Herr Wohlleben, was unterscheidet den Menschen vom Tier?

Im Alltag interessanterweise fast nichts. In den Fähigkeiten jedoch vieles, denn Vögel schreiben keine Bücher und Hunde fliegen nicht zum Mond. Im alltäglichen Verhalten und im Umgang miteinander hinsichtlich Bevölkerungsentwicklung und Revierverhalten gibt es jedoch keine signifikanten Unterschiede.

Wie tierisch ist der Mensch?

Der Mensch ist total tierisch. Ein einfaches Beispiel: Eine hohe Population bei Tieren wie Kaninchen, Luchsen, Rehe oder Vögeln erzeugt Stress und es sinkt die Geburtenrate. Bei uns Menschen ist zu beobachten, dass die Spermaqualität der Männer laufend und mit zunehmender Geschwindigkeit nachlässt. Wissenschaftler wissen nicht, woran das liegt. Doch die menschliche Komfortzone beziehungsweise Distanzzone liegt bei ein bis vier Metern. In Städten wird diese ständig unterschritten und das macht Stress. Von der Populations-dynamik sitzen wir also mit Tieren in einem Boot.

Ist der Homo sapiens dem Tier überlegen?

Wir sind momentan Tieren überlegen in Bezug auf die Nutzung des Lebensraums. Wenn wir etwas haben wollen, dann nehmen wir es uns einfach. Aber auch andere Lebewesen können egoistisch sein und die Ellen-bogen ausfahren. Bäume in der Nacheiszeit haben grosse Pflanzenfresser ausgerottet, indem sie einfach das Licht am Boden ausgeknipst haben und dadurch Gräser und Kräuter zum Verschwinden gebracht haben. Das ist nicht zufällig passiert, sondern deshalb, weil Bäume keine grossen Pflanzenfresser mögen. So sind in unseren Breiten Elefant und Nashorn ausgestorben. Sprich, auch andere Lebewesen können egoistisch sein und zur Ausrottung anderer Arten beitragen. Der Unterschied ist jedoch, dass Bäume ihr Ökosystem für sich immer besser machen. Wälder werden immer leistungsfähiger und immer besser für die Bäume. Wir Menschen machen unser Ökosystem, das wir benützen hingegen immer schlechter. Vor allem für uns selbst und unsere Spezies! In diesem Fall verhalten wir uns bedeutend schlechter als unsere Mitbewerberinnen.

Wir haben aber Technologien entwickelt, die keine andere Art auf der Erde vorweisen kann . . .

Das, was der Mensch an Technik entwickelt hat, ist wirklich etwas Besonderes. Das können andere Arten nicht. Doch auf lange Sicht gesehen ist es entscheidend, wie wir uns in unsere Lebensräume einpassen, und da sind andere Arten bedeutend besser als der Mensch. Wir sind so erfinderisch und so gierig, weil wir über 300 000 Jahre hinweg immer wieder fast ausgestorben sind. Durch Erfindung des Ackerbaus und weitere Techniken können wir nun so viele Nahrungsmittel produzieren, dass wir aus der Kurve fliegen.

Wie kann es sein, dass das vermeintlich höchstentwickelte Wesen auf diesem Planeten seinen Lebensraum und seine Lebensgrundlage selbst so massiv zerstört? Sind wir zu egoistisch?

Egoismus und Gier ist grundsätzlich erstmal nichts Schlechtes. Nur wenn das so weit führt, dass man nicht nur seine Mitmenschen, sondern auch seine ganze Umwelt schwer beeinträchtigt, dann ist das zu viel. Und dieses Zuviel erleben wir gerade. Egoismus ist überlebensnotwendig, aber der Mensch zieht alles um sich herum in Mitleidenschaft und damit haben wir es einfach masslos übertrieben.

Wann fing das Ganze an?

Der Knackpunkt war die Erfindung des Ackerbaus. Mit diesem konnte der Mensch auf kleinster Fläche enorm viele Nahrungsmittel erzeugen. Dadurch kam es zu einem sprunghaften Anstieg der Erdbevölkerung. Und jeder Fortschritt in der Landwirtschaft brachte erneut einen Anstieg der Bevölkerung, wie später die Einführung der Dreifelderwirtschaft oder des Kunstdüngers. Jetzt müssen wir es einfach hinbekommen, unsere Instinkte zu zügeln beziehungsweise sie in eine positive Richtung zu lenken. Wir brauchen dringend schnell greifende Lösungen. Bisher haben wir es als Erdbevölkerung ja noch nicht mal geschafft, den CO2-Ausstoss stagnieren zu lassen, trotz aller erneuerbaren Energien und Einrichtungen von Schutzgebieten. Unser Rohstoffverbrauch und der CO 2-Ausstoss nehmen immer noch zu.

Hat der Mensch sein Schicksal noch selbst in der Hand und kann er das Ruder noch herumreissen?

