Es herrscht Hochbetrieb im Kräutergarten. Zwei junge, koreanische Ordensfrauen knien vor dem langen Beet mit den kleinen Stiefmütterchen und zupfen jede einzelne der violett-weiss-gelben Blüten von Hand ab. Sie unterstützen Schwester Theresita Blunschi während der Hauptsaison bei der Blütenernte im Garten. Seit fast 40 Jahren hütet die Schwester das Kräuterwissen des Klosters Heiligkreuz in Cham und hat sich mit einer heilenden Stiefmütterchen-Salbe einen Namen in der ganzen Schweiz gemacht. Sie sitzt im Schatten der Bäume etwas abseits des Gartens und erzählt. 

Im Sommer sei der Garten sehr zeitintensiv. Die Schwestern müssen die reifen Blüten der Heilkräuter ernten, trocknen und anschliessend zu Salben, Ölauszügen oder zu Sirup und Teemischungen verarbeiten und im Klosterladen verkaufen. Beim Besuch Ende Juni steht der Garten in voller Blüte: Lavendel, Ringelblumen, Malven und die kleinen Stiefmütterchen leuchten in voller Kraft. Schwester Theresita steht auf und schreitet zum Garten, um ihn näher zu zeigen. Sie zupft eine Knospe von einem grünen Kraut, zerreibt es zwischen den Fingern und hält sie sich an die Nase. «Der Sommermajoran hilft bei Heuschnupfen», sagt die 75-Jährige. Tatsächlich öffnet der frische Geruch die Atemwege wie ein starker Minzkaugummi. 

Weiter vorne reihen sich verschiedene Sorten Salbei aneinander, die allesamt fruchtig riechen. Schwester Theresita aber zeigt an ihnen vorbei zu einem unscheinbaren grünen Kraut, das in die Höhe wächst: das Moxakraut. Man könne es trocknen und räuchern. Die chinesische Medizin verwende es, wenn das Baby vor der Geburt falsch herum im Becken liege, erklärt Schwester Theresita. «Dass es funktioniert, haben mir schon verschiedene Frauen unabhängig voneinander bestätigt.»

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Vom Gemüsegarten zum Heilkräutergarten

Das Wissen von Schwester Theresita ist begehrt. Zu ihr kommen Apotheker, Pflegerinnen, Bäuerinnen und Naturheilpraktiker aus der ganzen Schweiz. Über 80 Heilpflanzen pflegt sie in ihrem Garten und weiss, wofür jede einzelne verwendet wird und wie man sie verarbeiten muss. Ihre Stiefmütterchen-Salbe beispielsweise schaffte es sogar in die Sendung «SRF Puls» zum Thema Naturheilkunde. Die Salbe aus Stiefmütterchen und Ringelblume hilft gegen Hautprobleme aller Art, sogar gegen Psoriasis, und ist daher beliebt in Pflegeheimen und anderen Institutionen, wie Schwester Theresita weitererzählt. Dabei war es eher Zufall, dass sie überhaupt in diese Rolle geschlüpft ist. 

Als sie im Jahr 1969 mit 21 Jahren ins Kloster eintrat, wurde hier vor allem Gemüse angebaut. «Das war langweilig, Gemüse gibt es überall», sagt Schwester Theresita und lacht. Ihr gefallen die bunten Blüten der Heilkräuter besser. Erst auf Initiative von Ellen Breindl, einer Kräuterspezialistin und Apothekerin aus Konstanz, entstand in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre im Kloster Heiligkreuz ein Kräutergarten. Breindl suchte in der Schweiz nämlich nach einem Benediktinerinnenkloster, wo sie einen Kräutergarten nach dem Vorbild von Hildegard von Bingen, einer Naturheilkundlerin aus dem Mittelalter, anlegen konnte.

