Plötzlich schiesst etwas aus dem Schilf und ehe man sichs versieht, ist dieses Etwas auch schon wieder aus dem Sichtfeld entschwunden. «Achtung, da drüben!», ruft Stefan Heller und zeigt auf die nächste Kreatur, die jetzt zur Linken vorbeiflitzt. Der Leiter des BirdLife-Naturzentrums Neeracherried im Zürcher Unterland hält inne, lauscht und nickt: «Es ist der Teichrohrsänger.» Der rund 13 cm grosse Vogel gilt als Schilfbewohner par excellence: Mit seinen langen kräftigen Zehen kann er sich mühelos an die senkrechten Halme klammern. Ebenso gerissen: Dank des unprätentiösen braunen Gefieders verschmilzt er optisch mit seiner Entourage und entzieht sich so feindlichen Blicken.

«Der Teichrohrsänger ist der Rapper im Schilf», sagt Heller schmunzelnd. In der Tat: Sein rhythmischer, langgezogener Singsang übertönt sogar das Flugzeug, welches in diesem Moment über dem Naturschutzgebiet zur Landung in Kloten ansetzt. Die unverkennbaren Soundeinlagen machen auch die ornithologische Bestimmung einfacher: Seine «tschirr-tschirr-djäg-tschät-tschätt»-Laute heben den kleinen Singvogel insbesondere vom Sumpfrohrsänger ab, der in Grösse, Gestalt und Färbung praktisch identisch ist, Gebüsche in Wassernähe aber dem Schilf vorzieht und andere Vogelstimmen zu imitieren vermag: Sagenhafte 50 Arten hat der Sumpfrohrsänger im Repertoire.

Cleverer Architekt

Bei der Erkundungstour über den Holzsteg, vom Ausstellungsgebäude zur ersten Beobachtungshütte, wird bereits nach wenigen Minuten klar: Der Teichrohrsänger ist wesentlich einfacher zu hören als zu sehen. Der flinke Sommergast, welcher den Winter im tropischen Afrika zubringt, gilt als nicht gefährdet und auch im Neeracherried – so zumindest der akustische Eindruck – sind die geschickten Halmkletterer zahlreich. Ein Eindruck, den Stefan Heller bestätigt: «Der Teichrohrsänger hat hier ein paar Dutzend Reviere, im letzten Jahr haben wir 41 Brutpaare gezählt.» Was den Ornithologen an diesem unscheinbaren Vogel auch fasziniert, ist sein weitsichtiges Konstruktionstalent.

Mitte oder Ende April, wenn er sich nach einem Flug von über 6000 Kilometern wieder in unseren Breitengraden niederlässt, hat die Familienplanung oberste Priorität. Er klebt nahe am Wasser im dichten Röhricht feine Gräser an mehrere Schilfhalme, flicht einen Kranz und hängt in einem aufwändigen Verfahren einen tiefen Napf daran. Und siehe da: In wenigen Wochen schnellt das Schilf in die Höhe und mit ihm das Nest, welches dann mit einem Abstand von mehreren Dutzend Zentimetern über dem Wasser thront. Ein optimaler Ort für die Aufzucht der Jungmannschaft, welcher den Eltern zwar tägliche Akrobatik abverlangt, aber maximale Sicherheit garantiert.

Nutzung versus Naturschutz

Mit 105 Hektaren Fläche ist das Neeracherried eines der letzten grossen Flachmoore der Schweiz und von nationaler Bedeutung. Das Gebiet hat eine bewegteGeschichte: Vom 18. bis Mitte 20. Jahrhundert wurden grosse Teile des Rieds trockengelegt, um Ackerfläche zu gewinnen. Erst in den 1970er Jahren fand allmählich ein Umdenken zugunsten des Naturschutzes statt:Vogelschutzorganisationen setzten sich für die Schaffung von Wasserflächen in der ökologisch bedeutsamen Sumpflandschaft ein.

Doch schon bald offenbarte sich das nächste Problem: Weil Naturinteressierte das Neeracherried auf eigene Faust erkundeten, wurden die Tiere immer wieder empfindlich gestört. Deshalb hat BirdLife im Jahr 1999 ein Naturzentrum eröffnet, das mit seinen Stegen, zwei Beobachtungshütten und interaktiven Ausstellungen im Hauptgebäude längst zu einem Publikumsmagneten geworden ist; an Spitzentagen sind bis zu 200 Personen vor Ort.