Ich denke schon, doch wissenschaftlich ist es sehr umstritten. Selbst der freie Wille wird wissenschaftlich kontrovers diskutiert. Aktuell bauen alle auf vernünftigen Lösungen auf. Die Wissenschaft erklärt und der menschliche Verstand soll begreifen und danach handeln. Die Techniken liegen vor. Wir könnten also ohne grosse Probleme die Wende einläuten. Machen wir aber nicht. Warum? Weil unsere Instinkte einfach stärker sind. Und diese kann man nicht einfach wegwischen. Instinkte setzten sich sehr oft gegen den Verstand durch, und das jeden Tag bei sehr vielen Menschen. Bisher hat unser Verstand immer unsere Instinkte bedient. Das will heissen, unsere Instinkte sagen: «Ich will mehr», und unser Verstand schaut, wie er das bedienen kann. Also sollten wir den Spiess einfach mal umdrehen. Wir müssen die Instinkte für den Verstand nutzen.

Wie genau soll das aussehen?

Wenn wir Klimaschutz betreiben wollen, müssen wir Massnahmen ersinnen, die Spass machen. Das heisst, wir müssen etwas erschaffen, von dem der Mensch in seiner Gier nach Glücksgefühlen immer mehr haben möchte.

Liegt es nicht vor allem daran, dass keiner von uns auf irgendwas verzichten will?

Ja, denn der Mensch hat in seiner Programmierung aus der Steinzeit immer noch die Maxime gespeichert: «Nimm alles, was du kriegen kannst, sonst bist du morgen vielleicht tot.» Und diese Gier bekommen wir einfach nicht gezügelt. Der Mensch strebt jedoch auch nach Glückserlebnissen und diese kann man triggern. In den Niederlanden läuft der Zähler von Privathaushalten für Solarenergie rückwärts, was heisst, dass man mit jeder Sonnenminute sieht, wie die Stromrechnung kleiner wird. Das macht glücklich und spricht nicht einfach nur den Verstand an. Ein anderes Beispiel sind Müllbehälter, bei denen man automatisch an einem Glückspiel teilnimmt. Diese werden weitaus häufiger benutzt als andere. Das sind nur zwei Beispiele, wie man umweltgerechtes Verhalten so belohnt, dass man es instinktiv macht.

Wäre es also besser, mehr positive Gefühle auszulösen, statt die ganze Zeit durch ständige Katastrophenmeldungen Weltuntergangsstimmung zu verbreiten?

Wir brauchen beides. Die negativen Meldungen machen Angst und adressieren unsere Instinkte. Die Menschen haben Angst, dass es auf der Erde so heiss wird, dass wir hier eines Tages nicht mehr leben können. Es entsteht die Angst vor dem Ende, und diese brauchen wir, denn sie treibt uns an. Davon abgesehen entspricht dies ja auch den Tatsachen. Was wir jedoch genauso brauchen, sind «Glücklichmacher». Sachen, die uns Angst machen, verdrängen wir nämlich sehr gerne. Von Dingen, die uns glücklich machen, können wir jedoch nie zu viel haben. Glück macht weder krank noch depressiv, sondern fördert im Gegenteil sogar die Gesundheit. Glück hat nur positive Aspekte. Und an diesem Angelpunkt müssen wir ansetzen. Momentan läuft alles über Verbote, und das funktioniert nicht. Wir müssen viel stärker auf das Glück setzen.

Also ist der Planet Erde noch zu retten?

Die Erde wird sich auch noch ohne uns weiterdrehen. Auch nach dem Zusammenbruch der menschlichen Zivilisation, der irgendwann kommen wird. Die Frage ist nur, wann dieser kommen wird. In 50 Jahren, in tausend Jahren oder 500 000 Jahren? Um diesen Zeitpunkt möglichst weit nach hinten zu verlagern, müssen wir aber die Kurve kriegen und neue Methoden einführen.

Der letzte Satz Ihres Buches lautet: «Lassen Sie uns alle ein bisschen Buche werden!». Was bedeutet dieser Satz?

Wir dürfen ruhig egoistisch sein und bleiben. Wir dürfen auch gierig sein und bleiben, aber nur, wenn wir damit endlich die Dinge in die richtige Richtung lenken wie bei den Bäumen. Die, wie wir es eben bereits besprochen haben, ja sogar grosse Pflanzenfresser ausgerottet haben, aber gleichzeitig ihr Ökosystem in Benutzung immer besser machen. Besser für sich und ihre Nachfahren. Und wenn der Mensch es schafft, sein Ökosystem und das seiner Nachfahren zu erhalten und sogar besser zu machen, dann wären wir auf der sicheren Seite.

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Zur PersonPeter Wohlleben studierte Forstwirtschaft und war über zwanzig Jahre lang Beamter der Landesforstverwaltung. Heute arbeitet und lehrt er in der von ihm gegründeten Waldakademie in der Eifel (Deutschland) und setzt sich weltweit für die Rückkehr der Urwälder ein. Zudem ist er Autor verschiedener Bestseller wie «Das geheime Leben der Bäume», «Das Seelenleben der Tiere» oder «Das geheime Band zwischen Mensch und Natur». In seinem neuen Buch «Unser wildes Erbe» geht er der Frage nach, ob der Mensch eine Tierart wie jede andere auch ist oder ob es ihm gelingt, mit Hilfe des Verstandes seine Zukunft anders zu gestalten, als jede andere Tierart es tun würde.

«Unser wildes Erbe», Peter Wohlleben, Ludwig-Verlag bei Heyne, 256 Seiten