Achtung, hier tummeln sich oft Löwen», warnt Hussein Iddi und sucht konzentriert mit dem Feldstecher die Felskombination im Grasmeer ab. Er fügt flüsternd hinzu: «Sie mögen es nicht, wenn der Bauch nass wird und liegen darum gerne auf den Felsen.» Ein Lächeln huscht über sein sonst ernstes Gesicht. Iddi führt seit zahlreichen Jahren Touristen durch die Nationalparks Tansanias. Er weiss: Die Raubkatzen warten lieber dösend auf den Felsen, bis der Tau am Savannengras von den Sonnenstrahlen aufgesogen ist. Das wogende gelbe Gras wirkt wie ein Meer, die rundlichen Granitfelsen darin sehen aus wie Murmeln, die aus dem Wasser aufragen. Es ist früher Morgen in der Serengeti, einem grossen Nationalpark und Schutzgebiet im Grenzbereich zwischen Kenia und Tansania. In diesen Morgenstunden fiepen nur Busch- und Klippschliefer von der Felskombination, schrill hallt der Ruf von Goldbugpapageien aus einem Sandpapierstrauch. Doch würde ein Löwe nur wenige Meter entfernt von Hussein Iddi im gelben Gras lauern, er wäre unsichtbar. Sein strohblondes Fell verschwimmt mit den im Wind wispernden, gleichfarbigen Grashalmen. «Deshalb weiden Gnus und Zebras lieber in Steppen mit kurzem Gras, weil sie sich dort sicherer fühlen», erklärt der naturkundige Fremdenführer.

Dennoch ist es für ihn und seine Kollegen nicht zu schwer, Löwen zu finden. Sie wissen, wo die Gross-katzen gerne den Tag verschlafen. Längst haben sich die Löwen Ostafrikas an brummende Safarifahrzeuge und klickende Kameras gewöhnt. Sie dösen im Rudel im Schatten einer Akazie einfach ruhig weiter.

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Löwen gehören im zoologischen System zu den Grosskatzen. Obwohl die meisten katzenartigen Tiere Einzelgänger sind, leben Löwen im Rudel. Meist besteht eine Gruppe aus drei bis zehn Tieren, mehrere davon sind miteinander verwandte Männchen – und eines ist das ranghöchste. Löwen sind anpassungsfähig. Lebt Grosswild ganzjährig in einem Gebiet, so wie etwa im 2600 Quadratkilometer grossen Tarangire-Nationalpark in Tansania oder im mit 188 Quadratkilometern kleinen Nakuru-Nationalpark in Kenia, bleiben Löwenweibchen meist im Gebiet, fehlt Nahrung, streifen sie weiter. Die Grösse ihres Reviers, das mit demjenigen anderer Rudel überlappen kann, variiert und hängt von den verfügbaren Beutetieren ab. Meist ist ein Revier zwischen 100 und 200 Quadratkilometer gross, kann sich aber auch bis zu 4500 Quadratkilometern ausdehnen. Das Revier wird vom Männchen nicht nur mit Kot, Urin und Kratzspuren markiert. Auch das weit herum hörbare, laute Brüllen dient der Revierab-grenzung.

Gesetz des Stärkeren

Überzählige Männchen werden etwa im Alter von zwei Jahren, wenn sie Geschlechtsreife erreicht und das Jagen erlernt haben, vertrieben. Sie streifen fortan als Nomaden weit umher. Meist schliessen sie sich mit anderen Junggesellen zusammen und entwickeln eine Freundschaft. Auf ihren Streifzügen stossen Löwen in unterschiedliche Gebiete vor und wandern bis in Höhen von mehr als 4000 Metern.

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Lange wurde angenommen, dass sie ausschliesslich in der Savanne südlich der Sahara leben. Doch neuere Untersuchungen zeigen, dass sich Löwen auch den Regenwald als Biotop erschlossen haben, so etwa im Südwesten Äthiopiens, wo sie im Kafa-Biosphärenreservat fotografiert wurden, einem feuchten von Epiphyten besetzten Bergregenwald. Handelt es sich um einen kleinen, isolierten Bestand oder vielleicht um migrierende Löwen? Forscher gehen dieser Frage derzeit auf den Grund. Zumindest der Süden Äthiopiens gilt als Korridor für Löwen, die manchmal zwischen Ost- und Zentralafrika hin und her streifen.

