Melodiöser Meistersänger
Nistende Amseln auf dem Balkon
Was wäre der Frühsommer ohne Amselgesang? Schon im Morgengrauen jubilieren die schwarzen Männchen auf Tannenspitzen und Hausdächern. Welch grosse Freude, wenn Amseln auf dem Balkon brüten! Ein Blick in ihre Kinderstube.
Plötzlich liegen eines Abends Erde, Laub und Würzelchen auf dem Balkonboden. Amseln sind am Werk! Da, ein Flattern, schon sitzt das schwarze Männchen am Rand eines Balkonkistchens und stochert mit dem leuchtend dunkelgelben Schnabel in der Erde. Danach flattert es mit vollem Schnabel auf den Rand eines hängenden Topfes. Jetzt fliegt auch das braune Weibchen herbei, hält das Köpfchen schief. Das Paar erkundet einen Brutplatz. Anderntags dann die freudige Feststellung: ein Nest! Das Amselpaar hat es innerhalb nur eines Tages mitten in einem aufgehängten Grünlilien-Topf errichtet. Für die Pflanze nicht optimal, aus Amselsicht aber eine gute Nistplatzwahl. Das Nest ist wettergeschützt, weder Katzen noch Marder gelangen dazu, Elstern und Krähen wagen sich kaum, so nahe beim Fenster Nestraub zu betreiben.
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Eine spannende Zeit beginnt. Das Naturgeschehen spielt sich direkt vor dem Fenster ab. Die Amseln lassen sich nicht stören, warten nur kurz ab und fliegen auch zum Nest, wenn jemand auf dem Balkon ist und mit den Pflanzen hantiert. Die Vögel sind mit den Abläufen vertraut. So bleibt das Weibchen sogar auf dem Nest sitzen, wenn die Grünlilie im Topf, wo sich sein Nest befindet, gegossen wird. Es weiss: Die Annäherung gilt nicht ihm. Ganz anders ist es da mit den Katzen auf dem benachbarten, vergitterten Balkon. Sobald sie draussen sind, beginnt ein Riesengezeter, das Männchen fliegt gar Scheinangriffe gegen die Stubentiger.
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Bevor Amseln ein Nest bauen, finden sie sich zu Paaren zusammen. Das ist eine stressige Zeit, besonders für die Männchen. Bereits im Februar singen sie im Schein von Strassenlampen in die neblige Düsternis. Sie proklamieren potenziellen Rivalen: «Hier bin ich, das ist mein Revier, komm mir nicht zu nahe!» Ob in der Stadt, in Vororten: Amselreviere sind überall. Die Schweizerische Vogelwarte Sempach nennt einen Gesamtbestand von bis zu 700 000 Brutpaaren. Amselmännchen sind oft in Streitigkeiten miteinander verwickelt, zumal mit fortschreitender Tageslänge weitere Amseln aus Überwinterungsgebieten eintreffen. Es gibt nämlich solche, die im Winter bleiben, und andere, die es vorziehen, den Winter an den Gestaden des Mittelmeers zu verbringen.
Fliegt nun ein Neuankömmling arglos in ein besetztes Gebiet, kommt ihm der Revierinhaber mit gesenktem Kopf und geknicktem Schwanz entgegen. Die Haltung sagt aus: «Weg aus meinem Gebiet!» Oft versteht der Eindringling und sucht sofort das Weite. Oder er duckt sich und zeigt damit an, dass er seine unterlegene Rolle einsieht. Oder es kommt zum Kampf. Lautes Zetern, beide stürzen sich aufeinander, bilden gar einen Knäuel am Boden, flattern, hacken, bis einer der Kontrahenten das Weite sucht.
Nicht flugfähig und schon aus dem Nest
Meist beginnen Amseln früh im Jahr, nämlich im März, mit dem Nestbau. Doch Nester können noch bis in den Juni konstruiert werden. Ein Amselnest ist ein Kunstwerk, bestehend aus Zweigen, Pflanzenmaterial und feuchter Erde und Lehm. Zuerst wird mit Schlick eine Mulde oder Halterung konstruiert, dann werden Zweige und Würzelchen verbaut. Als Baumeisterin amtet das Weibchen, das Männchen singt und verteidigt das Revier. Das Terrain muss ja bald viele Regenwürmer hergeben, um den Nachwuchs zu füttern. Da darf es nicht sein, dass Eindringlinge die Nahrung streitig machen.
Nach dem Nestbau macht sich das ungute Gefühl breit, dass dem Paar etwas zugestossen sei. Zwei bis drei Tage lassen sich beide nicht mehr blicken. Dann ist da plötzlich ein Ei mit grünlicher Schale im Nest. Im Tagesrhythmus werden es mehr. Meist werden bis zu fünf Eier gelegt. Beide Partner brüten. Nach rund 14 Tagen schlüpfen die Jungen.
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Nun finden die Eltern kaum mehr Ruhe. Unermüdlich fliegen sie mit Regenwürmern und Insekten zum Nest, um die bettelnden, zuerst noch blinden Jungen zu füttern. Wenn sich der Nachwuchs entleert, kommt ein kompakter, weisser Ballen zum Vorschein. Die Altvögel warten darauf, und transportieren ihn ab. So bleibt das Nest stets sauber, Feinde werden nicht durch Kot angelockt. Die Jungen wachsen rasend schnell. Schon nach zwei Wochen verlassen sie das Nest, allerdings noch flugunfähig. Sie flattern auf den Balkonboden oder über die Brüstung und halten Kontakt zu den Eltern. Sie werden von ihnen versorgt und vertrauen auf ihre Tarnfarbe. Auf dem Kopf stehen Federstrahlen wie Härchen empor.
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Schon nach zwei Wochen ernähren sich die Jungen selbst. Mit jedem Tag nach dem Verlassen des Nests werden sie versierter, fliegen in Büsche und schliesslich in Bäume.
Das hellbraun gesprenkelte Gefieder weist die Jungen während gut drei Monaten als Nachwuchs aus. Dank diesem können sie jedes Amselrevier durchstreifen, ohne in Revierzwistigkeiten zu geraten. Erst im nächsten Frühling werden sich die Männchen unter ihnen einen Platz erkämpfen und darauf hoffen, ein Weibchen zu gewinnen. Wenn sie denn die schwierige Phase nach dem Ausfliegen überleben. Die Mortalität in diesem Stadium ist sehr hoch. Für Hauskatzen sind die Jungen eine leichte Beute.
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Gut eine Woche, nachdem die Jungen das Nest verlassen haben, zeitigt das Weibchen ein zweites Gelege. Bis zu vier Gelege pro Saison sind möglich, wobei die Anzahl Eier geringer wird. Zuletzt werden oft noch zwei Junge aufgezogen. Jetzt, im August, ist die Brutzeit abgeschlossen, die Jungen sind selbstständig und am Morgen ist es still – bis im nächsten Februar, wenn es wieder losgeht mit Jubilieren in der Frühe und in der Abenddämmerung, mit Revierkämpfen und Nestbau, hoffentlich wieder auf dem Balkon.
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