Aletschgletscher
Der schwindende Gigant aus Eis
Wie gemalt liegt er inmitten mächtiger Berggipfel: der Grosse Aletschgletscher. Mit seinen fast 23 Kilometern Länge ist er der grösste Gletscher der Alpen. Rund um den schwindenden Eisriesen finden Naturliebhaber ein wahres Paradies.
Milchig trüb donnert die Rhone durch das sonst so trockene Wallis und versorgt das ganze Tal mit Wasser. Der Fluss wird aus den mächtigsten Gletschern der Alpen gespiesen, auch vom Grossen Aletschgletscher. Er gehört zu einem der touristischen Höhepunkte der Schweiz und ist einbeliebtes Ziel für Naturfreunde. Wer ihn in seiner ganzen Pracht zu Gesicht bekommen will, sollte sich beeilen, denn wie die meisten Gletscher schmilzt auch er seinem Verschwinden entgegen. Glücklicherweise ist das Aletschgebiet ein gut erschlossenes Ausflugsziel, welches per Zug und Bergbahn aus praktisch jeder Ecke der Schweiz einfach zu erreichen ist. Sei es durch den Lötschbergtunnel aus dem Berner Oberland oder aus dem Westen her das Rhonetal hinauf – von den Tal-stationen der Luftseilbahnen in Mörel, Betten oder Fiesch gelangen die Besucherinnen auf einen der vier Gipfel Hohfluh, Moosfluh, Bettmerhorn oder Eggishorn. Von hier aus hat man eine atemberaubende Sicht auf den 22,6 Kilometer langen eisigen Riesen.
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Seine beiden charakteristischen Mittelmoränen entstehen durch den Zusammenfluss der drei Hauptfirne, die sich über die Flanken der Berner Jungfrau-Region hinunter zum Konkordiaplatz winden, wo die Schneemassen zusammentreffen und den Grossen Aletschgletscher bilden. Hier befindet sich die Konkordiahütte des Schweizer Alpen-Clubs (SAC), wo Bergsteiger im Sommer Unterschlupf inklusive Halbpension finden. Wurde dasGebäude 1877 auf der Höhe der Gletscheroberfläche gebaut, so ist es heute nur noch über eine Leiter erreichbar, die regelmässig verlängert werden muss, um den Zugang zur Hütte zu ermöglichen. Von der Fiescheralp aus erreicht man sie über die Mittelmoräne des Gletschers in etwa sechs Stunden. Die Tour sollte jedoch nur mit entsprechender Erfahrung oder in Begleitung eines Bergführers in Angriff genommen werden.
Hochalpine Pflanzenwelt
Weniger anspruchsvoll ist der Panorama-Wanderweg hoch oben entlang des Gletschers von einem der Gipfel aus Richtung Riederalp. Hier wird man nach der Ankunft mit der Gondelbahn bereits von einigen der wenigen tierischen Bewohner der kargen hochalpinen Weideflächen in Empfang genommen: Zottelige Suffolk-Schafe schmiegen sich in Grüppchen an die zerklüfteten Felsen und beobachten interessiert die zahlreichen Naturfreunde auf der Suche nach dem besten Ausblick für ein Gletscherfoto. Tatsächlich folgt der Wanderweg dem Aletschgletscher auf seinem Weg Richtung Massaschlucht in einer Art und Weise, die immer wieder neue Blickwinkel auf die imposanten Eismassen bieten und damit potenzielle schöne Fotomotive. Zahlreiche Steinmannli säumen den Pfad im Vordergrund als archaische Wegzeichen, und wer Zeit hat, errichtet selbst ein kleines Türmchen aus Stein.