Löwinnen ziehen umher, um zu jagen – Männchen sind auf der Suche nach einem Rudel. Wollen Männchen ein Rudel übernehmen, müssen sie zuerst die alten Revierbesitzer vertreiben oder im Kampf besiegen. Die Mähne mildert im Streit mit Artgenossen Prankenhiebe. Blutige Kämpfe sind dennoch häufig. Mit Folgen: Vertriebene Löwen führen danach entweder ein Leben als Einzelgänger, erliegen ihren Verletzungen oder aber sie verhungern.

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Übernimmt dann ein neues, kräftiges Männchen mit Geschlechtsgenossen ein Harem, kommt es vor, dass sie die Jungen töten. Der Infantizid führt dazu, dass die Weibchen bald wieder geschlechtsreif werden und die neuen Männchen ihre Gene sofort weitergeben können. Die Geschlechtsreife der Löwin dauert um die sieben Tage. Während dieser Zeit kommt es täglich bis zu 30 Paarungen. Es gelingt einem Männchentrupp meist nur für etwa zwei bis drei Jahre, einen Harem zu halten. Dann werden sie von jüngeren und stärkeren Männchen getötet oder vertrieben. Die Natur zeigt sich kompromisslos: Nur die Fittesten paaren sich und sorgen für die Verbreitung ihrer Gene – das Gesetz des Stärkeren verhindert Inzucht. Im Gegensatz zu den Männchen bleiben die Weibchen meist ein ganzes Leben lang im Rudel, in dem sie geboren wurden.

Tod durch Genickbiss oder Anspringen

Beim Anblick der dösenden Löwen in der Savanne erahnen Touristen den harten Überlebenskampf des Königs der Tiere kaum. Aktiv sind die Grosskatzen ohnehin meist in der Nacht, wenn die Weibchen in Trupps auf die Jagd gehen. Doch auch Männchen jagen, etwa in vegetationsreichen Gebieten oder als Junggesellen. Leben Männchen in Weibchentrupps, tun sie sich zuerst an der von den Weibchen geschlagenen Beute gütlich, da sie ranghöher sind. Und da Löwen keine Sprinter sind, müssen sie sich nahe an die Beute heranpirschen, wie etwa an Grant-, Thomsongazellen oder an Zebras.

Meist jagen die Weibchen im Verbund. Die Höchstgeschwindigkeit von 60 Stundenkilometern können sie nicht lange halten; viele Beutetiere sind schneller. Doch Löwen sind gut im Überraschungsangriff, denn sie beschleunigen sehr schnell. Löwen durchbeissen Gazellen das Genick, grössere Tiere werden sogar angesprungen und in die Kehle gebissen. Wesentlich einfacher ist es für Löwen, andere Raubtiere von ihrer Beute zu vertreiben. Es sind Opportunisten. Deshalb jagen sie, was sich gerade anbietet. Die Population in Namibia hat sich beispielsweise auf die Kap-Seebären spezialisiert.

«Löwenmännchen schaffen es nur rund drei Jahre, ein Rudel zu halten.»

Problematisch wird es aber, wenn sie es auf das Vieh von Bauern abgesehen haben. So wie etwa die Löwen im Schutzgebietsverbund Kavango-Zambezi, der die fünf Länder Namibia, Angola, Sambia, Simbabwe und Botswana umfasst. Dort leben ganze 15 Prozent aller afrikanischen Löwen. Aufgrund ihrer Angriffe wurden sie als gefährliche Schädlinge abgeschossen. Das hat den WWF auf dem Plan gerufen: «Im Rahmen eines Projekts werden die Löwen nun mit Sendern versehen. Die Datenauswertung soll helfen, Konfliktsituationen mit Familien, die in dem Gebiet leben, zu vermeiden», erzählt der Teamleiter Shadrach Mwaba, der in Sambia aufwuchs. Verteilt im ganzen Schutzgebietsverbund leben 2,7 Millionen Menschen. Dank den Sendern wird klar, wo die Löwen am liebsten jagen, wann sie weiterziehen und an welchen Flussstellen sie trinken. Künftig soll vermieden werden, dass sich zur selben Zeit dort auch Kleinbauern mit ihrem Vieh aufhalten – und somit auch weniger Nutztiere gerissen werden.

