Innerhalb von nur einer Generation wurden 80% der indonesischen Regenwälder vernichtet und so allein in den letzten zwanzig Jahren mehr als die Hälfte des natürlichen Lebensraumes der Orang-Utans zerstört. Auf Borneo sind die grossen Menschenaffen stark gefährdet. Wir sprachen mit Dr. Sophia Benz, Geschäftsführerin des Vereins BOS Schweiz (Borneo Orangutan Survival), über die Rettungsstationen der BOS und den Kampf zur Erhaltung des Regenwaldes.

Wie viele Orang-Utans leben weltweit noch in freier Wildbahn?

Der aktuelle Bestand der Borneo-Orang-Utans wird auf nur noch ca. 55.000 bis 100.000 geschätzt. In den letzten 16 Jahren ist die Population um bis zu 150.000 Tiere geschrumpft. Wenn das so weiter geht werden bereits unsere Kinder keine Orang-Utans mehr in freier Wildbahn erleben. Sumatra-Orang-Utans gibt es noch knapp 15.000. Ein Grossteil dieser Tiere lebt aber in geschützten Waldgebieten. Das ist bei den Borneo-Orang-Utans nicht der Fall. 80% von ihnen leben in nicht geschützten Wäldern. Deshalb werden sie seit 2016 auf der Roten Liste der bedrohten Arten als akut vom Aussterben bedroht geführt. Fällt der Bestand unter eine kritische Zahl, ist die Population langfristig nicht überlebensfähig.

Worauf konzentriert sich die Projektarbeit von BOS vor Ort?

Kern unserer Arbeit ist die Rehabilitation von geretteten, oft verwaisten und traumatisierten Orang-Utans. Sie werden in den beiden BOS-Rettungszentren aufgepäppelt und bis zu 9 Jahre lang auf ein Leben in der Wildnis vorbereitet. Von Ersatzmüttern lernen sie alles, was sie für ein Leben im Regenwald benötigen. Dann wildert BOS die Tiere in sichere und geeignete Schutzgebiete aus. Orang-Utan-Schutz kann also nur gelingen, wenn der Lebensraum der Tiere gesichert und erhalten wird. Der gezielte Erwerb und das Management von Auswilderungsgebieten sowie die Aufforstung und Renaturierung von zerstörten Regenwaldgebieten ist deshalb unser zweites Standbein. Um den Regenwald zu schützten und die Orang-Utans vor dem Aussterben zu bewahren ist es zudem nötig, mit der lokalen Bevölkerung zu arbeiten. Vor Ort leisten wir deshalb auch Entwicklungszusammenarbeit (Gesundheits- und Bildungsprojekte sowie Mikrokreditprojekte, um alternative Einkommensquellen zur Wilderei, illegalen Abholzung oder einer Anstellung auf einer Palmölplantage oder im Bergbau zu schaffen). [IMG 2]

Worauf sollten Touristen, die in Malaysia und Borneo unterwegs sind besonders achten?

Keine Zoos oder Tierparks besuchen, die Orang-Utans oder andere Wildtiere als Show-Objekte einsetzen (z.B. Orang-Utans in Thai-Boxkämpfen). «Rettungsstationen», die es Touristen erlauben, Orang-Utans zu streicheln oder wilde Populationen anzufüttern haben den Namen Rettungsstation nicht verdient. Alles, was mit einer Vermenschlichung zu tun hat – z.B. Orang-Utans in Babykleidung zu zeigen – ist würdelos. Ein zu enger Kontakt mit Touristen ist nie gut, weil das ein Gesundheitsrisiko für die Tiere bedeutet. Eine Reise mit ehrenamtlicher Arbeit zu verbinden halte ich auch für sinnvoll. Dafür bieten wir zum Beispiel einmal jährlich unsere BOS Schweiz Volontärreise an.

Was gibt es für Laien vor Ort genau zu tun?