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Zu Füssen der Wanderer wächst der Berg-Hauswurz (Sempervivum montanum) als Pionierpflanze in den Ritzen des felsigen Untergrunds. Die Blüten des Schmalblättrigen Weideröschens (Epilobium angustifolium) leuchten zwischen Juni und August purpurfarben aus dem sonst flächendeckenden Grün der Alpenweide hervor und locken selbst von Weitem noch Bienen und zahlreiche Schmetterlinge wie den Feuerfalter (Lycaena sp.) an. Dazwischen ragen die Griffel der Alpenanemone (Pulsatilla alpina), wegen ihrer fedrigen Erscheinung auch «Haarmannli» genannt, in die Höhe. Dem scharfen Blick des Hobbybotanikers entgehen auch kleine Blüher wie der Augentrost (Euphrasia sp.) nicht, die das hochalpine Pflanzenbouquet ergänzen. Im Spätsommer erfreuen sich zudem vor allem Kinder an den blauen Beeren der Heidelbeersträucher (Vaccinium myrtillus), die zwischen dem dichten Gemeinen Wacholder (Juniperus communis) wachsen.
Beten für den Gletscher
Vor Jahrhunderten fürchteten die Einwohner des Fieschertals den Aletschgletscher. Die Wassermassen aus einem der Gletscherseen hatte das Dorf bereits Dutzende Mal überflutet, als die Bevölkerung 1678 beschloss, Gott um Hilfe zu bitten. Sie gelobte, fortan tugendhaft zu leben, am Wochenende die Felder nicht zu bewässern und jedes Jahr eine Prozession abzuhalten, damit der Gletscher seinen Wachstum einstellen möge. Der Pfarrer liess das Gelübde seiner Gemeinde nach Rom weiterleiten, wo es vom damaligen Papst Innozenz XI. abgesegnet wurde. Heute verzeichnet der Aletschgletscher einen dramatischen Rückgang, was auch den Walliser Katholiken Sorgen bereitet. Sie einigten sich zusammen mit Politik und Tourismus darauf, das Gelübde umzukehren und fortan für das Wachstums des Gletschers zu beten. Ein entsprechendes Gesuch wurde 2009 Papst Benedikt XVI. vorgelegt und mit einem positiven Entscheid beantwortet. Seitdem beten die Gläubigen aus Fiesch zugunsten des Wachstums des Aletschgletschers.
Knorriger Urwald
Auf der gegenüberliegenden Seite des Gletschertals kann man anhand der abrupt aufhörenden Vegetation gut erkennen, wie hoch die Eisdecke einmal gewesen sein muss. Seit 1850 hat sie um über 100 Meter abgenommen. Trotzdem ist der Aletschgletscher an einigen Stellen noch beeindruckende 900 Meter dick. Folgt man ihm Richtung Südwesten, so kommt man vorbei an Wacholderbüschen und moorigen Tümpeln in den Aletschwald oberhalb der Gletscherzunge. Der alte Arven-Lärchenwald wird seit 1933 forstlich nicht mehr genutzt und steht seitdem unter Schutz. War es in den oberen Regionen des Aletschgebiets noch das Pfeifen der über den Bergkämmen nach Insekten jagenden Felsenschwalben (Ptyonoprogne rupestris), so wird man hier von den krächzenden Rufen des Tannenhähers (Nucifraga caryocatactes) empfangen. Er findet in den knorrigen Arven sein Lieblingsessen, die Samen der «Zirbelnüsse» genannten Zapfen. Die Überbleibsel des Festmahls findet man überall rechts und links des Pfades am Boden liegen.
