Die Sonderausstellung im Naturhistorischen Museum in Bern ist in vollem Gange. Einige Jugendliche laufen von einem Infoschild zum anderen, eine Mutter erklärt ihrer Tochter, was es mit dem ausgestopften Kasuar auf sich hat, und eine ältere Dame studiert eine Miniaturversion eines Hammerhaies. Eigentlich hätte der Mai das Ende der Exhibition einläuten sollen, die Nachfrage ist aber dermassen gross, dass sie bereits mehrmals verlängert wurde. Christian Kropf, der wissenschaftliche Kurator der Ausstellung, schlendert durch die knallbunten Gänge, weist auf Informationstafeln, auf Modelle und lebendig im Gehäuse umher rennende Tiere hin. Es wird schnell deutlich, wie stolz er auf das hier gezeigte ist.

Alle diese Tiere fallen unter die Sparte «queer». Einfach erklärt bedeutet dies: Ihre Sexualtriebe dienen nicht nur zur Fortpflanzung, sondern haben vielfältige Gründe. Und sie kennen nicht nur die beiden fixen Geschlechter, Männchen und Weibchen, sondern eine Vielzahl an Variationen und Abwandlungen. Die Beispiele reichen von Haien, die gar keinen Partner für die Aufzucht des Nachwuchses brauchen, bis hin zum Schafbock, der oftmals eine gleichgeschlechtliche Begattung bevorzugt. Mitten im Raum bleibt Kropf vor einer quietschgrünen Säule stehen. Darauf prangen zwei ebensolche Schafsböcke, als würden sie den Besuchenden beim Herumschlendern zuschauen. Auf der ganzen Seite des Podests sind in dicken schwarzen Wörtern unzählige Tierarten verewigt. Dreizehenmöve, Kiefernatter, Mittelmeerfruchtliege – alles Arten, die homosexuelle Neigungen aufweisen. «Natürlich sind nicht alle aufgelistet», fügt Kropf schmunzelnd hinzu. Für die rund 1500 bekannten Arten reiche der Platz schlicht nicht aus.

Liebe oder Überlebensstrategie?

Während der Führung spricht Christian Kropf hauptsächlich über die Wissenschaft und deren historischen Bezug zur Thematik. Während bei Menschen die Ausdrücke «schwul» und «lesbisch» gebraucht werden, spricht man bei Tieren im selben Kontext von homosexuellem Verhalten. Die Frage, wieso solche Muster bei Vierbeinern auftreten, ist umfangreich und nur teilweise beantwortet. Ein Problem besteht etwa in der fehlenden Feldforschung: Viele der Tiere, bei denen gleichgeschlechtliche Beziehungen nachgewiesen wurden, leben in Zoos oder Laboren.

«Es ist sehr schwierig, so etwas zu beobachten. Denn das Verhalten von Tieren in Gefangenschaft muss nicht unbedingt zeigen, was in der Wildnis los ist», sagt Christian Kropf. Es ist zudem schwierig, sich ein Bild vom Thema zu machen, da viele Spezies noch nie bei der Paarung beobachtet wurden. Die Anzahl solcher Nachweise deutet aber auf eine hohe Dunkelziffer hin. In der Ausstellung hängt neben der grossen, grünen Säule eine Tafel, die darauf hinweist, dass wahrscheinlich noch weitaus mehr Tiere diese Tendenzen aufweisen würden. Nur werde in der Forschung nicht aktiv danach gesucht. Die Anzahl queere Arten sei noch lange nicht ausgezählt, ergänzt Kropf: «Die Tatsache, dass wir von über 1500 Tierarten wissen, die homosexuelle Tendenzen aufweisen, sagt uns vor allem, dass dies bei vielen anderen Arten auch der Fall sein muss.»