Beim Bau habe man sich von englischen Praktiken inspirieren lassen, wo Birdwatching eine lange Tradition hat, so Heller. 26 Jahre nach der Eröffnung gibt es keine Zweifel: Das «Neeri» ist ein ökologisches Juwel inmitten einer verkehrsreichen, vielfach genutzten Landschaft. Dass die Vogelbeobachtung heute im kühlen Schatten sitzend und doch ganz nahe bei den Vögeln stattfinden kann, ist nicht nur für Besuchende komfortabel, sondern auch ein Segen für Tiere und Pflanzen, werden doch die Riedwiesen dadurch kaum nochbetreten. [IMG 3-5]

Schnell und hoch

Ebenso zahlreich wie die Besucherinnen und Besucher, die von März bis Oktober von hier mit Feldstechern und Fernrohren Vögel beobachten und sich mit dem Leben in und rund ums Schilf vertraut machen, ist das üppige Grün rund um den Holzsteg. «An sonnigen Tagen können wir dem Schilf praktisch beim Wachsen zuschauen», sagt Stefan Heller. Mit einer Wuchshöhe von vier Metern und einem täglichen Plus von zehn Zentimetern – das haben stichprobenartige Messungen vor Ort ergeben – wird es seinem Ruf als grösstes und am schnellsten wachsendes Gras vollends gerecht. Für die Zentrumscrew bedeutet dies: jäten und schneiden. Jeden Tag aufs Neue. Einerseits, um den Besucherweg über den Holzsteg freizuhalten, andererseits aber auch, damit seltene Pflanzen wie Orchideen eine Überlebenschance haben. Denn das Schilf mit seinem wenig zimperlichen Wuchs raubt anderen Pflanzen das Licht und ist ein Meister im Verdrängen.

Das BirdLife-Naturzentrum hat noch andere Mitarbeiter mit ähnlicher Mission, die vom Hauptgebäude aus zu sehen sind: Die Schottischen Hochlandrinder – sie gehören BirdLife Schweiz – befreien vom Frühling bis Herbst einen Teil der Feuchtwiesen vom üppigen Schilf. Durch Tritt und Frass schaffen sie neue, vielfältigeLebensräume. Die robusten, rötlichen Tiere scheinen die eiweissreichen Sprossen zu lieben, wie ein Blick auf die kauende Herde zeigt. «Im Gegensatz zu anderen Rinderrassen sind sie überhaupt nicht wählerisch und lassen kaum etwas aus. Die Weidefläche hat sich in den letzten bald 30 Jahren zu einem wahren Magnet für seltene Tiere und Pflanzen entwickelt», freut sich Stefan Heller. Zahlreiche Insekten und Kleintiere blühen in den offenen, schilfbefreiten Stellen förmlich auf.

Ein Gast im «Neeri» schätzt die Rinder ganz besonders: der Kiebitz. «Er brütet nur in offenen Flächen und benötigt eine gute Übersicht, damit er einen Fuchs, Rotmilan oder eine Krähe im Nu erkennen kann», so Heller. Auch viele Watvögel stärken sich in diesen schilffreien Zonen, bevor sie gegen Süden weiterziehen. Ganz zu schweigen von zahlreichen seltenen Pflanzen wie dem gelb blühenden Nickenden Zweizahn, welcher auf den geweideten Stellen spriesst.

An anderer Stelle im Ried wird das Röhricht – diese Pflanzengesellschaft, die im Flachwasser- und Uferbereich wächst – gar nicht mehr oder nur einmal jährlich geschnitten. Denn auch altes Schilf, das im Laufe der Zeit zu Dickicht verkommt, ist für gewisse Arten ein Refugium mit attraktiven Innenräumen. «Diese Ecken, die man sich selbst überlässt, sind für viele Tiere und Pflanzen ideal», erklärt der Ornithologe. Hier wähnen sich Vögel nicht nur vor Füchsen und Sperbern sicher, sie finden auch ein grosses Nahrungsangebot vor. Eine Vorliebe für Dickicht haben neben dem Teichrohrsänger die Bartmeise, die Zwergdommel, der Drosselrohrsänger, der Rohrschwirl, die Rohrweihe, die Rohrdommel und der Silberreiher.

Der Schönste im ganzen Moor?

