Auf der Melchsee-Frutt ist ein Rentier ausgerissen. Bisher konnte es nicht eingefangen werden.» Zu lesen war diese Schlagzeile in der Luzerner Zeitung vom 7. Januar 2009. Das Schlittengeschirr des Wallachs Cosmos hatte sich gelöst, woraufhin das Rentier voller Schrecken das Weite suchte. Erst nachdem Cosmos über einen Monat auf den Skipisten umhergeirrt war, konnte er wieder eingefangen werden. Dieses aufregende Ereignis trug wohl auch dazu bei, dass André Fischer, der Wirt des Bergrestaurants Erzegg und Besitzer der schlagzeilenträchtigen Melchsee-Frutter Rentierherde, noch im selben Jahr neue Besitzer für seine Tiere suchte und schliesslich auch fand. Die neunköpfige Herde samt allem Equipment zog auf den Hof der Familie Luginbühl ins Berner Oberland.

«Die Idee, Rentiere zu halten und in der Vorweihnachtszeit zu vermieten, haben wir von den USA abgeschaut», sagt Arnold Luginbühl. Diese Tiere hätten ihn schon lange fasziniert. Deshalb zögerte er nicht, als er die Herde in der TierWelt ausgeschrieben sah. Doch um Rentiere halten zu dürfen, muss eine Wildtierhalte-bewilligung erworben werden. Kurz nachdem die Rentierherde bei den Luginbühls eingezogen war, bekamen sie deshalb Besuch von einem Experten. Dieser begutachtete die Unterbringung der Tiere genauestens und gab Fütterungsempfehlungen ab. Die Tipps erwiesen sich in der Umsetzung jedoch als wenig erfolgversprechend. «Mit der Fütterung funktionierte es anfänglich nicht gut», so Arnold Luginbühl. Es sei ein Austüfteln gewesen, was den Tieren aus den Norden bekommt. Von der Lama- und Alpakafütterung hätten sie einiges kopieren und übernehmen können. Denn dabei hatten die Luginbühls bereits ausreichend Erfahrung. Seit 1994 halten sie Lamas und im Jahr 2000 kamen noch Alpakas dazu. Momentan leben rund 300 der Neuweltkameliden in Aeschi. So zeigte sich, dass die Rentierfütterung vor allem eins sein muss: kohlenhydrathaltig. Morgens gibt es nun Maiswürfel, dann junges Heu sowie Gras und abends noch eine Portion des speziellen Rentierkraftfutters. Auch Leckerli sind sehr beliebt: getrocknete Flechten. Davon ernähren sich Rentiere in ihrer nordischen Heimat hauptsächlich während den Wintermonaten.

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Zahm, aber doch mit Dampf

Und so kramt Carmen Luginbühl, die Tochter vonArnold, erst ein Büschel der getrockneten Leckerbissen aus einem Futtersack, bevor sie das Tor zum Rentiergehege öffnet. Snow, Loki und Conquistador wissen genau, dass ihre Betreuerin nicht mit leeren Händen zu ihnen kommt. Neugierig traben sie auf ihren breiten Klauen heran. Diese verleihen ihnen Trittsicherheit und auf dem Schnee eine grössere Auflagefläche. Die drei Rentiere recken ihre Hälse nach den Flechten und lassen sich vertrauensvoll von der jungen Frau kraueln. Gross sind sie nicht, die Hirsche aus dem hohen Norden. Etwa einen Meter beträgt ihre Widerristhöhe. Genau doppelt so hoch muss aber der Zaun sein, der ihr Reich, bestehend aus einem immer zugänglichen Stall, einem befestigten Bereich und der grossen Weide, umgibt. Früher lebten hier 20 Rentiere in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine so grosse Anzahl an Rentieren zu versorgen, wurde aber zu aufwendig und der mit den Tieren erwirtschaftete Ertrag stand in keiner Relation. Heute besteht die Herde noch aus drei Tieren.

