Die Szenerie wirkt gespenstisch: Dichter Nebel schleicht um grüne Riesenlobelien, die ihre lanzenähnlichen Blätter auf etwa eineinhalb Meter hohen Stämmen in Geröllfeldern entfalten. Dann ist da plötzlich ein Tier, ähnlich einem Hund. Mit federnden Schritten taucht es aus dem Nebel auf, verschwindet hinter den markanten Pflanzen, quert die Schotterstrasse und tappt wieder ins diesige Weiss. Abel Belay Molla ruft aufgeregt: «Der Äthiopische Wolf!» Der Ornithologe leitet eine Exkursion am frühen Morgen in den abgelegenen Bale-Bergen Äthiopiens.

Am Strassenrand wuseln Mäuse, als würden sie gleich massenweise flüchten. «Abessinische Grasratten», bemerkt Molla. Mit einem Lächeln fügt er hinzu: «So hat der Wolf immer seine Nahrung.» Dass der zierliche Äthiopische Wolf Kleinnager frisst, erinnert eher an einen Fuchs. Die Art ist sehr selten. Der Gesamtbestand von 400 Tieren beschränkt sich auf die Hochgebirge Äthiopiens. Als der Nebel aufreisst und ein kalter Wind über die rundlichen Berge bläst, huscht er noch einmal über eine von kurzem Gras bewachsene Ebene, legt sich kurz hin, bevor er am steinigen Abhang zwischen den Riesenlobelien verschwindet.

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Die Region der Bale-Berge am sogenannten Horn von Afrika ist etwas Besonderes. Zusammen mit den Bergen in Ostafrika und auf der Arabischen Halbinsel bildet sie den «Eastern Afromontane Biodiversity Hotspot», einen Gebirgszug mit einer sehr grossen Zahl an Pflanzen- und Tierarten, die nur dort vorkommen. Weltweit sind nur 34 solcher Regionen mit geballter Artenvielfalt ausgewiesen. Von etwa 7600 Pflanzenarten dieser Region sind mehr als 2350 Endemiten, also einzigartig in der Region.

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Die Gegend scheint menschenleer, bis ein röhrender Motor eines Busses voller Menschen mit der Aufschrift «Dinsho» die Ruhe stört. In Dinsho ist die Verwaltung des 2471 Quadratkilometer grossen Bale-Nationalparks angesiedelt. Höchster Punkt: der Berg Tulu Dimtu mit 4377 Meter über Meer. Während der Äthiopische Wolf durch die karge Pflanzengemeinschaft streift, wuchern um das tiefer gelegene Dinsho die Ostafrikanischen Wacholderbäume in lichten Gruppen. Sie bilden einen Bergwaldgürtel.

Als Sonnenstrahlen zwischen die von Flechten behangenen Baumriesen gleissen, lösen sich plötzlich drei Bergnyala-Böcke aus der Vegetation. Ein Bild wie aus dem Paradies! Bei dieser sehr seltenen Antilopenart bilden meist Weibchen mit ihrem Nachwuchs Familienverbände. Die meist dunkel gefärbten Männchen mit ihren gewundenen Hörnern schliessen sich zu eigenen Gruppen zusammen.

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Unterschiedliche Vegetationszonen

Am späten Nachmittag macht in der Krone eines Wacholderbaums ein Gelbkopfpapagei mit schrillen Schreien Rabatz. Blauflügelgänse schwimmen in einem Tümpel mit schwarzem Wasser in der Heideregion der Bale-Berge und ein hübscher zwerghühnchengrosser Vogel stelzt auf langen Beinen durch die sehr steinigen Hänge der Bale-Berge, eine Rougetralle. Alles Vögel, die es nur am Horn von Afrika gibt. Doch die Bergregionen Äthiopiens, die als Dach Afrikas bezeichnet werden, gehören zu nur einem von vielen Biomen des Landes.