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Wie auch beim Menschen darf man bei vielen Tieren effektiv von gleichgeschlechtlicher Liebe sprechen. Es ist in der Fauna nämlich weit verbreitet, dass entsprechende Begattungen ohne strategische Hintergedanken vorkommen. Pinguine, Schwäne und Flamingos sind beispielsweise alle bekannt dafür, dass sie sich ein Leben lang an einen Partner binden – egal, welches biologische Geschlecht dieser hat. Weibliche Laysan-Albatrosse lassen ihre Eier von Männchen befruchten, nur um den Nachwuchs anschliessend mit einer Partnerin aufzuziehen. Männliche Humboldt-Pinguinpaare stehlen in Gefangenschaft Eier von heterosexuellen Eltern und behandeln die Küken wie ihre eigenen. Und im Denver Zoo im US-Bundesstaat Colorado bereitet ein männliches Flamingo-Paar den Besuchenden regelmässig Freude. Da es in keinem dieser Fälle ums Überleben geht, kann mit einer gewissen Sicherheit von liebevoller Zuneigung gesprochen werden. Zumindest solange die neusten Forschungsdaten dies nicht widerlegen.

Ein weiterer Grund für gleichgeschlechtliche Intimität könnte das Lösen von Konflikten sein. Beispielsweise, um gruppeninterne Hierarchien zu überwinden. Bei den Bonobo-Menschenaffen, unseren nächsten Verwandten in der Tierwelt, ist solches Verhalten alltäglich. Wenn junge Weibchen etwa zu einer neuen Clique stossen, suchen sie sexuellen Kontakt mit den Dominantesten der Gruppe. Und da Bonobos in matriarchalen Gemeinschaften leben, sind die ranghöchsten Gruppenmitglieder ausschliesslich weiblich. Wenn die obersten Affendamen diese Versuche akzeptieren,werden die Neuankömmlinge auch von dem Rest der Gruppe akzeptiert. Im Naturhistorischen Museumstehen diese Menschenaffen in der obersten Reihe auf der quietschgrünen Säule. Sie sind fast alle bisexuell.

Die «Queer»-Ausstellung im Naturhistorischen Museum Bern
Seit April 2021 lädt das Naturhistorische Museum Bern zur Sonderausstellung «Queer» ein. Auf der Website des Museums kann eine «Verführung»gebucht werden, bei der Menschen aus der LGBTQ-Szene eine Führung anbieten. Für Erwachsene kostet der Eintritt 12 Franken und für Kinder und Jugendliche bis 16 Jahren ist der Eintritt gratis. Die Ausstellung läuft voraussichtlich noch bis am 19. April 2023.
nmbe.ch

Eigentlich wissen wir es schon lange

Dass Tiere auch homosexuell agieren, wissen wir schon seit der Antike. Bereits der altgriechische Dichter Aristoteles beobachtete schwule Hyänenpaare. Durch die Ausbreitung des Christentums in Europa verfestigten sich jedoch die Geschlechterrollen, woraus mit der Zeit sexuelle Tabus entstanden. Homosexuelle Menschen wurden verteufelt, und so ging das entsprechende Wissen über die Tierwelt ebenfalls verloren.

Noch vor zwanzig Jahren wurde das Erforschen von Homosexualität als zu politisch kontrovers angesehen. Bis in die Neunzigerjahre stufte die Weltgesundheitsorganisation Homosexualität gar als psychische Krankheit ein. «Das Wissen war natürlich da, nur durfte man es nicht zeigen», erklärt Kropf und blickt vom überhängenden Balkon gegen Ende der Ausstellung über das bunte Treiben unter sich. Inzwischen sei die gesellschaftliche Toleranz gewachsen, was wiederum eine Gegenwirkung ausgelöst hat. Heute sind mehr Menschen aus der LGBTQ-Szene in der Forschung tätig, weshalb Themen wie gleichgeschlechtliche Sexualität wieder mehr im Zentrum stehen.

Am Ende der Ausstellung warten drei Ausgänge auf die Besuchenden. Je nachdem, wie viel sie gelernt haben, sollen sie eine andere Tür wählen. Tritt man links hinaus, hat man nichts Neues erfahren. Wählt man das zweite Tor, konnte man sein Wissen erweitern. Und der dritte Ausgang ist für all jene, die viel Neues entdecken konnten. Christian Kropf lächelt zufrieden und erzählt, dass die meisten Besucherinnen am Ende die dritte Option wählen. «Das heisst, sie haben offenbar wirklich etwas gelernt.» Und, dass die Ausstellung den Nerv der Zeit trifft.

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