Landhunger führt zu Bedrohung

Der Konflikt zwischen Menschen und Wildtieren führt zu einer zunehmenden Bedrohung der Löwen.Während sie einst über ganz Afrika mit Ausnahme der Sahara und des Kongo-Regenwalds verbreitet waren, sind ihre Lebensräume auf nur wenige zerstückelte Gebiete geschrumpft. Dass sie in den sehr bekannten ostafrikanischen Nationalparks jeder Safaritourist sieht, darf nicht über ihre Bedrohungslage hinwegtäuschen. Ihr einst riesiges Verbreitungsgebiet hat sich auf acht Prozent verkleinert, die Gesamtpopulation wird gemäss dem Zootier-Lexikon auf kaum mehr als 30 000 Individuen geschätzt. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts lag sie noch bei rund 400 000 Tieren.

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Noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörten Löwen zur Lebenswelt der Menschen in vielen Regionen Afrikas. Bei Peramiho ganz im Südwesten Tansanias etwa seien Dorfbewohner immer singend oder laut sprechend von einem Dorf zum anderen durch die Savanne unterwegs gewesen, dies als Schutz vor Löwen, erinnert sich der Missionsbenediktiner Bruder Arthur aus Uznach SG. Er war 24 Jahre lang in der Abtei von Peramiho tätig. «Männer waren mit langen Stangen mit Haken, dem Nyengo, bewaffnet, um Löwen abzuwehren», erzählt der Mönch. Bei Gefahr habe man den Löwen töten dürfen, habe ihn aber bei einem Regierungsposten abliefern müssen. Zu einem Unfall sei es während seiner Zeit nicht gekommen. Heute kämen Löwen im Gebiet aber kaum noch vor.

Unterarten des Löwen
Löwen haben unverkennbare äussere Merkmale, die sich innerhalb eines Rudels unterscheiden können. Wie sie in der systematischen Zoologie geführt werden, ist unter Experten umstritten. Der Spezialist für afrikanische Säugetiere, Jonathan Kingdon, schreibt in seinem 1997 erschienen Standardwerk «African Mammals», dass einzig der Berber- oder Atlas- und der Transvaallöwe auf dem afrikanischen Kontinent Unterarten seien. Im 2009 erschienenen «Handbook of the Mammals of the World» werden mehr Unterarten aufgeführt:

- Kongolöwe (Panthera leo azandica)
- Angolalöwe oder Katangalöwe (Panthera leo bleyenberghi)
- Transvaallöwe (Panthera leo krugeri)
- Nubischer Löwe (Panthera leo nubica)
- Westafrikanischer Löwe oder Senegallöwe (Panthera leo senegalensis)
- Asiatischer Löwe (Panthera leo persica), Gir-Nationalpark im westlichen Indien

Ross Barnett von der Universität Oxford in England und sein Autorenteam gingen der Unterschiedlichkeit und Abstammung von Löwen auf den Grund. Die Löwendiversität sei durch die klimatischen Wechsel in Afrika und die damit einhergehende Expansion und Isolierung von Refugien im Westen, Süden und Norden des Kontinents entstanden. Gegenwärtig scheint es aber, als könnte sich die Ansicht durchsetzen, die Löwen in drei Gruppen einzuteilen:

- Atlas- oder Berberlöwe (Panthera leo leo)
- Asiatischer Löwe (Panthera leo persica)
- Afrikanischer Löwe (Panthera leo)

