Später als sonst machte sich Heinrich Haller an diesem Samstagmorgen im November 2004 auf den Weg in die Höhe. Der damalige Direktor des Schweizerischen Nationalparks (SNP) beschäftigte sich schon länger mit Wilderei – von 1997 bis ins Jahr 2015 machte er insgesamt 1020 persönliche Feldbegehungen für seine Recherche. Dieser Tag war einer davon. «Natürlich hatte ich die Absicht, Spuren zu finden», sagt der Biologe. Draussen waren Sonderjäger unterwegs, um den Hirschbestand zu regulieren. Nahe der Grenze zu Italien traf er auf einen bekannten Jäger, der ihm eine seltsame Beobachtung schilderte: Zwei Männer seien frühmorgens über die Grenze in das italienische Tal Livigno vorgedrungen – ein sehr beliebtes Ziel für Wilderer. Einer der beiden Herren sei etwas später zurückgekommen, der andere nicht. «Was ist da los?», dachte sich Haller. Die Verdächtigen hatten zu Hallers Glück Spuren im Schnee hinterlassen. «Angst hatte ich keine, aber Respekt. Ich war mir des Risikos bewusst und suchte die Spannung auch ein wenig», beschreibt Haller zurückblickend. Die Spuren führten in ein Gebiet, welches bekannt war für Hirsche und Gämsen.

Unmittelbar an der gemeinsamen Grenze des Schweizerischen Nationalparks und des italienischen Nationalparks Stilfser Joch stand Haller vor dem ersten Akt eines Wildererfalls: ein toter Hirsch, genauer gesagt ein ungerader Vierzehnender – eine attraktive Beute für Frevler. Haller machte sich auf den Heimweg und schlug umgehend Alarm, die Polizei, die Grenzwache und die kantonale Wildhut wurden eingeschaltet und wichtige Durchgänge wurden besetzt. Am nächsten Tag fand Haller oberhalb des Hirschkadavers noch den zweiten Akt des Wildererfalls: zwei tote Gämsen und einen Steinadler. Zwei Tage lang wurden die Wildererbeuten bewacht, am dritten Tag verliess auch Haller seinen Posten. Im letzten Akt des Falls holte sich der Wilderer, wahrscheinlich mit Komplizen, die Huftiertrophäen und den Steinadler. Die Überreste der Tiere liessen sie zurück – einer der grössten Wildereifälle in der Geschichte des SNP. «Dieser Fall brachte die Wende in der Wilderei-Abwehr», erklärt Haller. Es brauchte eine Zusammenarbeit der Behörden, einschliesslich jenen der angrenzenden Länder. «Wilderer agieren oft grenzübergreifend. Das erschwerte deren Verfolgung massiv», erklärt Haller.

Von Missetaten und Verstössen

Wilderei wird umgangssprachlich häufig mit illegaler Trophäenjagd gleichgesetzt, diese Definition ist aber unvollständig. Zusammengefasst ist Wilderei, die illegale Jagd auf Tiere. Wie die Staatsanwaltschaft Graubünden informiert, wird Wilderei im rechtlichen Sinne als Zuwiderhandlung gegen das Jagd- und Waffengesetz definiert. Wilderei gibt es aber nicht als eigenen Strafbestand. Wilderer machen sich strafbar, weil sie ohne Jagdfähigkeit oder Jagdpatent, beispielsweise ausserhalb der Jagdzeiten, mit einer Waffe durch den Wald gehen und im schlimmsten Fall jagen, obwohl sie es nicht dürften. Jagen ist also Jägern mit Jagderlaubnis vorbehalten. Um die Jagdfähigkeit zu erhalten, müssen angehende Jäger eine 1,5- bis 2,5-jährige Ausbildung durchlaufen, in der sie sich Wissen zu Tieren, Natur, den relevanten Gesetzesbestimmungen und den Waffen aneignen müssen. Wer jagdfähig ist, braucht zudem ein Jagdpatent oder einen Jagdpass. Die Jagdzeiten und die erlaubten Beuten sind genau festgelegt. Haller konkretisiert in seiner Publikation «Wilderei im rätischen Dreiländereck» die Definition von Wilderei. Zur Wilderei gehört auch das Erlegen von geschützten Arten, der Abschuss von Huftieren während der Bündner Niederjagd (kleinere Wildtiere wie Hasen oder Füchse) sowie das Erlegen von anderen Huftieren bei der Regulierungsjagd auf Hirsche. Zudem ist jede jagdliche Verletzung der Landesgrenzen Wilderei – im rätischen Dreiländereck war das keine Seltenheit.

