Oeschberg der Lebensort
Ein Altersheim mit Charakter einer landwirtschaftlichen Grossfamilie
Wer von Bern Richtung Langenthal die Landstrasse wählt, fährt in Koppigen an einem alten Gutshof vorbei. Auf den Sitzbänken vor dem alten Bauernhaus sitzen fast immer ältere Damen und Herren. Die TierWelt hat im ehemaligen Dienstbotenheim Oeschberg einen Halt eingelegt.
Von einem der Zimmer im oberen Stock wehen leise Fetzen Volksmusik herunter und in der Küche nebenan klirrt und klimpert das Geschirr. Im Aufenthaltsraum sitzen Betreuerin Monika Hess und eine Hausbewohnerin auf dem samtbezogenen Sofa und trinken gemeinsam eine Tasse Kräutertee. «Was sind sie eigentlich genau von Beruf, Frau Hess», will die ältere Dame wissen. Sie habe das bereits oft gefragt, vergesse es aber immer wieder, fügt sie der Frage entschuldigend an. Was die zierliche Dame mit den schelmisch funkelnden Augen ihrerseits in früheren Jahren für einer Tätigkeit nachging, das braucht hier niemand zu fragen. Sie diente auf einem Bauernhof als Magd.
«Heute bieten wir älteren oder kognitiv beeinträchtigten Menschen einen Lebensort.»
Knechte und Mägde verrichteten die harte Arbeit in Haus und Hof für Kost und Logis sowie ein kleines Sackgeld. Wenn sie körperlich nicht mehr genügend fit waren, wurden sie vom Hof geschickt. Dann hatten sie weder einen Ort zum Leben noch Erspartes. Ein wohlhabendes Geschwisterpaar, das im Emmental mehrere Ländereien, aber keine Nachkommen besass, hatte ein Herz für die mittellosen und heimatlosen Dienstboten. Im Jahr 1905 vererbten Elise und Ferdinand Affolter das Oeschberggut in Koppigen (BE) dem damaligen Ökonomischen und Gemeinnützigen Verein des Amtsbezirkes Burgdorf, mit der Auflage, ein Heim für ehemalige Knechte und Mägde einzurichten. Über hundert Jahre fanden im stattlichen Gutshaus direkt an der viel befahrenen Bern-Zürich-Strasse landwirtschaftliche Bedienstete für ihren dritten Lebensabschnitt ein neues Zuhause und durften dort ihren gewohnten Alltag weiterleben – die Kühe versorgen, Kartoffeln rüsten, im Stübli stricken oder auch im Garten Unkraut jäten.
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Neuausrichtung
Die ehemalige Magd gehört heute zu einer aussterbenden Spezies. Der Status von Knechten und Mägden existiert in der Schweiz so glücklicherweise nicht mehr und das Oeschberggut musste sich vor einigen Jahren neu positionieren. «Heute bieten wir älteren oder psychisch und kognitiv beeinträchtigten Menschen einen Lebensort», erklärt Geschäftsführerin Nadja von Allmen, die einen sofort mit ihrer zugänglichen Art abzuholen vermag. Einen Leistungsauftrag vom Kanton habe Oeschberg – Der Lebensort nicht, jedoch eine Betriebsbewilligung, denn therapeutisch wird hier mit den Bewohnenden nicht gearbeitet und pflegerische Betreuung von einem externen Anbieter, der Spitex Aemme Plus, geleistet. Zudem muss ein gewisses Mass an Mobilität vorhanden sein, denn in den alten Gebäuden gibt es so einige Treppenstufen zu bewältigen. Das begleitete Leben im ländlichen Umfeld und mit dem Charakter einer bäuerlichen Grossfamilie ist ein gefragtes Nischenangebot. «Unsere 39 Bewohnenden müssen einen Bezug zum Urchigen und zur Landwirtschaft haben, dann fühlen sie sich hier wohl», sagt Nadja von Allmen.
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Denn die Einrichtung ist grösstenteils noch wie anno dazumal. Die Zimmer sind rustikal eingerichtet, das Gemeinschaftsbad liegt auf der Etage und beim Betreten des Speisesaals wähnt man sich in einer alten Wirtsstube. «Etliche unserer Einrichtungsgegenstände, wie dieser Schrank mit Bauernmalerei aus dem 18. Jahrhundert, stehen unter Denkmalschutz», erzählt die Leiterin des Oeschbergs.
