Wer noch nie einen mächtigen Gebirgsgletscher aus der Nähe gesehen hat, dies aber unbedingt einmal tun möchte, sollte nicht mehr lange warten. Die weissen Riesen schrumpfen nämlich unentwegt und vieles deutet darauf hin, dass sie noch in diesem Jahrhundert zu einem grossen Teil verschwinden werden. «Aufgrund der Klimaerwärmung verlieren die Schweizer Gletscher seit der Jahrtausendwende jährlich rund zwei bis drei Prozent ihres Volumens», sagt Matthias Huss. Der Glaziologe doziert an der Universität Freiburg und der ETH Zürich und ist Leiter des schweizerischen Gletschermessnetzes. Bis zur Mitte des Jahrhunderts, so prognostiziert er, könnten bereits ein Drittel bis die Hälfte der heutigen Gletscherflächen weg sein.

Gegen Ende der letzten Eiszeit, vor 20 000 bis 25 000 Jahren, lagen grosse Teile des Mittellandes noch unter einer mehrere Hundert Meter dicken Eisschicht begraben. Danach zogen sich die Gletscher zurück, bis sie ähnlich gross oder gar kleiner waren als heute. «Wenn das Klima damals nicht milder gewesen wäre, hätte es Hannibal im dritten Jahrhundert vor Christus wohl kaum geschafft, mit seinen afrikanischen Elefanten die Alpen nach Italien zu überqueren», sagt Huss. Die Schmelze verstärkte sich während der mittelalterlichen Warmzeit zwischen 950 und 1250 nach Christus.

Der Rhonegletscher am 28. Juni 2007 und am 23. Juni 2017: Der Vergleich zeigt, wie schnell der Rhonegletscher in den letzten Jahren an Länge und Masse verloren hat. Bilder: Simon Oberli/www.GletscherVergleiche.ch

Weitere interaktive Vorher-Nachher-Vergleiche von Schweizer Gletschern auf www.GletscherVergleiche.ch.

[EXT 1]

Die CO2-Emissionen sind schuld
Daraufhin folgte die sogenannte Kleine Eiszeit. Sie liess die Gletscher bis Mitte des 19. Jahrhunderts erneut vorrücken. Zum Teil bis weit in die Täler hinunter. Ab da kam der Rückzug. Laut dem Schweizer Gletschermessnetz sind von den damals gut 1700 Quadratkilometern Gletscherfläche heute noch weniger als 900 übrig, das Volumen hat sich mehr als halbiert. Aktuell zählt die Schweiz rund 1400 Gletscher, Mitte der Siebziger waren es noch über 2000.

«Dass Gletscher aufgrund von Klimaveränderungen schrumpfen, wachsen, wieder schrumpfen und wieder wachsen, ist an sich nichts Neues», sagt Huss. Das habe es schon immer gegeben. Beeinflusst durch natürliche Faktoren wie die Strahlungsintensität der Sonne, die Verschiebungen tektonischer Platten, Vulkanausbrüche sowie Treibhausgase wie Wasserdampf, Methan und Kohlendioxid (CO2). Daher betonen Klimaskeptiker auch immer wieder, die globale Erwärmung und der damit einhergehende Gletscherschwund entsprächen dem Lauf der Natur. 

[EXT 2]

Forscher Huss hält dagegen: «Was üblicherweise über einen Zeitraum von mehreren Tausend Jahren abläuft, passiert derzeit in einem extrem hohen Tempo und ist eindeutig auf die massiven CO2-Emissionen durch den Menschen zurückzuführen.» Zwar könnten sich zumindest kleinere Gletscher, die sich im steilen Gebirge befinden, relativ schnell an veränderte klimatische Verhältnisse anpassen, weil sie flexibler seien und sich in Wärmeperioden einfach in höhere Lagen zurückziehen würden. «Grosse, dicke, lange Gletscher wie der Grosse Aletsch oder der Gorner im Wallis dagegen haben eine Reaktionszeit von einem halben Jahrhundert. Bis die merken, was los ist, haben sie schon verloren.» 