Unsere Volontäre haben die Möglichkeit, vor und nach ihrer Reise bei uns mit zu arbeiten und unsere Aufforstungskampagne «One-Tree-One-Life» zu unterstützen. Gemeinsam mit den Volontären sammeln wir Spenden für Baumsetzlinge. Einen Teil der Setzlinge pflanzen die Volontäre dann vor Ort selbst. Zudem helfen sie in der Rettungsstation mit. Sie fertigen Beschäftigungsmöglichkeiten für die Orang-Utans an oder reinigen Käfige. Am Ende besuchen unsere Volontäre in der Regel die zweite und grössere BOS-Rettungsstation in Nyaru Menteng.

Können Tiere, die jahrelang in Gefangenschaft gehalten wurden, überhaupt wieder ausgewildert werden?

Je länger ein Tier in Gefangenschaft gehalten wurde und je älter es ist, wenn es zu uns in die Rettungsstation kommt, umso schlechter seine Überlebenschancen in der Wildnis. Hinzu kommt, dass viele Tiere Tuberkulose oder Hepatitis infiziert zu uns kommen oder anderweitig körperlich beeinträchtig sind, weil auf sie geschossen wurde und sie deshalb blind sind oder weil ihnen Gliedmassen mit Macheten abgehackt wurden. Knapp ein Drittel der Tiere in unserer Obhut (170 Orang-Utans) sind aktuell nicht auswilderbar. Auch sie brauchen eine artgerechte und möglichst naturnahe Unterbringung. BOS baut hierfür bewaldetet Inseln. Auf solchen Inseln üben auch die Auswilderungskandidaten die Freiheit, ehe sie zurück in den Regenwald dürfen.

Wie viele Tiere wurden seit der Gründung des Vereins gerettet?

In den letzten 25 Jahren rettete BOS mehr als 2300 Orang-Utans. Seit 2012 wurden 384 ausgewildert. Knapp 530 befinden sich aktuell in unseren beiden Rettungsstationen. Zwei Drittel von ihnen warten auf die Auswilderung.

Tiere zu retten und sie in Stationen zu rehabilitieren reicht nicht, um eine Art vor dem Aussterben zu retten. Was braucht es noch?

Vor allem Lebensraum, lokales Bewusstsein für den Arten- und Regenwaldschutz, einen funktionierenden Rechtsstaat, der nationales wie internationales Recht durchsetzt und es braucht ein Umdenken in unserem Konsumverhalten – vor allem was Palmöl angeht.

Palmöl ist eine der grössten Bedrohungen der Orang-Utans. Worauf sollte man im alltäglichen Leben achten?

Palmöl steckt in jedem zweiten Supermarkt-Produkt. In Lebensmitteln muss es mittlerweile deklariert werden und lässt sich vermeiden, v.a. wenn man lokal, regional und frisch kocht. Fertigprodukte enthalten oft Palmöl. Aber es gibt heute Apps (z.B. Codecheck), die beim palmölfreien Einkaufen helfen. Bei Kosmetika oder Medikamenten wird es schwieriger, weil sich Palmöl dort oft hinter kryptischen Begriffen versteckt. Aber auch da gibt es Marken und Produzenten, die Wert darauf legen, palmölfrei zu sein (z.B. Good Soaps oder Lush).

Wenn Sie in die Augen eines Orang-Utans sehen, dann sehen sie…?

Tiefe Traurigkeit und Verzweiflung, wenn es sich um einen Orang-Utan im Käfig handelt. Es ist wie in die Augen eines Menschen zu schauen, dem man alles genommen und den man eingesperrt hat. Junge Orang-Utans haben einen unglaublich unschuldigen, neugierigen und verspielten Blick. In jedem Fall ist sofort eine sehr starke und tiefe emotionale Verbindung da, wenn man einem Orang-Utan in die Augen schaut. Sie sind unsere nächsten Verwandten und das spürt man unweigerlich…