Das Vorkommen der Bartmeise – auch sie eine begnadete Halmkletterin – ist im Neeracherried eine eigentliche Sensation. «Gerade heute haben wir wieder Junge gesehen», sagt Stefan Heller mit sichtlicher Begeisterung, brütet doch dieser sehr spezialisierte Vogel in der Schweiz ausserhalb des Neuenburgersees nur sehr selten und wird auf der Roten Liste als verletzlich eingestuft. Ganz zu schweigen von seinen ästhetischen Qualitäten: Mit seinem zimtbraunen Rücken, den gemusterten Flügeln und den schwarzen Bartstreifen sieht das Männchen aus, als wäre es von Karl Lagerfeld himself designt worden. «Die auffällig schöne Bartmeise braucht eine gewisse Fläche an Schilfdickicht – in kleineren Biotopen kommt sie nicht klar», so der Zentrumsleiter.

Auch die Libellenpopulation ist im «Neeri» beachtlich: Mehr als 50 der 75 schweizweit verbreiteten Arten sind hier zugegen. Die farbenfrohen Insekten – Gebänderte Prachtlibelle, Helm-Azurjungfer, Kleine Binsenjungfer und Co. – lassen sich am Rande der Teiche, Gräben und Riedwiesen beobachten und geizen nicht mit ihren beeindruckenden Flugkünsten; sie schweben, wenden, rasen. Dann ein ruckartiger Richtungswechsel, um ihrer Beute an den Kragen zu gehen oder mit einem kühnen Rückwärtsflug einem Hindernis auszuweichen. Und auch Amphibien und Reptilien sind hier mit dem Gras-, Laub- und Wasserfrosch, Teich- und Bergmolchen, Blindschleichen und Bergeidechsen gut vertreten und im Frühling nicht zu überhören.

Brutstätte und Jagdrevier

Jetzt öffnet der ausgebildete Umweltwissenschaftler die Tür der ersten Beobachtungshütte und sucht durch den breiten Spalt mit dem Feldstecher nach Leben im Röhricht: «Es läuft immer etwas», murmelt er und hat schon den ersten Vogel im Visier: Es ist eine Zwergdommel – die kleinste europäische Reiherart. Sie wartet am Schilfsaum auf Beute und schnellt plötzlich mit ihrem spitzen orangen Schnabel in den Teich. «Ein netter Happen!», freut sich Heller für den stark gefährdeten Vogel und tippt auf eine Rotfeder, welche sich die Zwergdommel jetzt schmecken lässt. Längst ist der adrette, flinke Kerl wieder zwischen den dichten Schilfhalmen verschwunden. Es ist Hellers Lieblingsvogel, der in keinem anderen Lebensraum ausser dem Schilf zu finden ist. Der bellende Gesang und der passiv-aggressive Flug der Männchen, wenn sie sich gegenseitig hinterherfliegen, hätten etwas Faszinierendes.

Dann richtet Stefan Heller, der das Zentrum seit der Gründung leitet, den Feldstecher auf den offenen Teich. Letzterer wurde vor 50 Jahren ausgebaggert, als Vieles zugewachsen war. Ein Blässhuhn zieht zackig seine Kreise, ein Mauersegler jagt nach Insekten, eine Flussseeschwalbe steuert ihr Nest auf einer kleinen Insel an, ein Rotmilan hält von weit oben Ausschau nach Essbarem. Weiter hinten dann: Störche, Stockenten, Grau- und Silberreiher.

Schutz von unten und oben

Über 230 verschiedene Vogelarten wurden bisher im Neeracherried gesichtet. Rund 150 davon sind regelmässig zu sehen, bei ein paar Dutzend handelt es sich um Brutvogelarten. «Viele sind nur ein paar Tage hier zu Gast», weiss Stefan Heller. So fliegen im Herbst in der Abenddämmerung jeweils Hunderte von Staren ins Schilf. Auch Zugvögel aus dem hohen Norden, wie der Grünschenkel oder der Zwergstrandläufer, rasten hier. Für Rauchschwalben und Bachstelzen wiederum ist das Röhricht ein beliebter Ort zum Übernachten. Und dann wären da noch die Jungen vieler Arten, die sich – klein und verletzlich, wie sie sind – im Schilf verstecken. Hier sind sie sicher: Von unten schützt das Wasser vor dem Fuchs, von oben das Schilfdickicht vor dem Sperber.

