Routiniert schlägt Reto Cittadini mit dem Steinhammer die Ecken einer Gneisplatte ab. Dann nimmt der 45-Jährige den 50-Kilo-Brocken, steigt mit ihm auf das Dach des Grottos und passt ihn an der vorgesehenen Stelle ein. Lange hat es gedauert, bis im Tessin die enormen Schneemassen dieses Winters auch in den Bergdörfern geschmolzen sind. «Doch nun können wir endlich wieder auf die Dächer steigen», schmunzelt Cittadini und beschlägt schon die nächste Platte. 

Reto Cittadini ist einer von noch 20 Teciatt im Tessin. Also ein Maurer und Dachdecker, der die traditionelle Kunst beherrscht, Steinplattendächer zu bauen und instand zu stellen. Eine spezifische Ausbildung gibt es nicht für dieses Handwerk, es wird von Generation zu Generation weitergegeben. Cittadini hat es von seinem Vater direkt auf dem Bau gelernt. «Jedes Dach ist ein eigenständiges Objekt und stellt neue Herausforderungen», sagt er. «Deshalb ist es unmöglich, diesen Beruf in einer dreijährigen Lehre, geschweige denn während eines Kurses zu lernen.» Seit elf Jahren leitet Cittadini seine eigene Firma in Ludiano im Bleniotal, beschäftigt zwei Angestellte und zieht bei grösseren Objekten weitere Freiberufler hinzu. 

Steinplattendächer sind teuer
Jährlich renovieren Cittadini und sein Team vier bis fünf Dächer vollständig und führen an weiteren rund zehn Objekten Unterhaltsarbeiten durch. Meist für Ortsansässige, aber sehr oft auch für Kunden aus der deutschen Schweiz. «Alles Kunden, die keine finanziellen Probleme haben», erzählt Cittadini, denn Steinplattendächer sind teuer. Pro Quadratmeter müsse man mit Kosten bis zu 1000 Franken rechnen.

Das liegt am hohen Aufwand für Material und Arbeit. Verlegt werden auf den Dächern Platten aus Gneis, auch «piode» genannt. Diese Steinplatten sind überaus widerstandsfähig und mit einer Lebensdauer von bis zu 300 Jahren sehr langlebig, während moderne Ziegel jeweils nach spätestens 50 Jahren ersetzt werden müssen.

Steinbrüche im Maggia- oder Calancatal liefern die Steinplatten als grob zugeschnittenes Rohmaterial direkt zum Teciatt auf die jeweilige Baustelle, der ihnen dort mit dem typischen Steinhammer die gewünschte Form gibt. Jede «pioda» wiegt rund 50 kg, und um einen Quadratmeter zu decken, sind sieben oder acht Platten nötig. 

Früher haben die Teciatt die schweren Platten ausschliesslich von Hand aufs Dach hinaufgetragen, heute setzen sie auch mechanische Hilfen ein. Wichtig ist, dass die verlegten Platten die richtige Neigung aufweisen und so übereinander gelegt werden, dass die bestmögliche Stabilität garantiert wird. Die Platten liegen auf einer soliden Holzstruktur, die gewöhnlich aus Lärchen- oder Tannenholz besteht.

Die Arbeit der Teciatt hängt stark vom Wetter ab. Am meisten zu tun gibt es von Frühling bis Herbst. Bei starken Regenfällen und im Winter, wenn Schnee auf den Dächern liegt, muss die Arbeit jedoch ruhen. An solchen Tagen erledigt Cittadini mit seinen Mitarbeitern Maurerarbeiten im Innern der Häuser. «Wir können unsere Einsätze nicht immer genau im Voraus planen, was jeweils mit den Bauherren zu vielen Diskussionen führt», erzählt er.