Ein Dorf im Dorf
Auch die Ausrichtung auf eine sinnvolle, aber freiwillige Beschäftigung in Haus und Hof ist gleichgeblieben. Auf dem Weg nach draussen begegnen wir dem ersten umtriebigen Bewohner, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, jeden Tag den langen Gang zwischen Küche und Speiseraum zu staubsaugen.
Gleich gegenüber des Haupthauses liegt das kleine Wäschehäuschen, wo Bewohnerinnen beim gemeinsamen Schwatz emsig Wäsche sortieren und falten. Eine Überprüfung hätte ergeben, dass es eigentlich für die Institution wirtschaftlicher wäre, die Wäsche auswärts machen zu lassen. «Dieser Ort gehört aber zu uns und ist den Bewohnenden eine wichtige Anlaufstelle», begründet Nadja von Allmen ihr Festhalten am Wäschehäuschen. Ein noch fast beliebterer Treffpunkt ist die grosse Beeren- und Obstplantage. Erst im Frühjahr 2024 wurde sie neu angelegt, mit dem Ziel, vom Frühling bis in den Herbst hinein immer etwas ernten zu können. Die über 20 verschiedenen Fruchtsorten werden entsaftet und dann von den Bewohnenden zu Sirup, Essig oder Gelee weiterverarbeitet. Oder sie wandern auch einfach mal von der Hand in den Mund, wie bei der Bewohnerin, die aktuell durch die Strauchreihen der Hostet streift.
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Auch im grossen Gemüsegarten, der grösstenteils der Selbstversorgung dient, ist jemand unterwegs – mit einer rostigen Sense. «Ist bei Ihnen alles gut?», ruft Nadja von Allmen dem etwas nervös wirkenden Mann zu. «Nicht immer ist bei uns alles nur idyllisch und schön – es gibt auch herausfordernde Situationen», sagt die Geschäftsführerin und erzählt von den aktuellen psychischen Problemen dieses Herrn. Ihren Bewohnenden will von Allmen Sicherheit und Unterstützung bieten, dabei aber immer deren Selbständigkeit wahren.
Genügend selbstständig und vor allem körperlich fit, um eine Kuhherde zu versorgen, waren allerdings nur noch ganz wenige Bewohnende. Deshalb gibt es auf dem Oeschberg seit einigen Jahren keine Kühe mehr, die gemolken und gemistet werden müssen. Dafür suhlen sich drei glückliche Schweine in ihrem Auslauf und daneben hoppeln Kaninchen über die Wiese. Die Hühner nehmen im Tierbestand aber klar die Spitzenposition ein. Im mobilen Hühnerstall gackern 200 Hennen. Die Bewohnenden haben täglich einiges damit zu tun, deren Eier aufzunehmen, zu putzen, zu sortieren, zu wägen und zu verpacken. Und die Eier bieten sogar Anlass für Ausflüge: Jeweils am Dienstagnachmittag sind einige Bewohnende in Koppigen unterwegs, um sie an die Haushalte mit einem Eierabo auszuliefern. Vier bis sechs Oeschberger fahren jeweils mit auf die Wochenmärkte der umliegenden Städte Burgdorf, Herzogenbuchsee und auch Solothurn. Dort werden neben den Eiern auch allerlei Köstlichkeiten feilgeboten – Eingemachtes, Rahmcaramels oder Kräutersalze.
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Breite Akzeptanz
«An allen Produkten, die wir auf den Märkten oder in unserem Hofladen anbieten, sind unsere Bewohnenden bei der Herstellung beteiligt», sagt Nadja von Allmen. Dies sei wichtig, auch wenn die von ihnen gebackenen Zöpfe nicht so perfekt aussehen wie die aus einer Bäckerei oder unter den abgelesenen Himbeeren auch ein paar unreife Früchte sind.
Die Produkte vom Lebensort Oeschberg sind bei der Nachbarschaft beliebt, was sich am regen Zulauf des Hofladens zeigt. Auch die Bewohnenden sind ringsum gut akzeptiert, weiss Nadja von Allmen. «Gesellt sich mal jemand aus unseren Reihen einfach zu einem Kurs der Kantonalen Gartenbauschule, die gleich neben unserem Grundstück liegt, zeigt sich dort niemand irritiert», sagt die Geschäftsleiterin mit einem Schmunzeln. Aber meistens geniessen es die Bewohnenden des Oeschbergs auch einfach, auf den Bänkli vor dem Haus zu sitzen.
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