Über die Vogelarten im Schutzgebiet wird seit Jahrzehnten genaustens Buch geführt: «Es ist eines der am besten untersuchten Gebiete», so der Ornithologe. Die Zählung der Vögel und ihrer Reviere erfolgt vor allem akustisch, was in der Nähe der stark befahrenen Kantonsstrassen oft anspruchsvoll ist. Mit der systematischen Erhebung hat Julie Schinz, eine Zürcher Primarlehrerin und Naturschutzpionierin, bereits 1927 begonnen, und ist diesem Hobby während 50 Jahren treu geblieben. Dank den fast lückenlosen ornithologischen Beobachtungen, den qualitativ guten Daten und den Brutvogelkartierungen, die seit 1975 durchgeführt wurden, können im Ried Probleme frühzeitig erkannt und Massnahmen ergriffen werden. Was sich heute insbesondere zeigt: Gewisse Arten wie der Baumpieper und der Grosse Brachvogel sind ganz verschwunden. Doch es gibt auch frohe Kunde: Zugenommen haben beispielsweise die Nachtigall-Bestände. [IMG 6-8]

Geglückte Renaturierungen

Weiter geht es Richtung Beobachtungshütte Nummer zwei. Gekreische aus dem Schilf. Eine grosse Mittelmeermöwe ist im Anflug. Eine Bedrohung für die Lachmöwen, die um ihre Brut fürchten. «Leider hat sie es bereits ein paar Mal geschafft, sich Junge zu schnappen», sagt Heller und läuft weiter. Das Schilfrohr seitlich des Stegs wiegt sich derweil im Wind. «Weil es so elastisch ist, kann es sich biegen, ohne dabei zu knicken», fährt er fort. Mehr noch: Die Blätter des Schilfrohrs sind so konstruiert, dass sie sich um ihre Basis drehen können. So bietet die im Ried mit Abstand höchste Pflanze dem Wind wenig Widerstand und richtet sich wie eine Wetterfahne immer wieder neu aus.

In der zweiten Hütte dann ist die Sicht frei auf den Kiebitz – diesen besonderen Watvogel mit seinen breiten, paddelförmigen Flügeln, dessen Bestand global bedroht ist. Das Neeracherried ist eines der wenigen Brutgebiete der Schweiz: Rund 50 Exemplare halten sich derzeit in der seichten Gewässerzone im Ried auf. Und da sind auch noch die Jungen der Lachmöwe, die etwas tapsig auf der kleinen Insel herumspazieren. Sie ist neben der Mittelmeermöwe die einzige Möwenart, die regelmässig in der Schweiz brütet. Die Kolonie im Neeracherried zählt hierzulande zu den grössten. Für Stefan Heller der lebendige Beweis dafür, dass sich die Renaturierungen und gezielte Eingriffe wie Riedschnitt und Beweidung gelohnt haben: «Mit speziellen Projekten kann man Arten wirklich helfen», ist er überzeugt.

Auch wenn an diesem Juninachmittag eitel Sonnenschein im Ried herrscht, ist die Lage nicht ganz so ungetrübt. Es braucht weitere Massnahmen, um die Überlebenschancen von spezialisierten Arten zu sichern. Wie etwa für den Purpurreiher, der nur in grossen, störungsarmen Schilfgebieten überlebt, die in Europa aber zusehends schwinden. Mit fatalen Konsequenzen: Der farbigste aller Reiher ist vom Aussterben bedroht und macht sich als Durchzügler auch in der Schweiz rar.

Hinzu kommt: Obwohl mit dem Bau des Naturzen-trums die Störungen seitens Menschen minimiert werden konnten, nimmt der Druck auf das «Neeri» zu: «Die angrenzenden Gemeinden sind am Wachsen, der Erholungs- und der Nutzungsdruck am Steigen», bilanziert Heller. Damit nicht wieder Menschen durchs Gebiet trampeln, wurde vor sieben Jahren im Osten ein vier Meter hoher Aussichtsturm angebracht, der rund um die Uhr begehbar ist und viel genutzt wird. Doch dies ist nur ein kleiner Stein im Getriebe: Es fehlt an Pufferzonen rund um das Ried und auch die zunehmende Überdüngung durch Nährstoffe aus der Luft und den umliegenden Flächen sind Probleme, die es in naher Zukunft aus dem Weg zu räumen gilt, damit dieses einmalige Gebiet nicht in die Binsen geht.
birdlife.ch/neeracherried

Fun Fact

Männchen oder Weibchen?
Die Antwort des Ornithologen Stefan Heller:

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