Durch die Zerstückelung des Lebensraums entstehen isolierte Populationen. Inzucht oder Krankheiten sind die Folge und bedrohen den Restbestand. Löwen werden zudem als Trophäen und Lieferanten von kultischen Heilmitteln bejagt – Haut, Zähne und auch Klauen finden nicht nur bei traditionellen Ritualen und Arzneien Verwendung. In Asien wächst der Markt für Körperteile von Löwen stetig. Je weiter menschliche Siedlungen in die Natur vordringen, desto knapper wird der Lebensraum für die Raubtiere – Beutetiere nehmen ab. In der Schweiz gefährdet der Wolf keine Menschen, doch er schlägt Ziegen und Schafe. Verlieren Schweizer Bauern Tiere, werden sie entschädigt. Schlägt ein Löwe das Vieh einer afrikanischen Familie, ist sie ruiniert, der Staat hilft nicht.

Ob in Asien oder in Afrika: Der Landhunger einer stetig wachsenden Bevölkerung führt dazu, dass das ikonische Raubtier immer seltener wird. Der Indische oder Asiatische Löwe hat gar nur noch im indischen Bundesstaat Gujarat im Gir-Nationalpark überlebt. Dort dominiert eine savannenartige Vegetation. Deshalb halten Zoos eine wichtige Genreserve. Der Indische Löwe etwa wird im Zoo Zürich gehalten, seine Zucht wird international koordiniert.

Schwarze Mähne bis zur Leiste

Manche Unterarten, wie der Atlas- oder Berberlöwe, sind in der Natur ganz verschwunden. Er starb bereits Anfang des 20. Jahrhunderts aus. «Wenn wir das den Besucherinnen und Besuchern erzählen, sind sie schon etwas schockiert», sagt Karin Federer, Direktorin des Walter Zoos in Gossau SG. Hinter ihr liegt Atlas auf einem Hügel, der Berberlöwenmann: dunkle, sehr eindrückliche Mähne und Schwanzquaste, stattlicher, kräftiger Körper. Er scheint sich seiner Wirkung bewusst, blickt stoisch um sich, umgeben von den drei Weibchen. Die Tierärztin erzählt: «Als wir unseren Afrikabereich gestalteten, entschlossen wir uns für den Atlas- oder Berberlöwen.» In der Ostschweiz sei es eher kälter im Winter, da würde diese Unterart gut passen. Zudem würde die Zucht des grössten Löwen durch Zoos gut koordiniert. Die Haltung und Zucht dieser Unterart habe zudem einen hohen didaktischen Wert. Diese Argumente führten dazu, dass Atlas 2018 vom Pariser Zoo und zwei Berberlöwinnen, Geschwister aus dem deutschen Zoo von Neuwied, in Gossau einzogen.«Besonders die Männchen unterscheiden sich durch ihre wuchtige, durchgehend schwarze Mähne, die sich bis zur Leiste zieht», erklärt Federer. Etwas später, als Atlas aufsteht, kommt seine Haarpracht zur vollen Geltung.

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Die Zoodirektorin erzählt: «Atlas- oder Berberlöwen stammen aus Nordafrika. Historisch waren sie auch in Israel, auf der arabischen Halbinsel und bis weit nach Indien verbreitet.» Neuere genetische Forschungen zeigten, dass sie näher mit den Indischen Löwen verwandt sind als mit den Afrikanischen. «Das ist speziell, da sich Männchen des Indischen Löwen phänotypisch durch ihre kurze Mähne deutlich vom Afrikanischen unterscheiden», sagt Federer. Auch das Verhalten sei verschieden. Der Indische Löwe sei weniger sozial.

Karin Federer räumt ein, dass es keine genetisch reinen Berberlöwen mehr gebe: «Die Art ist in der Natur ausgerottet worden, Zoos halten Tiere mit den typischen Merkmalen von Atlaslöwen und mit der grösstmöglichen genetischen Übereinstimmung.» Anhand von DNA-Daten von Museumsexemplaren sei festgestellt worden, dass die Genetik der Zoolöwen nicht zu 100 Prozent rein sei. Die Veterinärin gibt zu bedenken: «Atlas- oder Berberlöwen werden seit der Antike durch den Menschen genutzt.» So wurden Atlaslöwen in Ägypten schon um 1100 vor Christus ausgerottet. Die Römer schliesslich stellten den Berberlöwen weiter nach. Sie wurden bei Gladiatorenkämpfen eingesetzt. Gut möglich also, dass schon damals Löwen südlich der Sahara in den Handel gelangten, um den Bedarf an Grosskatzen im römischen Reich zu decken.

