Die Sonne bricht durch die Wolken. Das Wasser funkelt bernsteinfarben. Auf der anderen Flussseite krächzen Blaubartamazonen. Das satte Grün des amazonischen Tropenwaldes glänzt nach dem Gewitterregen. Plötzlich springt aus den braunen, trägen Fluten im Fluss ein rosa Körper, bildet kurz einen Halbkreis und taucht wieder ein. «Boto!», ruft ein Caboclo von seinem Kanu aus und zeigt auf die Kringel im Wasser, die der Amazonasflussdelfin oder Amazonasdelfin hinterlassen hat.

Die Szenerie spielt sich dort ab, wo der Amazonasstrom noch Rio Solimões heisst, im Mamirauá-Schutzgebiet oberhalb der brasilianischen Urwaldstadt Tefé, am Oberlauf des Amazonas. Während der Regenzeit wird das Gebiet überflutet. Der Wasserspiegel steigt bis zu den Baumkronen. Die Bewohner, die Caboclos genannt werden, ziehen sich auf kleine Flussinseln zurück. Kanus sind ihre Verkehrsmittel. Für die Amazonasflussdelfine wirkt sich die Überschwemmung paradiesisch aus. Die Einzelgänger schwimmen durch das Stammgewirr der Überflutungsbereiche. Sie halten sich gerne dort auf, wo das Wasser kaum fliesst.

Der Süsswasserdelfin ist fast blind. Gute Augen wären kaum nützlich, denn das Amazonaswasser sieht aus wie Milchkaffee; in gewissen Flussabschnitten ist es bernsteinfarben. Der Flusssäuger verlässt sich auf die Echoortung, die ihm genau anzeigt, wo Stämme und Äste sind, und insbesondere, wo er seine Nahrung findet. Der Boto erbeutet hauptsächlich kleine Fische.

Einen Flussdelfin an der Wasseroberfläche zu sehen, ist gar kein so seltenes Ereignis. Immer wieder springt irgendwo einer kurz aus dem Wasser, wie ein Bote aus einer anderen Welt. Alle 30 Sekunden tauchen sie zum Luftholen auf. Anders als Meeresdelfine, springen sie nicht weit aus dem Wasser, sondern machen bogenartige Sprünge. Zurück bleiben die Ringe an der Wasseroberfläche.

Der Mythos des jungen Mannes

Bei dieser geheimnisvollen Lebensweise in trüben Fluten überrascht es nicht, dass der Amazonasflussdelfin für manche Bewohner am Strom und seinen Nebenarmen eine mythische Erscheinung ist. Der rosa Körper, der kurz aus dem Wasser springt, erinnert an einen verwandelten Menschen. Einige glauben denn auch, dass der Flussdelfin ein Ertrunkener sei, der sich auf gelegentlichen Landgängen zurück in einen Menschen verwandle. Am Rio Negro wird erzählt, dass der Amazonasdelfin nachts zu einem gut aussehenden jungen Mann in weissem Anzug mit Hut wird, der an Land herumgeht und junge Frauen bezirzt. Doch im Morgengrauen verschwindet er wieder in den Fluten. So wird erklärt, warum junge, unverheiratete Frauen schwanger werden.

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Aufgrund des verborgenen Lebens der Flussdelfine ist nicht bekannt, wie viele es noch gibt. Im Mamirauá-Schutzgebiet scheinen sie noch zahlreich zu sein, doch ausserhalb ertrinken sie in Fischernetzen, werden von Fischern als Konkurrenten bejagt und ihr Lebensraum wird durch Staumauern zerstört. Aus Neugierde schwimmen sie nahe an Motorschiffe und werden durch die Schiffsschraube verletzt. Einst wurden Amazonasflussdelfine vor allem in Zoos der USA gehalten. In Europa waren sie lediglich im Zoo Duisburg in Deutschland zu sehen. Ein Tier wurde dort fast 50 Jahre alt. Im Dezember 2020 verstarb der letzte Amazonasflussdelfin im Dortmunder Zoo im Alter von 46 Jahren.

Wenig bekannt ist, dass auch in Bern Flussdelfine gehalten wurden, und zwar in der Psychiatrischen Anstalt Waldau durch Professor Dr. Giorgio Pilleri. Der Neuropathologe war am Berner Hirnforschungsinstitut tätig. Die Anatomie des menschlichen Gehirns stand im Mittelpunkt seiner Forschung. Da er im Menschenhirn nur einen Entwicklungsweg verfolgen konnte, interessierte ihn eine anders verlaufene Evolution. Da drängten sich Gehirne von Delfinen auf. Pilleri in seinen Lebenserinnerungen: «Wale haben in 60 Millionen Jahren ihr Gehirn vervielfacht, der Mensch brauchte zwei Millionen Jahre, das ist für meinen Geschmack viel zu schnell.» Pilleri folgert: Wale hätten sich besser unter Kontrolle als Menschen. Delfine gehören zu den Walartigen.

Giorgio Pilleri eröffnete in Bern ein Hirnforschungsinstitut und ein kleines Delfinarium. Ende der 1960er-Jahre reiste er nach Pakistan auf der Suche nach dem Indus-delfin. Das Tier sei längst ausgestorben, hiess es, doch der ursprünglich aus Triest in Italien stammende Forscher fand die Art – und brachte zwei Exemplare in die Bundesstadt. Bern ist somit der einzige Ort weltweit, wo Indusdelfine gehalten wurden. 1975 schloss Pilleri das Delfinarium wieder, weil die Tiere ihre Sprache verloren hätten. Er betrachtete fortan Delfinarien kritisch.

Man nimmt an, dass es nur noch um die 1000 Indusdelfine in Pakistan gibt, die sich wegen Staudämmen in getrennte Populationen aufteilen. Auch über den Gangesdelfin aus Indien und Bangladesch ist nicht viel bekannt. Es wird von wenigen Exemplaren ausgegangen. Der Chinesische oder Jangtseflussdelfin wurde letztmals im Jahr 2002 gesichtet. Der gefährdete La-Plata-Delfin oder Franciscana lebt im Mündungsbereich des Rio de la Plata und in den Küstengewässern Südamerikas.

Fluss- oder Süsswasserdelfine
Es gibt vier Gattungen und sieben Arten von Flussdelfinen:
• Amazonasflussdelfine (Iniidae): Amazonasdelfin (Inia geoffrensis), Araguaia-Delfin (Inia araguaiaensis), BolivianischerAmazonasdelfin (Inia boliviensis)
• Chinesischer Flussdelfin (Lipotes vexillifer)
• La-Plata-Delfin oder Franciscana (Pontoporia blainvillei)
• Ganges- (Platanista gangetica) und Indusdelfin (Platanista minor)
Flussdelfine gehören zu den Walen, alle Arten sind bedroht, derChinesische Flussdelfin ist eventuell bereits ausgestorben.
Der Kamerunflussdelfin (Sousa teuszii) und der Irawadidelfin (Orcaella brevirostris) sind keine echten Flussdelfine, denn sie leben eher im Meer.