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Hier sammeln eifrige Waldameisen (Formica sp.) Baumaterial für ihr Nest. Etwas weiter daneben legt ein Weibchen des Warzenbeissers (Decticus verrucivorus) seine Eier mithilfe der langen, gebogenen Legeröhre in den lockeren Sand. Der Weg schlängelt sich zwischen knorrigen, flechtenbehangenen Bäumen hindurch entlang des Hangs bis zum Stausee Gibidum und der oberhalb liegenden Riederfurka. Hier, unterhalb des Riederhorns, liegt die im viktorianischen Stil erbaute Villa Cassel, benannt nach ihrem Erbauer, Ernest Cassel. Seit 1976 wird sie von Pro Natura als Informationszentrum für das Unesco-Weltnaturerbe Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch genutzt. Ganz in der Nähe liegt der Alpengarten mit seinen über 200 Pflanzenarten. Bei einer Führung erfährt man Wissenswertes zu deren Anpassung an die extremen alpinen Bedingungen oder auch, welche Arten essbar sind. Jedes Jahr bietet Pro Natura zudem zahlreiche thematische Führungen in der Region an, etwa eine Sagen-Wanderung oder das Beobachten der Hirschbrunft im Aletschwald. Müde Wanderer können am Ende ihrer Tour im gediegenen Tee-Salon der Villa in die Welt des englischen Hochadels eintauchen: eine Tasse Kaffee mit einem Stück Kuchen geniessen und die müden Beine baumeln lassen. Dieses Jahr kann man das Zentrum noch bis zum 23. Oktober besuchen und sich zum Beispiel in der interaktiven Ausstellung «Gletscherschwund – Klimawandel – Energiewende» über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Aletschgletschers informieren. Mit Blick auf die noch riesig erscheinende Eisfläche erfahren Interessierte mehr darüber, wie sich die Klimaerwärmung auf den Gletscher auswirkt.
Spektakuläre Gletscherfunde
Wo das Eis schmilzt, gibt der Gletscher oft Spuren aus der Vergangenheit preis. Zu den bekanntesten Gletscherfunden gehört Ötzi, dessen Mumie 1991 in den österreichischen Alpen entdeckt und auf mehr als 5000 Jahre alt geschätzt wurde. Aber auch in der Schweiz tauchten 2003 auf dem Schnidejoch im Berner Oberland prähistorische Objekte aus dem Eis auf, darunter ein Lederschuh und ein Pfeilköcher aus Birkenrinde. 2017 entdecke ein Angestellter eines Skiunternehmens auf dem Tsanfleurongletscher (VS) die sterblichen Überreste eines Paares, welches vor 75 Jahren verschollen war. Noch länger dauerte die Entdeckung der 1926 verschwundenen drei Brüder, deren Skelette der Aletschgletscher 2012 wieder freigab. Die Walliser Polizei verfügt über eine Liste mit rund 300 Personen, die seit 1925 vermisst werden. Mithilfe von auch in diesem Jahr gefundenen Gegenständen und Knochen kann vielleicht der eine oder andere Vermisstenfall gelöst werden.
Abschied auf Raten
Auch wenn er wie ein ruhendes eisiges Ungetüm wirkt, so ist der Gletscher doch stetig in Bewegung. Er fliesst mit bis zu 180 Metern pro Jahr talwärts, bewegt sich pro Tag also um rund 50 Zentimeter. An der Zunge kommt davon jedoch wenig an, das meiste Eis schmilzt auf dem Weg ins Tal. Seit 1870 verlor der Aletschgletscher fast 3,4 Kilometer an Länge, und nicht nur das, der Rückzug vollzieht sich immer schneller. Seit 2000 ist der Gletscher um rund einen Kilometer geschmolzen, 50 Meter pro Jahr. Forscher der Versuchsanstalt für Wasserbau, Hydrologie und Glaziologie der ETH Zürich zeichnen ein düsteres Bild: Anhand der regionalen Klimaszenarien für die Schweiz wären Ende des Jahrhunderts im besten Fall noch 50 Prozent des heutigen Gletschers übrig. Dies setzt allerdings voraus, dass die Treibhausgasemission in naher Zeit massiv gesenkt wird und das Klima so bleibt wie in den letzten 10 Jahren. Das realistischere Szenario sagt jedoch laut Berechnungen voraus, dass 2100 lediglich ein paar Eisfelder vom einst so majestätischen Aletschgletscher übrigbleiben. Dies wäre der Fall, wenn die Weltgemeinschaft nicht zügig effektive Massnahmen gegen die Klimaerwärmung ergreift. Ein Wettlauf gegen die Zeit für den schwindenden Giganten aus Eis.
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Digitaler Ausflug
Pro Natura Zentrum Aletsch: pronatura-aletsch.ch
Rund um das Aletschgebiet: aletscharena.ch
Geführte Gletschertouren: bergsteigerzentrum.ch
Konkordiahütte: konkoridahuette.ch
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