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Junglöwen werden geimpft

Die Zoopopulation an Atlaslöwen beträgt etwa um die 150 Tiere, die sich auf ungefähr 60 Zoos verteilen. Das Zuchtbuch wird im Zoo von Givskud in Dänemark koordiniert. Auch Atlas aus Gossau hat mit Lin, einem seiner Weibchen, bereits zur Verbreitung der Unterart beigetragen. «2020 wurden zwei Junge geboren»,erzählt Karin Federer. Das Weibchen habe die Jungen nach einer Tragzeit von etwa 110 Tagen im zentralen Innenraum geworfen. «Unsere Tiere können immer zwischen Innenraum und Aussenanlage wählen», sagt die Zoodirektorin. Nur wenn Sturm angekündigt sei, würden die Tiere im Innenraum gehalten.

Das Löwengehege und -gebäude ist nach modernsten Kriterien eingerichtet. «Im Vorfeld besichtigten wir verschiedene Haltungen, und beim Bau hielten wir uns an die internationalen Zoobestimmungen», sagt Karin Federer zur Anlage. Das Gelände weist einen Hügel auf, ein Bach plätschert, offene Stellen wechseln sich mit Grasbewuchs ab, Totholz und Büsche schaffen Struktur. Angrenzend sind zwei allseitig umdrahtete Aussengehege. Dort besteht Zugang zum Innenraum. «Obwohl es nicht notwendig wäre, haben wir auf den hervorstehenden Liegeplatten Heizungen eingebaut. Das schätzen sie», sagt Karin Federer lächelnd. Direkt angrenzend an den Innenraum hat es kleinere Abteile für jedes Tier. «Beim Medical Training sondern wir die Löwen ab», erklärt die Tierärztin. Sie werden dazu trainiert, auf Befehl eine Pranke hervorzustrecken, sodass Impfungen und Blutentnahmen stressfreimöglich sind. Auch die beiden Jungen mussten gegen Katzenschnupfen, Leukose und gegen die Katzenseuche geimpft werden. «Nachdem wir sie nach neun Wochen erstmals für die Impfung separieren mussten, hat sie die Mutter vorsichtshalber in die Wurfbox gebracht. Offenbar hat sie dieser Eingriff etwas verunsichert. Die Impfung musste nach zwölf und sechzehn Wochen wiederholt werden. «Mit zunehmendem Alter wurde es schwieriger, sie wehrten sich immer mehr.»

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Aufsicht der Jungen wird geteilt

«Am Anfang befürchteten wir, dass Atlas den beiden Kleinen etwas anhaben könnte. Er hat einen grossen Jagdtrieb.» Die Angst sei aber unbegründet gewesen. Die beiden Jungen wurden bis ins Alter von einem Jahr gesäugt. Die Schwester habe fast besser zu den Jungen geschaut als die eigene Mutter. Auch in der Natur teilen sich die Löwinnen die Aufsicht der Jungen auf. Ab drei Monaten würden diese von der Mutter zu einem Riss mitgenommen. So tasteten sie sich auch im Walter Zoo langsam an die Fleischnahrung heran. «Wir füttern sehr unterschiedlich», hält Karin Federer fest. Pferde würden sie aus der Metzgerei oder dem Tierspital erhalten. Rind und Kalb gehören ebenso zum Speiseplan wie alte eigene Zootiere, seien es Zwergziegen, Ponys und Kamele. Zudem würden sie Unfallrehe ganz verfüttern. «Sehr wichtig ist die Ganzkörperfütterung», betont die Tierärztin. So müsse dem Fleisch kaum Kalzium zugesetzt werden, da die Löwen sämtliche Teile eines Tierkörpers fressen und benagen könnten.

