Von einem Schandfleck zu sprechen, wäre übertrieben. Aber bis vor fünf Jahren war die Naherholungszone «Chly Rhy» am Rietheimer Rheinufer zwischen Bad Zurzach und Koblenz alles andere als ein Bijou. Statt der ehemaligen artenreichen Auenlandschaft mit ihren Riedwiesen, die der aargauischen Gemeinde einst ihren Namen gaben, fanden die Besucher eine Baubrache vor, aufgeforstet mit nordamerikanischen Hybridpappeln und umgeben von intensiv genutzten Landwirtschaftsflächen. Wilde, urtümliche Natur sieht anders aus ...

... und zwar eher so wie heute. Denn die verlorene Aue ist zurück. In den Jahren 2014 und 2015 aufwendig renaturiert, umfasst sie ein sich regelmässig durch Hochwasser, Geschiebe und Schwemmholz veränderndes Mosaik aus Lebensräumen. Darunter Rinnen, Tümpel, Weiher, Sandbänke, Kiesflächen, Feuchtwiesen und Weichholzauen. «Bei Letzteren handelte es sich um Wälder, die regelmässig überschwemmt werden», erklärt Ulysses Witzig, der das Renaturierungsprojekt damals für Pro Natura leitete, zusammen mit der kantonalen Abteilung Landschaft und Gewässer. 

70 Prozent aller Auen zerstört
Herzstück und Lebensader des 35 Hektar gros­sen Naturschutzgebiets bleibt aber der Chly Rhy. Ein anderthalb Kilometer langer Seitenarm des Hochrheins, dessen Bett nach fast 100 Jahren endlich wieder Wasser führt. Keine Selbstverständlichkeit, wie die Geschichte zeigt.

Im 19. Jahrhundert wurde der grossflächig mäandernde Rhein über weite Strecken begradigt. Andere Fliessgewässer ereilte dasselbe Schicksal. Laut Bundesamt für Umwelt verschwanden seit 1850 in der Schweiz 70 Prozent aller Auen. Im Kanton Aargau waren es in den letzten 200 Jahren sogar 88 Prozent. «Man glaubte damals, man könne die Flüsse durch eine Kanalisierung bändigen und – vom Landgewinn einmal abgesehen – die Bevölkerung und die Äcker der Bauern damit vor Hochwasser schützen», sagt Witzig. So auch in Rietheim, wo man in den 1920er-Jahren das Rheinufer anhob und gleichzeitig den Zufluss zum Chly Rhy zuschüttete. Den Menschen sei nicht bewusst gewesen, fügt der diplomierte Geograf hinzu, dass eine Fluss- und Auenlandschaft, der man genügend Raum lasse, diese Aufgabe besser meistern kann.

Genauso wenig bewusst war ihnen wohl, dass Auen rund 40 Prozent aller Pflanzen- und 80 Prozent aller Tierarten beherbergen können, die hierzulande vorkommen. Oder es war ihnen egal. Denn um 1960 erfolgte in Rietheim der nächste grosse Eingriff. Weil man damit liebäugelte, ein Wasserkraftwerk zu bauen, wurde die komplette Chly-Rhy-Mündung aufgeschüttet. Kurz darauf kam mit Beznau das erste Schweizer Kernkraftwerk. «Da Atomstrom deutlich rentabler ist, liess man die Pläne für das Flusskraftwerk aber wieder fallen», sagt Witzig. Der Schaden an der Natur war freilich längst angerichtet.

1993 nahm das Aargauer Stimmvolk schliesslich einen Verfassungsartikel an, der besagt, dass der Kanton auf mindestens einem Prozent seiner Fläche einen Auenschutzpark (bestehend aus mehreren Auen) errichten muss. Beste Voraussetzungen, um die ehemalige Auenlandschaft Chly Rhy wieder aufleben zu lassen. Dafür mussten Pro Natura und der Kanton das Land aber zuerst erwerben. «Ein Teil davon gehörte der Betreiberin des Thermalbads Zurzach. Die wollten darauf eigentlich einen Golfplatz errichten», erinnert sich der 46-Jährige. Zudem galt es, die Einwohner von Rietheim vom Projekt zu überzeugen. Allen voran die Landwirte.

