Am nördlichen Ende des Gotthards, umgeben von steilen Bergen, liegt nahe Erstfeld (UR) der Bielenhof. Hier lässt sich Wisi Zgraggen vom trüben Wetter die Laune nicht verderben. Der Landwirt hat Glück im Stall: Heute kam das 45. Kalb dieser Saison zur Welt. Es wiegt gerade einmal 20 Kilogramm, typisch für ein frisch geborenes Dexterrind. Die Rasse ist mit einer Widerristhöhe von rund einem Meter bis einem Meter zehn die kleinste Mutterkuhrasse der Schweiz.

Während im Stall das Radio läuft, bekommt das Kälbchen seine Ohrmarke sowie eine Spritze mit Selen. «Von dem Element hat es in der Umwelt zu wenig, dabei ist es wichtig für die Muskulatur und das Immunsystem», erklärt Zgraggen. Der Urner kennt seine Kühe gut und sie kennen ihn. Umso wichtiger ist es Zgraggen, dass das Futter für seine Rinder direkt auf dem Hof gewachsen ist. «So muss ich nur noch Mineralstoffe und Salz zukaufen. Und im Sommer sind die Tiere sowieso auf der Alp.»

Behände schwingt sich Wisi Zgraggen über eine der Metallabsperrungen im Stall. Die Geschicklichkeit mag erstaunen, denn nebst seiner offenen Art fällt bei Zgraggen vor allem eins auf: Der Landwirt hat keine Arme. Er verlor sie im Alter von 25 Jahren als er bei einem Unfall auf dem elterlichen Hof bei der Siloernte in die Rundballenpresse geriet. Noch auf der Unfallstelle versicherte er seinem Vater, weiterhin bauern zu wollen. Das Versprechen hat er bis heute eingehalten. Und sein Traumziel verwirklicht.

[IMG 2]

Flexibel bleiben und Lösungen suchen

Mittlerweile hat Wisi Zgraggen den elterlichen Betrieb übernommen und der älteste Sohn Thomas tritt bereits in die Fussstapfen seines Vaters. Etwas anderes zu sein als Landwirt, kam für Wisi Zgraggen auch nach dem Unfall nie in Frage. «Ich bin nicht zum Aufgeben geboren worden. Bauern ist nicht nur mein Beruf, sondern meine Berufung», so Zgraggen. «Darum musste ich eine Lösung suchen. Und wir Urner sind halt auch Stieregrinde.»[IMG 3]

So liess Zgraggen sowohl sein Auto als auch die landwirtschaftlichen Maschinen des Betriebs so umbauen, dass er sie mit den Füssen und dem linken Armstumpf steuern kann. Seine grosse Leidenschaft sind jedoch die Dexterrinder, über die er auch viel lieber spricht als über sich selbst. Die ohnehin schon sehr neugierigen Kühe sind bei Zgraggen ausserordentlich zutraulich. «Keine Arme zu haben, führt dazu, dass man mehr mit der Körpersprache arbeitet», erzählt Zgraggen. Hektische Bewegungen oder gar Herumfuchteln mögen Kühe nicht. Auch dem Drang, sie am Kopf kraulen zu wollen, sollte man nicht nachkommen. «Der Kopf ist bei den Kühen die Kampfzone. Lieber haben sie es, am hinteren Rücken gekrault zu werden», erklärt Zgraggen.

Der Chef von Wisi Zgraggens Herde ist der sieben Jahre alte Stier Exkalibur. Der 700 Kilogramm schwere Muskelberg ist der Vater der meisten Kälber und beeindruckt nicht nur durch seine Masse, sondern auch mit einer stattlichen Lockenmähne. Heute soll Exkalibur gewaschen werden. Thomas Zgraggen führt den Stier dafür auf den Vorplatz des Stalls und bindet ihn dort fest. Kurzerhand schwingt sich Wisi Zgraggen auf den Rücken des Kolosses. «Exkalibur ist sehr gutmütig. Und er liebt es, gewaschen zu werden, inklusive Einseifen.» Der Wasserstrahl aus dem Hochdruckreiniger ist dabei gleichzeitig eine wohltuende Massage. Denn der Staub aus dem Stall juckt im kurzen Fell. Fast macht es den Anschein, als würde der Stier durch seine Körpersprache darauf aufmerksam machen, wo noch eine Stelle übersehen wurde.

Bald darf Exkalibur wieder zu seinen Kühen und diese decken. Während der kurzen, aber intensiven Phase der Paarungszeit im Januar verliert der Stier bis zu 50 Kilogramm an Gewicht. Er ist dann schlicht mit anderem beschäftigt als mit Fressen. «Wir achten darauf, dass die Kühe so trächtig werden, dass sie die Kälber erst dann werfen, wenn sie im Herbst von der Alp zurück sind», erklärt Wisi Zgraggen. Denn auf der Bergalp Susten besteht immer die Chance, dass eins der kleinen Kälbchen einem hungrigen Wolf zum Opfer fällt. Im Stall im Tal bei Erstfeld sind sie vor Raubtieren sicher.

Ein ganzes Jahr verbringen die Kälber bei ihren Müttern, bevor sie geschlachtet werden. Alle Jungtiere werden zusammen mit den Daten der Elterntiere in einem Onlineportal von «Mutterkuh Schweiz» eingetragen. Für diese Computerarbeit führt Wisi Zgraggen die Maus mit dem Fuss und nutzt entweder ein Sprachprogramm oder einen Holzstab, den er mit dem Mund führt, zur Texteingabe. Zgraggen weiss sich zu helfen. Und trotzdem: «Sag einem Armlosen nicht, dass er Bauer werden soll», schmunzelt der Urner.

[IMG 4]

Fürsorgliche Unterstützung

Wisi Zgraggen kümmert sich primär um die Kühe. Eine Kuh, die kürzlich ein Kalb geboren hatte, ist zurzeit sein Sorgenkind. Sie schwankt und kann sich nur schwer auf den Beinen haben. Zgraggen ist besorgt, denn die Kuh hat eindeutig Milchfieber, ein Kalziummangel im Blut. «Rund um die Geburt muss man die Tiere am meisten unterstützen», so Zgraggen. Mithilfe seines Sohns verabreicht er der Kuh einen kalziumhaltigen Sud. «Damit sollte es ihr bald besser gehen», hofft der Landwirt und wirft einen kundigen Blick durch den Stall. «Ich muss jetzt los», lächelt der vierfache Vater und nickt in die Richtung, wo gerade eine weitere Kuh ein Kälbchen zur Welt gebracht hat. «Ich will einer frischgebackenen Mutter gratulieren.»