Verdursten werden wir deshalb nicht
Steigende Temperaturen sind aber nur ein Faktor, wenn es um die Gesundheit von Gletschern geht. Ein ebenso wichtiger sind die Niederschläge. «Im Idealfall nährt der Schnee im Winter den Gletscher. Je mehr es schneit, desto besser», sagt Huss. Dies schütze die Eismassen im Sommer. Was passiert, wenn das nicht der Fall ist, zeigte sich letztes Jahr. «Der Winter 2016 / 2017 war schneearm, der Sommer 2017 heiss», sagt Huss. Entsprechend schmolzen die Gletscher stärker als in anderen Jahren. Ebenfalls grössere Verluste gab es in den Rekordsommern 2003 und 2015. Laut MeteoSchweiz wurden damals lokal bis zu 50 respektive 44 Hitzetage gezählt (30 Grad und mehr). Warme Winter sind laut Huss dagegen kein Problem. «Die meisten Gletscher erstrecken sich über Höhenlagen zwischen 2000 und 4000 Metern, da ist es in der Regel immer genügend kalt.» Ein schwacher Trost. Denn die Häufigkeit extremer Hitzeereignisse und Trockenperioden wird zunehmen, die Schneefallgrenze weiter ansteigen – und die Gletscher am Ende vielleicht doch schneller dahinschmelzen als gedacht. Mit weitreichenden Folgen.

Gletscher helfen, den natürlichen Wasserkreislauf in der Waage zu halten. In kalten, niederschlagsreichen Perioden nehmen sie Wasser auf und speichern es. In heissen, trockenen Phasen, wenn Mensch und Natur darauf angewiesen sind, geben sie es wieder ab. Zum Beispiel für die Trinkwasserversorgung oder zum Bewässern von Feldern. Fehlen die Gletscher, wird es kompliziert. «Es ist nicht so, dass wir dann gleich alle verdursten müssten, Schnee und Regen kommen auch in Zukunft noch, aber vielleicht nicht zu dem Zeitpunkt, an dem Ort und in der Menge, wie wir sie benötigen würden», sagt Huss. Daher müsse die Schweiz jetzt schon umdenken, Strategien entwickeln und Lösungen erarbeiten. Zum Beispiel bei den Wasserkraftwerken. Gibt es keine Gletscher mehr, die im Sommer unsere Stauseen und Flüsse mit Schmelzwasser versorgen, wird konsequenterweise auch die Stromproduktion abnehmen.

Der Tourismus muss sich neu erfinden
Ein weiteres Problem sind die Naturgefahren, die mit den schmelzenden Gletschern einhergehen und die Bergbevölkerung bedrohen, etwa Eislawinen und Hochwasser (siehe Interview Seite 16). Auch Gletscherskigebiete werden irgendwann einmal verschwinden, einige Bahnbetreiber allenfalls zur Aufgabe gezwungen werden. Andererseits können sich Chancen auftun und neue Gebiete erschlossen werden. Vor allem für die Sommersaison. Ein Beispiel ist die 2004 erbaute und bei Wanderern beliebte Hängebrücke über den Triftsee bei Gadmen BE. Dieser ist durch das Abschmelzen der Gletscherzunge entstanden. Ganz allgemein muss sich der Alpentourismus in manchen Regionen neu erfinden, denn die hiesige Gebirgslandschaft wird eine andere sein. 

Dies hat auch Einfluss auf die Biodiversität, und zwar einen durchaus positiven. Zieht sich ein Gletscher zurück, entsteht neuer Lebensraum: eine Wüste aus Steinen und Sedimenten, eventuell ein Bergsee. «Die ersten Lebewesen dort sind Bakterien, Pilze und Algen, die vorher im Schnee und Eis des Gletschers gelebt haben», sagt Mikrobiologe Beat Frey von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL. Gefolgt von Flechten, Spinnen und Insekten. Dies geht aus Feldstudien am Dammagletscher im Kanton Uri hervor. Die Ausscheidungen dieser Lebewesen lösen mit der Zeit die Mineralien aus dem Gestein und machen sie für andere verfügbar. Nach fünf bis sieben Jahren kommen erste Pionierpflanzen, etwa der Alpen-Säuerling, ein Spezialist für Schuttböden. Stirbt eine solche Pflanze oder verliert sie Blätter, sorgt dies für zusätzliche organische Nährstoffe. Nach rund hundert Jahren liegen auf der einstigen Steinwüste eine rund zehn Zentimeter dicke Humusschicht und eine dichte Vegetation. «Die Biodiversität nimmt also stark zu», sagt Frey.

Eine Schweiz ohne Gletscher scheint demnach kein Weltuntergang zu sein. «Eine Welt ohne Gletscher hingegen schon», sagt Glaziologe Matthias Huss. Schmelzen die Polkappen, dann hat das weitreichende Konsequenzen. Die augenscheinlichste ist ein Anstieg des Meeresspiegels um mehrere Meter. Ganze Inseln und Küstengebiete würden verschwinden. Forscher sprechen von 150 bis 275 Millionen oder noch mehr Klimaflüchtlingen. «Gerade deswegen dürfen wir nicht aufgeben und müssen den Klimaschutz weiter vor­antreiben – damit wenigstens noch etwas übrig bleibt», sagt Huss.