Schwester Theresita unterstützte die Kräuterspezialistin bei ihrem Vorhaben. Zumal der aufgeweckten jungen Frau die Arbeit drinnen im Kloster langweilig wurde. «Ich konnte nicht mehr drinnen sitzen», sagt sie. «Ich wollte raus.» Und nach vier Jahren konnte sie den Garten von Breindl übernehmen. «Ich kann mich noch erinnern, dass ich vor 36 Jahren die erste Praktikantin im Garten betreut habe», sagt Schwester Theresita. Sie habe vor kurzem einen Brief von ihr gefunden. Sie selbst besuchte lediglich einen Phytotherapiekurs und brachte sich das restliche Wissen im Eigenstudium oder im Austausch mit anderen bekannten Kräuterkennern wie Bruno Vonarburg bei. Das ist aber recht unüblich für Klostergärten, deren Heilkräuterwissen Tradition hat und seit dem Mittelalter weitergegeben wird.  

Heilkräutertradition in Klöstern

Klostergärten haben ihren Ursprung in der Pflicht der Mönche, sich um die Kranken zu kümmern. Als nach diversen Kriegen im Mittelalter das Heilwissen jedoch mehrheitlich zerstört wurde, begannen sich die Mönche in die Schriften griechischer und römischer Ärzte einzulesen und interessierten sich mehr und mehr auch für das Wissen aus dem Orient. Mit der Zeit verfassten die Mönche eigene Schriften und zeichneten im 9. Jahrhundert schliesslich den Plan eines idealen Klosters, heute bekannt als «St. Galler Klosterplan»: Gemäss Plan gehören zur medizinischen Infrastruktur eines Klosters ein Arzthaus, ein Spital und ein Kräutergarten. In einer detaillierten Skizze hielten die Mönche zudem fest, in welche Beete welche Kräuter gepflanzt werden müssen. Essenziell waren etwa Salbei, Krauseminze, Raute, Kümmel, Schwertlilie, Liebstöckel, Poleiminze, Fenchel, Stangenbohne, Pfefferkraut, Frauenminze, Griechisch Heu, Rosmarin, Minze, Lilie und Rosen. 

Die klösterlichen Kräutergärten spielten zu jener Zeit als Lieferanten essenzieller Pflanzen und Inhaltsstoffe eine wichtige Rolle. Erst mit dem Aufkommen der modernen Schulmedizin verlor die Klostermedizin im Spätmittelalter an Bedeutung. 

Lebendige Tradition in der Zentralschweiz

In elf Zentralschweizer Frauenklöstern unterhalten die Schwestern weiterhin einen Klostergarten und haben es damit als immaterielles Kulturerbe auf die Liste der «Lebendigen Traditionen» des Bundesamts für Kultur geschafft. Zu denen gehört auch das Kloster Heiligkreuz in Cham. Obwohl oder vielleicht eher weil Schwester Theresita nicht auf ein lange Wissensüberlieferung zurückgreifen konnte, hält sie ihre Beobachtungen und Rezepte zu jedem der Heilkräuter in ihrem Garten schriftlich fest. «Aber ein Buch veröffentlichen will ich nicht auch noch», sagt sie und lacht. «Sonst wissen die Leute ja nicht mehr, welches der vielen Fachbücher sie kaufen sollen.»

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Im Gegensatz zu anderen Klöstern in der Zentralschweiz trägt sie ihr Wissen gerne nach aussen und gibt es eins zu eins an Interessierte weiter, beispielsweise an öffentlichen Führungen. Auch den Schwestern aus dem Missionskloster in Südkorea, die jeweils für einige Jahre nach Cham kommen, um im Klosterhaushalt mitzuhelfen, erklärt sie ihr Handwerk geduldig. Bis vor einigen Jahren betreute Schwester Theresita zudem Absolventen verschiedener Fachschulen über Naturheilkunde als Praktikanten im Garten. «Aber irgendwann ist es mir zu anstrengend geworden.»  

Mit ihren 75 Jahren schmerzen ihr allmählich die Knie. Sie sei in den vergangenen Jahren auch einige Male gestürzt. Darum übernehmen jeweils zwei Gärtner die schweren Aufgaben im Garten. Aber wer nach ihr den Heilkräutergarten weiterführt, das ist noch ungewiss. «Für mich war es damals wie eine Berufung. Ich spürte es einfach, das kann ich gar nicht erklären», sagt sie. Nachwuchs im Kloster sei jedoch rar geworden, ein Problem, das alle Klöster in der Schweiz betrifft. «Ich mache weiter, solange meine Knie noch halten», sagt Schwester Theresita und verabschiedet sich mit den koreanischen Schwestern in die Zvieri-Pause.