«Atlas- oder Berberlöwen werden seit der Antike von den Menschen genutzt.»

Dr. Karin Federer, Direktorin Walter Zoo

Wie in der Natur, werden auch die Berberlöwen in Gossau erst aktiv, wenn sie Hunger haben. Sie schlafen und dösen meist etwa 20 Stunden täglich. An sechs Tagen in der Woche erhalten sie ihre Fleischration. Die beiden Jungen wuchsen prächtig heran. Eines wurde in den tschechischen Zoo von Olomouc abgegeben. Amera, die Schwester, bleibt vorerst in Gossau, bis ein geeigneter Platz gefunden ist. «Wir haben ihr ein Hormonimplantat gesetzt, sodass sie während einer gewissen Zeit unfruchtbar bleibt, damit sie nicht von ihrem Vater gedeckt werden kann», sagt die Tierärztin. Im Alter von zwei bis drei Jahren werden Löwen geschlechtsreif. Auch Lin, die Mutter der beiden Jungtiere, wurde inzwischen so behandelt. «Wir wollen kontrolliert züchten. Es bringt nichts, wenn unsere Linie in der Zoopopulation übervertreten ist.» Lin war bisher das ranghöhere Weibchen. Der Reviertierpfleger Armin Leuenberger beobachtet derzeit verändertes Verhalten. «Gut möglich, dass das zweite Weibchen Jumina die neue Chefin wird», sagt er. Gegen so viel Frauenpower hat der stattliche Atlas manchmal einen schweren Stand. Ob er während des Nachmittags eins abgekriegt hat? Gegen Abend stolziert er nämlich allein durch das Aussengehege, sieht sich um und legt sich dann an einen kaum einsehbaren Ort ins Gras. Vielleicht hatte er aber einfach auch nur Lust, allein zu sein.

SEHENSWERTES
Löwen in Zoos

Löwen werden seit dem Mittelalter in Menagerien ausgestellt. In den im 19. Jahrhundert entstandenen Zoologischen Gärten entwickelte sich die Löwenhaltung vom Gitterkäfig zu Gehegen, die Kopien des savannenartigen Lebensraums darstellen. In der Schweiz können Löwen in sieben Zoos beobachtet werden:
- Basler Zoo (Kalahari- oder Etoschalöwe)
- Plättli Zoo, Frauenfeld TG (Atlas- oder Berberlöwe)
- Sikypark, Crémines BE
- Walter Zoo, Gossau SG (Atlas- oder Berberlöwe)
- Zoo al Maglio, Magliaso TI
- Zoo de Servion, Servion VD
- Zürcher Zoo (Indischer oder Asiatischer Löwe)

Vorerst streunen Berberlöwen durch Zoogehege. Eine Wiederansiedlung sei noch in weiter Ferne, sagt Karin Federer. Sie ergänzt: «Doch unmöglich ist sie nicht. Die koordinierte Zucht in Zoos gelingt zwischenzeitlich ausgezeichnet.» Beim Amurtiger gebe es Pläne zur Auswilderung, der Persische Leopard sei durch Zoopopulationen bereits wieder angesiedelt worden. «Es ist ein weiter Weg, viele Schritte sind notwendig, unter anderem muss die ortsansässige Bevölkerung involviert werden, einverstanden sein und auch davon profitieren können.»

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Löwen in der Kulturgeschichte

Menschen haben seit jeher eine ambivalente Beziehung zu Löwen, geprägt von Bewunderung und Furcht. Über viele Jahrtausende waren Menschen Jäger und mussten sich in der gegenseitigen Begegnung irgendwie durchsetzen. Oft genug gelang es wohl nicht. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho aus Österreich meint in einem Interview, dass sich Frühmenschen in der afrikanischen Savanne vermutlich über längere Zeit eher von Aas ernährten. Sie hätten, ähnlich wie heute Hyänen, am Rand der Savanne warten müssen, bis Raubtiere wie Löwen fertig mit der Mahlzeit gewesen seien. Es sei leichter gewesen, sich gegen Hyänen und Geier durchzusetzen als gegen Löwen. Deshalb wurde der Löwe bewundert. Gut möglich, dass göttliche Symbole darum nicht selten Löwen waren. Erst als der Mensch begann, das Feuer zu manipulieren, haben sich die Herrschaftsverhältnisse zu wandeln begonnen. Das war vor etwa 300 000 bis 400 000 Jahren.