Ein Paradies für Ornithologen
2014 fuhren endlich die Bagger auf. Insgesamt 130 000 Kubikmeter Sand, Kies und Erde wurden ausgehoben, verschoben und für andere regionale Bauprojekte eingesetzt, das Land komplett umgekrempelt und neu modelliert. Natürlich mussten auch die Zuchtpappeln weg. «Manche nannten uns wegen den Rodungen sogar Baummörder», sagt Witzig. Es sei jedoch darum gegangen, Platz für auentypische Arten zu schaffen. Etwa für seltene, heimische Schwarz-Pappeln, für Silberweiden und Deutsche Tamarisken. Oder Binsen, Seggen, Ried und Orchideen wie das Fleischfarbene Knabenkraut.

Die Mühe hat sich gelohnt, wie ein Besuch Anfang Mai zeigt. Denn die Aue lebt. Bereits auf den ersten Metern hört man eine Nachtigall trällern. Dann fliegt ein blau-rot schimmernder Eisvogel vorbei. Er baut seine Bruthöhlen in die sandigen Steilwände von Uferabbrüchen. Genauso wie die Uferschwalbe. «Das sind typische Auenbewohner. Sie gelten in der Schweiz als gefährdet», sagt Witzig, während ein paar Kolben- und Reiherenten auf dem Wasser vorbeitreiben.

Die Liste an Vögeln könnte beliebig fortgeführt werden: Pirole, Rohrsänger, Graureiher, Schwarzmilane ... Sogar der Flussregenpfeifer, von dem es in der Schweiz nur noch um die hundert Brutpaare gibt, lebt in der Aue Chly Rhy. Als Bodenbrüter besiedelt er trockene Sand- und Steinböden, auf denen genügsame Pionierpflanzen wachsen. Dasselbe gilt für die bodennistende Weidensandbiene. Sie ernährt sich vom Blütenstaub der Weiden. Sofern der Biber diese nicht vorher gefällt hat. Davon zeugen ein paar durchtrennte Stämme entlang des Weges.

Gelbbauchunke und Ringelnatter
Andernorts, in einem Weiher, sonnen sich ein paar Grünfrösche auf einem Stamm. Grünfrösche, erklärt Witzig, sei ein Überbegriff: «Damit sind Wasser-, See- und Teichfrösche gemeint, die nicht eindeutig einzuordnen sind.» Ebenso hier zu Hause ist die Gelbbauchunke. Sie legt ihren Laich in kleinere Tümpel und Pfützen, und zwar in solche, die sich schnell erwärmen, was die Entwicklung der Kaulquappen beschleunigt. Gerne sucht sie auch Stehgewässer, die im Herbst und Winter austrocknen und erst im Frühling wieder von Hochwasser oder Regen gespeist werden. Denn wo es längere Zeit kein Wasser hatte, hat es meist auch keine Fressfeinde.

«Ich hatte zweimal das Glück, einer Ringelnatter zu begegnen», erzählt Witzig. Diese ungiftige Schlange ist sehr scheu. Als hervorragende Schwimmerin kann sie bei Gefahr sogar buchstäblich untertauchen. Und dabei vielleicht einem Teich- oder Kammmolch begegnen. Oder einer Nase. Die vom Aussterben bedrohte Fischart bevorzugt abwechslungsreiche Gewässertypen, wie sie in Auen vorkommen. Aber auch Bitterlinge, Döbel, Hechte oder das auf eine sandige Sohle angewiesene Bachneunauge fühlen sich hier wohl.

Wie stark sich das Bild der Aue Chly Rhy in Zukunft verändern wird, bleibt offen. Der kanalisierte Rhein und das flussaufwärts liegende Wasserkraftwerk Rekingen bremsen die Dynamik. «Zum einen kommt nicht mehr so viel Geschiebe wie früher den Fluss herunter», sagt Witzig. Es würden mehr Sedimente weggetragen als zugeführt. Zum anderen sei das Gefälle nicht so stark, das Wasser fliesse eher gemächlich, was die Aue relativ stabil mache. Mit dem fortschreitenden Klimawandel könnte sich das aber wieder ändern.

Es ist zu hoffen, dass die Aue Chly Rhy den vielen Tieren und Pflanzen, die darin leben, noch lange erhalten bleibt. Genauso wie der Bevölkerung, die sie dank befestigten Wegen, Aussichtsplattformen sowie Feuer- und Badestellen – natürlich ausserhalb der Schutzzone – erkunden und geniessen kann. Dafür sorgen möchten auch Pro Natura, der Kanton Aargau und der Bund. Schliesslich ist die Aue Chly Rhy eines von 326 Objekten im Bundesinventar der Auen von nationaler Bedeutung.