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Auf der langen Fahrt von den Bale-Bergen in die Tiefe des afrikanischen Grabenbruchs über eine sich schlängelnde Strasse verändert sich die Vegetation bis hin zu Savannen- und Buschland. «Nördliche Hornraben!», ruft Abel Belay Molla und zeigt in die Ferne, wo schwarze grosse Vögel mit starken Beinen über ein abgeerntetes Feld schreiten. Die Savannenbewohner gehören zu den Hornvögeln, leben aber vornehmlich am Boden und suchen in der Ebene des Grabenbruchs nach Mäusen und Insekten.

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Gelblicher Dunst verschluckt die weit entfernte westliche Flanke des ostafrikanischen Grabenbruchs. Der breite Erdeinschnitt trennt die Bale-Berge vom nördlichen Hochland und zieht sich südlich über Kenia bis nach Malawi. Das geologische Wunder entstand aufgrund tektonischer Verschiebungen.

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Nördlich läuft der Graben in die Danakil-Senke in Richtung des Roten Meeres. Sie liegt gar tiefer als der Meeresspiegel und wurde durch über drei Millionen Jahre alte Fossilfunde bekannt, die auf einen Frühmenschen hinweisen. Bis in die heisse, unwirtliche Gegend der Danakil-Senke reist Abel Belay Molla mit seiner Gruppe nicht.

Er streift lieber durch den weiter südlich der Hitzeküche liegenden Awash-Nationalpark. Dort sprudelt über eine Felskante tosend braunes Wasser des Awash-Flusses in ein Bassin. Darin schwimmen Baumstämme, nein, es sind Krokodile! Eine Frau wäscht am Ufer Kleider. Abel Belay Mollas lapidare Bemerkung: «Die Krokodile hier ernähren sich nur von Fischen.» Derweil turnen Blaunackenmausvögel in den Ästen einer ufernahen Akazie. Weiter abseits durchstreifen Beisa-Oryx-Antilopen mit säbelartigen Hörnern den vor Hitze flimmernden Busch.

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Während Fischer ihre Beute sortieren, hoffen Marabusauf Reste.

Wie Perlen reihen sich im markanten Grabenbruch Äthiopiens Seen aneinander. Der Boden ist fruchtbar, gutes Land also auch für die vielen Blumen- und Gemüsefarmen. Im Schilfdickicht des Awasa-Sees erspäht Abel eine zierliche, bunte Afrikanische Zwergglanzente. Im Gegensatz dazu sind die Vögel am Ufer des Ziway-Sees nicht schwer auszumachen. Während Fischer ihre Beute sortieren, hoffen Marabus auf Reste. Spaltfussgänse und Gelbe Pfeifgänse schwimmen in sicherer Distanz, Heilige Ibisse stochern mit ihren sichelartigen Schnäbeln im Schlick und Rosa Pelikane watscheln über den Strand. Dazwischen tollen Kinder.

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Innovation im Getreideanbau

Die Landschaft Äthiopiens ist sehr stark durch den Menschen beeinflusst. Das wird auch im nördlichen Hochland deutlich, das sich über weite Teile der drei Regionalstaaten Oromia, Tigray und Amhara erstreckt. Dabei handelt es sich um ein riesiges Netz von Tälern, Schluchten und Hochebenen. Überall kleben bescheidene viereckigen Lehmhäuser an Hängen, kleine Felder sind gegeneinander abgegrenzt, Plastikmüll liegt herum.

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In einem von Dornenästen umgebenem Hof werden gerade Teff-Garben (Eragrostis tef) gedrescht. Männer treiben Pferde an, die im Kreis darüber traben, bis sich die Körner des kleinen grasartigen Getreides lösen. Ein Fest für spatzengrosse farbige Vögel wie die Senegal-amaranten, Bandamadinen und Schmetterlingsfinken, die an liegengebliebenen Ähren picken. Teff bildet den Hauptbestandteil der Nationalspeise Injera, eines aus Sauerteig hergestellten Fladenbrots. Auch Abel Belay Molla tunkt allabendlich Fladenbrotstücke in Saucen. «Ohne Injera ist für mich eine Mahlzeit nicht denkbar», stellt der junge Mann klar.