Die Bewunderung für den Löwen schlägt sich in der Kulturgeschichte des Menschen nieder. Löwen waren durch Darstellungen bereits in der Spätantike auch in der Schweiz bekannt. Ein Mosaik-Medaillon in einer römischen Villa in Vallon FR von 230 nach Christus zeigt einen Gladiator mit einem Löwen. Obwohl es ja auch in der Schweiz Amphitheater gab, wie etwa in Avenches VD, wurden hier, wie Knochenfunde zeigen, kaum Löwen eingesetzt, sondern Bären. Der Herrscher der Savanne ist Symbol für Könige. So haben sich die äthiopischen Kaiser mit Kronen aus Löwenhaar geschmückt. Kaiser Menelek II. zeigt sich auf einer Fotografie aus dem Jahr 1896 mit Krone aus Löwenhaar neben einem präparierten Löwenmännchen. Auch die Haartracht der Rastafari, die zu Zöpfchen geflochtenen Haare oder Dreadlocks, sollen an die Löwenkrone des äthiopischen Kaisers erinnern. Die Rastafari sind eine Glaubensrichtung aus Jamaika, die sich auf die Kaiser Äthiopiens beziehen. Die Herrscher Äthiopiens sahen sich als Löwe Judas, eine Bezeichnung, die ihren Ursprung in der biblischen Genesis hat. Der israelitische Stamm des Juda führte einen Löwen als Symbol.

«In Zürich tänzeln Löwen an Fassaden und im Briefkopf der Behörden.»

Der Löwe gehört zu den am meisten im Alten Testament erwähnten Tieren, ganz im Gegensatz zum Koran, wo er nur einmal vorkommt, obwohl Löwen in der islamischen Kunst und Kultur durchaus wichtige Motive darstellen. Im Orient wurde die Jagd auf Löwen regelmässig beschrieben, doch in der Bibel findet sie nur wenig Erwähnung. In Metaphern werden Löwen häufig genannt, um den Mut und die Stärke von Helden oder Volksstämmen herauszustellen. Im Orient und in Israel kamen historische Löwendarstellungen zum Vorschein. Die biblische Geschichte von Daniel in der Löwengrube setzt voraus, dass bereits in alttestamentlicher Zeit Löwen in Gruben gehalten wurden.

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In der Höhle des Löwen

Auch in der christlichen Tradition ist der Löwe symbolhaft. Der englische Schriftsteller Clive Staples Lewis (1898–1963) hat in seinen weltberühmten Narnia-Büchern, die auch verfilmt wurden, Aslan, dem Löwen, die Rolle Jesu übertragen. Mit den vier Evangelisten sind religionsgeschichtlich Symbole verbunden. Das Symbol des Evangelisten Markus ist der Löwe. Und er steht nicht nur als Symbol für die Stadt Venedig, sondern auch für Zürich. Stadt und Kanton führen dasselbe Wappen mit dem «Zürileu». Der Löwe ist das wohl beliebteste Tier der Heraldik. Speziell in Zürich tänzeln Löwen an steinernen Fassaden und im Briefkopf der städtischen Behörden oder thronen stolz als Denkmäler, so beispielsweise bei Zürich Enge. Der lebensecht dargestellte Löwe aus Stein stammt vom Bildhauer Urs Eggenschwiler (1849–1923), einem Tierfreund und Menagerie-Besitzer. Der ursprünglich in Matzendorf SO geborene Eggenschwyler betrieb auf dem Milchbuck in Zürich eine Menagerie. Dazu gehörten auch Löwen. Es soll für ihn nichts Schöneres gegeben haben, als mit einem zahmen Löwen in die Stadt zu spazieren. Das habe aber Ärger mit der Polizei gegeben, die um die Sicherheit der Bevölkerung fürchtete, sodass der eigenwillige Tierfreund nur noch nachts mit seinem Löwen unterwegs war.

