Artenvielfalt
Lebendige Flüsse: Renaturierungsprojekt in Stetten
Die Renaturierung von Flüssen braucht Platz und Zeit. Eigentumsverhältnisse zu klären, sind oft komplexe und langwierige Angelegenheiten. Doch es lohnt sich: Schon von kleinen Bächen, die revitalisiert werden, profitiert die Artenvielfalt.
Die Gemeinde Stetten bei Schaffhausen verfügt über ein selten gewordenes Naturjuwel: Nicht weit vom Waldrand sprudelt eine Quelle aus dem Boden. Obwohl sie früher auch zur Trinkwasserversorgung genutzt wurde, ist sie nicht gefasst. Das Wasser plätschert einfach aus einem Erdloch und wird dann zu einem Bach, der zwischen Wiesen und Äckern dahinfliesst. «Bestes Grundwasser», versichert der Stettemer Tiefbau- und Gewässerreferent Philipp Pfister. Das Wasser könnte man trinken, es ist auffallend klar. Entsprechend wirkt auch der Bach natürlich.
Nur wer genauer hinschaut, sieht, dass der Bach im natürlichen Zustand anders ausgesehen haben muss. Der Feldbrunnenbach, wie ihn die Einheimischen nennen, verläuft nach der ersten Kurve schnurgerade als «strukturarmes Gerinne mit sehr steilen Ufern», wie es im Gutachten zur Revitalisierung heisst. Was dem Feldbrunnenbach fehlt, sind «amphibische Zonen», wie Pfister es ausdrückt. Kleintiere finden kaum Deckung, in der Bachsohle wuchern dagegen Pflanzen wie Wassersellerie, Brunnenkresse, Flutender Wasserschwaden und Ästiger Igelkolben. Das üppige Grün bremst die Fliessgeschwindigkeit des Wassers und entzieht ihm bei der Zersetzung Sauerstoff. Im unteren Teil droht der Bach bei Niedrigwasser zu verschlammen und mit Schilf zuzuwachsen.
Es kreucht und fleucht am Bach
Trotz der Defizite hat der Biologe Fredy Leutert am und im Quellbach viel Leben gefunden: Neben Gebänderten Prachtlibellen und Quelljungfern, Gras- und Wasserfröschen fand er Larven von Feuersalamandern und laichende Elritzen. Mit der geplanten Revitalisierung auf einem Abschnitt von 530 Metern will die Gemeinde Stetten jetzt die Lebens- und Reproduktionsbedingungen der gefundenen Tierarten verbessern. Der Bach soll dazu flachere Ufer mit mehr Bewuchs und Deckungsmöglichkeiten bekommen. Hochstauden und ein Ufersaum mit Pflanzen wie Schwarzweide, Purpurweide, Gemeinem Schneeball und Pfaffenhütchen sollen seltenen Schmetterlingen Lebensraum und Kleintieren Unterschlupf bieten und das Bachbett beschatten. Im Sommer bleibt das Wasser so kühler und sauerstoffhaltiger und bietet den Kleinfischen ein Rückzugsgebiet. Strömungssteine im Bachbett sollen für Wirbel, Hinterwasser und kleine Pools sorgen und den Eiern der Elritzen die Möglichkeit bieten, anzudocken. Eine tiefere Rinne im unteren Bereich wird den Kleinfischen auch bei wenig Wasser noch ermöglichen, im Bach auf und ab zu schwimmen. Die Gemeinde rechnet damit, im Herbst mit den Arbeiten beginnen zu können.
Auch der untere Teil des Bachs, der dort Herblingerbach heisst und zur Stadt Schaffhausen gehört, floss über Jahrzehnte begradigt in einer Betonschale. Im Oktober 2023 begann die Stadt mit umfangreichen Erdarbeiten, um dem Bach wieder zu erlauben, in einem artenreichen Biotop vor sich hin zu plätschern. So hat der Kanton Schaffhausen insgesamt 45 Gewässerabschnitte definiert, die bis 2033 in einen natürlichen Zustand zurückversetzt werden sollen. Die Wiese und das Bachbett des Herblingerbachs unterhalb einer Wohnüberbauung sind bis in den April hinein eine grossflächige Baustelle. Für den zuvor kanalisierten Bach haben die Bagger ein neues Bett gegraben, das in der kleinen Ebene mäandriert. Die Erde auf beiden Seiten des neuen Bachverlaufs ist im April noch völlig nackt und ohne jeden Pflanzenbewuchs. Weil es viel geregnet hat, musste das Tiefbauamt die Arbeiten über Monate unterbrechen. Haufen mit grossen Steinbrocken und Holz deuten deutlich darauf hin, dass im und am Bachbett Strukturen geschaffen werden, die unterschiedliche Fliesszonen schaffen und am Ufer Kleintieren wie Fröschen und Feuersalamandern Schutz bieten. Zudem sollen auch zwei Amphibien-Laichgebiete miteinander vernetzt werden und Wiesel sowie Fledermäuse auf 6000 Quadratmetern Feucht- und Blumenwiesen ein neues Jagdrevier finden.