Seine Aufträge sind ganz verschieden: In einem Fall muss er das ganze Dach freilegen, die Dachbalken ersetzen und die Steinplatten neu verlegen. In einem andern Fall gilt es nur Ausbesserungsarbeiten auszuführen. Dabei achtet Cittadini akribisch darauf, dass das Gesamtbild möglichst genau dem des ursprünglichen Baus entspricht. «Wir bauen also zum Beispiel den First genau so nach, wie er ursprünglich war», erzählt er, «denn wir gehen davon aus, dass unsere Vorfahren wussten, warum sie ein Dach so und nicht anders gebaut haben».

Nachwuchsprobleme und Renaissance
Noch ein paar Jahre mehr Teciatt-Erfahrung als Reto Cittadini hat der 60-jährige Franco Varini, ein gebürtiger Locarneser. Seine Karriere begann er nach seiner Maurerlehre vor 40 Jahren in der Steinplatten-Dachdeckerfirma Cimaroli in Lostallo im Bündner Alpensüdtal Misox. Cimaroli war einer der wenigen Betriebe, die nach der Abwanderung der Bevölkerung aus den Tessiner Tälern und dem damit verbundenen Zerfall vieler landwirtschaftlicher Gebäude dieses traditionelle Handwerk weiter pflegten. 

Jahre später kehrte Varini ins Locarnese zurück und führt heute ein eigenes Unternehmen in Mosogno im Onsernonetal. Schon bald wollte der erfahrene Teciatt sein Wissen an Nachwuchskräfte weitergeben, doch weil der Beruf des Teciatt in den Ausbildungsprogrammen des Kantons nicht existiert, erhielt Franco Varini keine Erlaubnis Lehrlinge auszubilden. Trotzdem weihte er viele Jungen in die Geheimnisse dieses seltenen und anspruchsvollen Berufs ein. Leider seien viele später dann doch auf andere Berufe umgestiegen, sagt Varini.

In den 1990er-Jahren setzte im Tessin eine eigentliche Renaissance der Steinplattendächer ein, und Varini konnte mit seinen Mitarbeitern auch grosse Arbeiten an öffentlichen Gebäuden ausführen. Er glaubt an den Fortbestand des Teciatt-Handwerks. Entscheidend dafür sei, «dass Besitzer von Rustici diese traditionelle Architektur weiterhin achten und ihre Häuser auch in Zukunft mit Steinplatten decken lassen». 

Bei Zweitwohnsitzen gibt es kein Geld fürs Steindach

Wer Steinplattendächer saniert oder erneuert, kann finanzielle Unterstützung beantragen beim vom Schweizer Parlament 1991 gegründeten «Fonds Landschaft Schweiz» (FLS). Falls die Kriterien erfüllt sind, gewährt der FLS in der Regel einen Beitrag von maximal 15 Prozent an die Instandstellungskosten von Steinplattendächern. Nicht unterstützt werden allerdings Sanierungen von Steinplattendächern bei Zweitwohnsitzen, Neubauten sowie neubauwertigen Umbauten. 

Unterstützt werden hingegen Dachsanierungen von «landwirtschaftlich genutzten Gebäuden, die das Landschaftsbild prägen und deren Nutzung auch zur Erhaltung der örtlichen Kulturlandschaft beiträgt», wie Bruno Vanoni vom FLS erklärt. Aber auch Steinplattendächer von Gebäuden, die im öffentlichen Interesse erhalten werden sollten und für die betreffende Landschaft einen hohen Stellenwert haben.

Insgesamt hat der FLS im Tessin bisher 312 Projekte zur Pflege naturnaher Kulturlandschaften mit total 19,1 Millionen Franken unterstützt, am meisten von allen Kantonen. Ein typisches Projekt betrifft die Alpsiedlung Magnello im Val di Campo. Die Bewirtschaftung wurde Ende der 80er-Jahre aufgegeben, der Wald breitete sich aus. Doch 1990 nahm die Biobauernfamilie von Verena und Markus Senn das Käsen auf der Alp wieder auf. Ihr Wille zur Erhaltung der Alp führte 2005 zur Gründung einer Stiftung, die mithilfe des FLS unter anderem auch die Ställe und ihre Steinplattendächer sanft renovierte.