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Vermutlich begann die Herauszüchtung des Teff vor 4000 Jahren im äthiopischen Hochland. Es besteht aus fruchtbarem Boden, Niederschläge im Sommer sind häufig. Wohl auch darum liessen sich dort vor etwa 5000 Jahren Menschen nieder. Weizen und Gerste gedeihen auf den durchlässigen Böden nicht optimal. Vermutlich führte das zur Herauszüchtung des Teff. Diese Getreideart mit hohem Eiweiss- und Mineralgehalt ist hervorragend an die Bedingungen Nordäthiopiens angepasst. Auch die Fingerhirse und das Ramtillkraut haben ihre Ursprünge im äthiopischen Hochland.

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Heute leben etwa bis zu 300 Einwohner je Quadratkilometer in ländlichen Strukturen. Im Schweizer Mittelland sind es mit 380 noch mehr. Die Bevölkerung Äthiopiens wächst jährlich um ungefähr drei Millionen. Wegen des Landhungers überlebt ursprüngliche Natur nur inselartig. So wie im Tal des Klosters Debre Libanos, einige Autostunden nördlich von Addis Abeba, wo noch ursprünglicher Wacholderwald dominiert. Abel Belay Molla erklärt: «Die Bäume hier wurden nicht abgeholzt, weil im Wald rund um das Kloster Mönche in Höhlen und unter Sträuchern schlafen.» Die Bevölkerung im Hochland gehört zur Äthiopisch-Orthodoxen Kirche. Mysteriöse Felsenkirchen im Norden zeugen von einer langen, bis ins Alte Testament zurückreichenden christlichen Geschichte des Landes.

Abel richtet sein Fernglas auf einen Baum. «Dort, ein Weissohrturako», raunt er. Scharlachrote Federn leuchten auf, als der Vogel mit grüner Haube durch das Geäst flattert. Nahe des Klosterareals mit vielen weiss gewandeten Mönchen öffnet sich ein schroffer Abgrund. Auf Felsvorsprüngen sitzen Blutbrustpaviane in kleinen Gruppen. Sie werden oft auch Dscheladas genannt und leben ausschliesslich im äthiopischen Hochland.

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Äthiopien, ein Land mit erstaunlichem Naturreichtum und uralter Geschichte. Es wurde nie kolonialisiert, ausser während weniger Jahre durch Italien. Eine Tragödie, dass der Vielvölkerstaat in einem grossen Krieg versunken ist. Er wird in der nördlichen Provinz Tigray ausgetragen und wirkt sich auch auf andere Landesteile mit Unruhen aus. Zahlreiche Opfer und grosse Flüchtlingsströme in Richtung Sudan sind die Folge. Ob der derzeitige Waffenstillstand halten wird?

Die Bevölkerung im Hochland will ihren Teff einbringen, die Oromo im schroffen Klima der Bale-Berge haben sonst schon ein hartes Leben. Der Krieg ist für sie eine Katastrophe. Im Reich des Äthiopischen Wolfs aber schleichen abends dichte Nebel die Hänge empor und verschlucken das seltene Tier und die markanten Riesenlobelien – bis zum nächsten Vormittag, wenn sich der Nebel wie ein Vorhang lüften und der Wolf wieder auf Grasrattenfang gehen wird.

 

Buchvorstellung
Reise nach Äthiopien im Sessel
Durch Äthiopien mit den zahlreichen unterschiedlichen Biomen führt das Buch «Noahs Rabe». Die grossformatigen Bilder ermöglichen, in die Landschaften einzutauchen, und der spannend verfasste Text handelt von der fesselnden Naturgeschichte, dem Leben der Menschen und von frühen Entdeckungsreisenden. Der spezielle Titel nimmt Bezug auf eine Legende zum Erzraben.
Kai Gedeon und Torsten Pröhl: «Noahs Rabe – Artenvielfalt in Äthiopien», 317 Seiten, durchgehend farbig bebildert, Verlag Natur + Text