Dass beide Kommunen ihren Bachabschnitt fast gleichzeitig renaturieren, ist einerseits Zufall, versichert Philipp Pfister. «Andererseits gehen die beiden Projekte auf die Projektierung des Kantons zurück, der bis 2033 insgesamt 45 Gewässerabschnitte revitalisieren möchte. Eigentlich müssten überall im Land solche Revitalisierungsarbeiten im Gang sein. Das Gewässerschutzgesetz von 2011 verpflichtet die Kantone und Gemeinden, 4000 Kilometer Fliessgewässer in einen möglichst naturnahen Zustand zurückzuverwandeln.
Nach einer Erhebung des Bundesamts für Umwelt (Bafu) befinden sich 9000 von 38 000 Kilometern Fliessgewässer mit einer Sohlenbreite unter zwei Metern in einem schlechten ökologischen Zustand. Besonders in tiefen Lagen seien wegen fehlender Pufferstreifen rund 80 Prozent der Bachstrecken mit organischen Mikroverunreinigungen recht belastet, auf einer Länge von 4500 Kilometern sind Bäche eingedolt und fliessen in Beton- oder Kunststoffröhren im Untergrund durch Siedlungsgebiete oder Ackerland. Das Gewässerschutzgesetz verpflichtet die Kantone, Gewässerräume auszuscheiden und Abschnitte zu definieren, die revitalisiert werden sollen. Für die konkrete Ausführung sind die Gemeinden zuständig, die den Grossteil der Kosten vom Bund und den Kantonen finanziert bekommen.
Langwierige Renaturalisierung
Das Gewässerschutzgesetz gibt Gemeinden und Kantonen für die Revitalisierung der 4000 Kilometer Gewässer Zeit bis 2090. Nach Angaben des Bafu wurden allerdings bis 2019 gerade mal 160 Kilometer Fluss- oder Bachläufe revitalisiert. Nur schon die vorgeschriebene Ausscheidung von Gewässerräumen geht sehr schleppend voran. Die Grundbesitzer – zumeist Bauern – wollen ihr Land nicht für die Verbreiterung der kanalisierten Bäche zur Verfügung stellen. Oder sie haben Angst, bei einer Ausdolung oder Verbreiterung des Bachbetts das Land nur noch eingeschränkt nutzen zu können, weil sie bei der Ausbringung von Pestiziden Abstände zum Gewässer einhalten müssen.
Für die Gewässerschutzorganisation Aqua Viva dauert der Revitalisierungsprozess viel zu lange. Denn bei der aktuellen Geschwindigkeit, mit der Projekte umgesetzt werden, würde es noch rund 200 Jahre dauern, bis das Ziel erreicht ist. Um Gemeinden bei Revitalisierungen zu unterstützen, hat Aqua Viva das Projekt «Lebendiger Dorfbach» ins Leben gerufen. In Zusammenarbeit mit der Brauerei Feldschlösschen als Sponsor unterstützt Aqua Viva Gemeinden bei der Ausarbeitung von Revitalisierungsprojekten, fördert den Austausch von Know-how, zeigt den Kommunen Möglichkeiten zur Finanzierung auf und unterstützt sie bei der Kommunikation zur Sensibilisierung der Bevölkerung.
Ein Bächlein, dessen Revitalisierung an einer von Aqua Viva organisierten Tagung vorgestellt wurde, darf dank des beherzten Engagements zweier Privatpersonen heute wieder natürlich vor sich hin plätschern: der Hemishofer Bach in der gleichnamigen 500-Einwohner-Gemeinde bei Stein am Rhein. Das Ehepaar Marco und Linda Stoll liess sich von einem WWF-Kurs zur Planung von Bachrenaturierungen inspirieren. «Wir haben uns als Abschlussarbeit für den Kurs unseren Dorfbach vorgenommen», erzählen die beiden Naturschützer. Am allermeisten störten sie die Betonröhre unter der Strasse und eine Schwelle, die Fischen vom Rhein den Aufstieg in den Bach im Ursinn des Wortes «verwehrte». Einer ersten Skizze folgten Gespräche mit der Gemeinde. «Sie waren froh, dass sich jemand engagieren wollte, der augenscheinlich Ahnung hatte», erzählen die Stolls. Der meist grossen Angst, für die Revitalisierung viel Geld ausgeben zu müssen, begegnete das Ehepaar mit der Suche nach Geldern, die sie beim Ökofonds des Energieversorgers SH Power, dem WWF und weiteren Sponsoren fanden. Den Hemishofern war zudem wichtig, am revitalisierten Bach keine abgesperrte Naturschutzzone zu schaffen, sondern ein zugängliches und erlebbares Biotop. Um nach dem Rückbau der Schwelle für den Hemishofer Bach ein sanfteres Gefälle zu schaffen, bekam das Bett eine ausladende Kurve mit Gehölz. Heute haben nicht nur die Einheimischen, sondern auch die vorbeifahrende Gummibötlerinnen und SUP-Kapitäne am kleinen Badeplatz bei der Einmündung des Bachs in den Rhein ihre Freude. Und wenn es den Fischen zu warm wird im Rheinwasser, dann können sie getrost wieder ungehindert ins kühle Wasser des beschatteten Bächleins flüchten.
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