Frevel

Im Mittelalter war die Jagd ein Privileg der Obrigkeiten und erst später durften auch andere Gesellschaftsschichten jagen. So wurde im Graubünden 1526 die staatliche Volksjagd eingeführt, die sich – wenn auch modern organisiert – gebietsweise bis heute erhalten hat. Wildfleisch hat die Speisepläne der Menschen ergänzt, war früher gar überlebenswichtig. «Dieser Punkt darf auch bei der Wilderei nicht vernachlässigt werden», erklärt Haller. Besonders während der Weltkriege war Wilderei weit verbreitet. Die Gämse war die einzige Grosswildart, die in der Schweiz stets in ansehnlichen Beständen zu überleben vermochte. Die Tiere wurden mit Fallen gejagt, die sich über Jahrhunderte bewährt hatten. Er berichtet, dass nur einzelne Fälle öffentlich wurden und heute aktenkundig sind.

Eine weitere ergiebige Wildfleischressource waren Murmeltiere. Sie wurden gejagt, wenn sie am verletzlichsten waren, und zwar während ihres Winterschlafs – Frevler gruben die schlummernden Tiere aus. Obwohl Graubünden das Ausgraben von Murmeltieren in den Winterbauen bereits 1827 verbot, waren Murmeltiergräber örtlich bis ins 20. Jahrhundert am Werk. Dies betraf in erster Linie Frevler aus Livigno, die im Spätherbst über Grenzpässe kamen und in den Engadiner Seitentälern ihr mühsames Handwerk betrieben. Die Murmeltiere wurden entweder gleich erstochen oder als schlafende Tiere und somit als lebende Vorräte nach Hause gebracht. Murmeltierfleisch ist nährstoff- und fettreich und war für Menschen ohne Waffe oder grosse Fallen der einzige Weg, um an Wildfleisch zu kommen. Wildereifälle nahmen aus historischer Sicht mit dem wirtschaftlichen Aufschwung ab. Haller erklärt: «Früher wurde vor allem gewildert, um den eigenen Speise-plan aufzustocken. Heute stehen Trophäen im Fokus.» Zudem habe der illegale Abschuss von Grossraubtieren wie Luchs und Wolf zugenommen.

Schweizer Fälle sind marginal

«Wilderer sind meistens gute Jäger», sagt Haller. Tiere anzuschiessen und dann nicht behändigen zu können, liege aus mehreren Gründen nicht in ihrem Interesse. «Wenn das Tier nicht liegen bleibt, ist es meist verloren. Dadurch hinterlässt der Wilderer Spuren», führt er aus. Wilderer benutzen oft Kleinkaliberwaffen – weil sie einfacher zu verstecken und meist leiser sind. Er ergänzt: «Manchmal benutzen sie auch Schalldämpfer. Diese vermögen den Schusslärm aber in der Regel nicht derart zu unterdrücken, wie man dies beispielsweise aus Kriminalfilmen kennt.» International ist Wilderei längst Teil der organisierten Kriminalität, denn der illegale Handel mit Wildtieren ist ein überaus lukratives Geschäft. Zur Situation in der Schweiz sagt Haller: «Hier ist die Jagd sehr streng reguliert und im internationalen Vergleich ist die Anzahl Wildererfälle gering.» National wird keine offizielle Statistik geführt. Auch die Staatsanwaltschaft Graubünden führt dazu keine Statistik, da Wilderei erfahrungsgemäss selten vorkomme. Es handle sich dabei um drei bis vier Verstösse pro Jahr.

Internationale Zusammenarbeit

In den 2000er-Jahren kam es im Umfeld des SNP zu mehreren Fällen von Wilderei. Nach dem Wildereifall im November 2004 initiierte Haller mit seinen Mitarbeitenden die behörden- und grenzübergreifende Zusammenarbeit gegen Wilderei. Im Jahr 2005 schlossen sich die Polizeikorps der beteiligten Länder, die Schweizer Grenzwache, die jeweiligen Ämter für Jagd und Fischerei, mit dem Schweizerischen Nationalpark und dem Nationalpark Stilfer Joch zusammen – die Arbeitsgruppe Wilderei wurde von der Kantonspolizei Graubünden geleitet. Sie förderte den Informationsaustausch, glich Daten miteinander ab und führte regelmässige gemeinsame Grosskontrollen durch, meistens dreimal im Spätsommer und Herbst. Sie agierten in Beobachtungsteams, einschliesslich Kontrollflügen, und informierten die Medien. «Mit diesen wollten wir vor allem Wilderer abschrecken», sagt Haller. Die Arbeitsgruppe zeigte lokal Wirkung: Die Zahl der Fälle ging in der jüngeren Vergangenheit zurück; im SNP wurde zwischen 2006 und 2018 keine Wildereraktivitäten mehr festgestellt.

[IMG 2]