bild: Schweizerischer Nationalpark

Seitdem ist die Natur zwar weiter zurückgedrängt worden, und mit dem Klimawandel ist ein neues, brennendes und den gesamten Globus betreffendes Problem aktuell. Zugleich konnten sich viele kleine und grosse Organisationen etablieren, die sich dem Schutz der Natur verschrieben haben. Ihre Stellung ist gestärkt worden, auch auf gesetzlicher Ebene. «Es ist heute zumindest in der Schweiz selbstverständlich geworden, die Auswirkungen unseres Handelns auf die Umwelt zu prüfen und zu diskutieren», sagt Patrick Kupper. 

Was das wohl grösste Naturschutzprojekt der Schweiz, den Nationalpark, betrifft, wurde das damals formulierte Ziel nicht erreicht. Eine vom menschlichen Tun abgekoppelte Wildnis konnte nicht geschaffen werden, denn Wildnis ist nicht statisch, sondern ein Prozess. Ein Erfolg ist er dennoch, denn mit ihm wurde eine dauernde wissenschafliche und gesellschaftliche Auseinandersetzung angestossen.

Arten dürften sogar aussterben
Heute liegen eher kleine, aber miteinander vernetzte Biotope im Trend – schon aus pragmatischen Gründen: Wo sollte man in der Schweiz noch ein Gebiet in der Grösse des Nationalparks hernehmen, aus dem sich der Mensch ganz zurückzieht? Solche Systeme können viele Aufgaben eines grossen Naturschutzgebietes übernehmen. In den Landschaftspärken hingegen ist das Ziel, Natur, Landwirtschaft, Gewerbe und Wohnen so zu verbinden, dass alle damit leben können und eine nachhaltige Entwicklung möglich ist. Im Nationalpark sind heute natürliche Prozesse geschützt; so lässt man es allenfalls sogar zu, dass Arten aussterben, wenn sie keine Lebensgrundlage mehr haben.

In den nächsten Jahren dürfte weltweit der Klimaschutz zum wichtigsten Thema werden, sobald die Auswirkung der globalen Erwärmung auch in den Industrienationen unübersehbar geworden sind. Ob sich die Welt schon an der UN-Klimakonferenz Ende November zu griffigen Massnahmen durchringen kann, wird sich weisen. «Der Umweltschutz wird sicherlich auf der politischen Agenda bleiben. Welche Bedeutung ihm aber beigmessen wird, lässt sich nicht voraussagen», sagt Kupper, «das hängt zu sehr von unvorhersehbaren Ereignissen und Entwicklungen ab.»

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Patrick Kupper: «Wildnis schaffen – Eine trans­nationale Geschichte des Schweizerischen Nationalparks»
Gebunden, 376 S.
Verlag: Haupt
ISBN: 978-3-258-07719-2
Ca. Fr. 50.–