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Luzern ist bekannt für das Löwendenkmal, eines der meistbesuchten Touristenziele der Stadt am Vierwaldstättersee. Es erinnert an die 1792 im Kampf des revolutionären Sturms in Paris gefallenen Schweizer Gardisten und wurde in Anlehnung an antike Vorbilder geschaffen. Der Löwe als tapferer Kämpfer bis zuletzt. Und schliesslich sind da überall im Land Gasthöfe mit dem Namen Löwen. Gemäss einer Untersuchung des Wirteverbandes soll es um die 245 Restaurants geben, die diesen Namen tragen. Vermutlich hat sich in einem Gasthof namens Löwen schon mancher in die Höhle des Löwen begeben, was bedeutet, dass er dort eine Person traf, die Macht hat und von ihr nichts Gutes zu erwarten ist. Oder jemand hat sich den Löwenanteil am Essen gesichert, hat Löwenmut mit dem Äussern seiner Meinung bewiesen, oder manch ein Partylöwe schlich sich zur Abendveranstaltung ins Lokal. Löwen haben sich auch im Wortgebrauch eingenistet. Und sie standen Pate für die TV-Sendung «Höhle der Löwen».

Löwenbabys in der Savanne

Mit dem Aufkommen des Kolonialismus drangen Grosswildjäger in afrikanische Savannen vor. Die Begegnung mit Löwen verlief nicht immer gut. Davon zeugt ein Löwenschädel im Naturhistorischen Museum Bern. Am 1. Oktober 1924 tötete im heutigen Uganda ein Löwe Bernard von Wattenwyl, nachdem er angeschossen wurde. Auch das Tier erlag seinen Verletzungen. Der in London lebende Spross einer Berner Familie erlegte in Ost- und Zentralafrika Tiere, die als Dermoplastiken in naturgetreu gestalteten Dioramen schon damals im Naturhistorischen Museum Bern ausgestellt wurden und bis heute begeistern.

SCHON GEWUSST?
Löwen in Europa

Löwen sind keine rein tropischen Tiere. Sie kamen auch in Europa vor. So beweisen Funde aus Ungarn, dass sie bis in die Bronzezeit (2200 bis 800 vor Christus) in Mitteleuropa lebten. In Griechenland starben sie im 1. Jahrhundert vor Christus aus.

Eine andere Wende nahm die Begegnung George Adamsons mit einer Löwin im Busch. Sie ist im Buch seiner Frau Joy «Elsa the Story of a Lioness» überliefert, das 1961 in London erschien. Adamson war Wildhüter und Joys dritter Mann. Der Engländer, der in Indien geboren wurde, übersiedelte nach Kenia, Joy wurde in Österreich geboren. Die beiden liessen sich in der nördlichen Grenzprovinz Kenias, wo Georg Wildhüter war, nieder. 1956 brachte George drei Löwenbabys nach Hause, deren Mutter er aus Notwehr erschoss, weil er im Busch von ihr überrascht wurde. Das Paar lebte mit den drei. Joy schreib: «Unser Klippschliefer Pati-Pati übernahm sofort die Rolle als Ziehvater.» Zwei Löwen verkauften sie als Erwachsene an den Zoo Rotterdam, doch Elsa behielten sie und gewöhnten sie an das Leben in der Savanne. Das Buch endet mit den Zeilen: «Wir besuchten Elsa regelmässig. Auch wenn sie erfreut war, uns zu sehen, war es offensichtlich, dass sie es ohne uns machen konnte.» Elsa hatte sich auf natürliche Weise fortgepflanzt und führte den Adamsons ihre drei Jungen vor. Die Bilder mit den Adamsons und Elsa brannten sich im Gedächtnis von Millionen ein.