Kleine Geweihkunde
Rentiere sind die einzige Hirschart, bei der sowohl männliche wie auch weibliche und kastrierte männliche Tiere ein Geweih besitzen. Dieses erreicht ein Gewicht von etwa zwei bis drei Kilogramm bei erwachsenen unkastrierten Böcken. Gegen Ende des Sommers fegen die Rentiere die Geweihhaut, den sogenannten Bast, vom Geweih. Das heisst, sie reiben ihr Geweih an Bäumen, um die Haut loszuwerden, die das Geweih während des Wachstums genährt hat. Im Frühjahr wird das Rentiergeweih dann abgeworfen. Nur wenige Tage danach beginnt sich bereits ein neues Geweih auszubilden.

Da Rentiere sehr anfällig auf Verwurmung sind, muss täglich gut gemistet werden, dazu kommen das Füttern und die Ausbildung. Daher erstaunt es wenig, dass die Rentiere halfterführig sind oder in einen Transporter verladen werden können. Klar, ihre Schützlinge sind zahm, aber man merke schon, dass es Wildtiere sind, die auch ab und zu kurz überprüfen, wer das Sagen hat, so Carmen Luginbühl. Wie um dies zu demonstrieren, senkt der mausgraue Loki kurz seinen Kopf und richtet sein eindrucksvolles Geweih auf uns. «Es steckt ganz schön Dampf in den Rentieren, auch wenn sie mir folgen wie ein Hund», so Luginbühl. Dass die junge Frau eine besonders enge Bindung zu ihren Schützlingen hat, die sie auch mal zum Schlitteln oder zum Baden mitnimmt, wird rasch ersichtlich. Dazu kommt ein grosses Wissen. Die Veterinärmedizinerin hat ihr Studium mit einer Masterarbeit zur Rentierhaltung in der Schweiz abgeschlossen. «Snow ist mein absoluter Liebling, er lebt auch am längsten bei uns.» Mit seinen 13 Jahren gehört der hellgraue Wallach mit dem weiss-gesprenkelten Kopf schon zu den Senioren. Ein Rentier könne 20 Jahre alt werden, 15 sei aber bereits ein stolzes Alter.

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Instagram-Fotos und Weihnachtsmärkte

Dass die Rentiere hoch über dem Thunersee so alt werden, zeigt, wie gut sich die Fütterungsmethoden eingependelt und sich die Tiere entwickelt haben.Natürlich finden die Tiere nicht genau das Futterangebot wie in ihrer nordischen Heimat und die klimatischen Bedingungen sind nicht dieselben. «Dank der hohen und exponierten Lage und der Bise, die oft um die Berghänge streicht, wird es hier nicht so heiss», sagt Anton Luginbühl. Zudem können die Rentiere jederzeit in den schattigen Stall. Im Winter liegt hier jeweils reichlich Schnee, genau wie in Schweden, wo die drei Rentiere ihre Vorfahren haben. Insgesamt werden, je nach Lehrbuch, etwa 20 Unterarten gezählt, beispielsweise das Nordamerikanische Karibu, das Spitzbergen-Ren, das Eurasische Tundra-Ren oder das Wald-Ren.

Der alleinstehende Hof mit seinen über die Hügelflanken abfallenden Wiesen, dem tollen Ausblick auf die umliegenden Berge und auf den Thunersee bietet nicht nur für die Haltung, sondern auch für die Arbeit mit den Rentieren optimale Bedingungen. «Letztes Jahr waren wir an neun Wochenenden in Folge mit Fotoshootings ausgebucht», so Arnold Luginbühl. Diese finden vor allem in den Wintermonaten statt – aber nicht mehr ausschliesslich. Anfangs war es so, dass die Rentiere ihr Futtergeld fürs ganze Jahr in den Wochen vor Weihnachten einbringen mussten. Dann herrscht für die drei Rentier-Wallache auch heute noch Hochbetrieb, mit Besuchen an Weihnachtsmärkten, Spaziergängen und Weihnachtsshootings. Mittlerweile begleitet Carmen Luginbühl auch in den wärmeren Monaten Gruppen auf Rentier-Trekkings und Fotografen und Instagram-Influencerinnen reisen aus der gesamten Schweiz für Fotoprojekte an. «Reich wird man mit Rentieren nicht, aber es sind tolle, vielseitige Tiere.»Darüber sind sich Vater und Tochter einig.