Aquamarinblau, Capriblau, Stahlblau oder Himmelblau – es gib viele Bezeichnungen für diese Farbe, die sinnbildlich für das Gewölbe über der Erde steht. Doch es stellt sich die Frage, wie blau Himmelblau ist. Denn der Himmel ist nicht immer und nicht überall gleich blau. Die Annahme etwa, dass es in der Höhe dunkler wird, traf schon Leonardo da Vinci vor mehreren hundert Jahren. Im 18. Jahrhundert wollte es der Genfer Naturforscher Horace Bénédict de Saussure genau wissen und baute ein Messgerät, eine Scheibe mit 53 Farbnuancen von der weissen 0 bis zur fast schwarzen 52.

Mit diesem Cyanometer im Gepäck bestieg er den Montblanc, hielt die Scheibe mit der Sonne im Rücken in die Höhe und verglich die Farben. Dasselbe taten gleichentags sein Sohn in Chamonix und eine dritte Person in Genf. «Das war gewissermassen die wissenschaftliche Methode, mit der er zeigte, dass der Himmel oben dunkler ist», sagt der Umweltnaturwissenschaftler und Künstler Roman Keller. Er beschäftigt sich mit seiner Partnerin Christina Hemauer, die in Zürich und im belgischen Gent Kunst studierte, seit über acht Jahren mit dem Himmel. Ihre Arbeiten mündeten in verschiedenen Ausstellungen. 

Sonnenlicht bewegt sich in Wellen

Gemäss de Saussures Aufzeichnungen war die dunkelste Nuance auf knapp 4800 Metern Höhe eine 39. Später benutzte auch der deutsche Naturforscher Alexander von Humboldt das Cyanometer auf seinen Expeditionen in Südamerika, wo er auf fast 6300 Metern auf dem Chimborazo in Ecuador eine 46 registrierte. Das Gespräch mit dem Künstlerduo Hemauer und Keller findet an einem typischen Wintertag statt. Der Himmel im Schweizer Mittelland ist weiss – maximal eine Eins auf dem Cyanometer. In den Bergen zeigt der Himmel derweil bei strahlendem Sonnenschein sein schönstes Blau.

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Sonnenlicht besteht aus vielen einzelnen Strahlen, die sich wie Wellen fortbewegen. Trifft es auf dem Weg von der Atmosphäre auf Teilchen in der Luft, wird es gestreut. Ist es beispielweise ein Regentropfen, sind die einzelnen Lichtstrahlen in ihren sogenannten Spek-tralfarben zu sehen wie bei einem Regenbogen, der aus Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett besteht. Jede Farbe hat eine andere Wellenlänge, rotes Licht eine lange und blaues eine sehr kurze. Dieses physikalische Prinzip nennt man Rayleigh-Streuung, zu Ehren seines Entdeckers im 19. Jahrhundert, des Engländers John William Strutt, bekannt als 3. Baron Rayleigh.

Steht die Sonne hoch am Firmament, ist der Weg des Lichtes durch die Atmosphäre zur Erde relativ kurz – und der Himmel erscheint blau. Beim Morgen- und Abendrot dagegen steht die Sonne tief am Himmel und das Licht muss eine lange Strecke zurücklegen. Zu sehen ist deshalb nur das rote Licht, während Teilchen in der Luft das blaue bald einmal abfangen. Überdies spielt auch die Grösse der Partikel in der Luft eine wichtige Rolle für die Himmelsfarbe. «Je kleiner sie sind, desto mehr wird das kurzwellige blaue Licht gestreut», erklärt Christina Hemauer.

In der Höhe habe es vor allem kleine Moleküle wie jene von Sauerstoff und Stickstoff, ergänzt RomanKeller. Deshalb ist der klare, wolkenlose Himmel dort tiefblau. «Unten schweben grössere Partikel wie Russ, Aerosole, Wassertropfen, Staub oder Kohle herum.» Von einer geschlossenen Wolkendecke einmal abgesehen, hat auch die Luftverschmutzung einen grossen Einfluss auf die Himmelsfarbe. Über ihre Beschäftigung mit dem Klima und mit dem Klimawandel stiessen Hemauer und Keller denn auch auf das Thema «Himmel».

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Sie fragten Wissenschaftler, ob der Mensch inZukunft die Farbe des Himmels mitbestimme. Es kamen drei interessante Antworten: Erstens, dass der Mensch die Himmelsfarbe schon lange verändere. Das habe sie wirklich überrascht, auf diese Antwort seien sie nicht vorbereitet gewesen. Dies, obwohl die Luftverschmutzung kein neues Phänomen ist. «In den 1960er- und 1970er-Jahren war es im Westen dunkler, da weniger Sonnenlicht durchkam», erklärt Keller. Das blaue Licht sei regelrecht gedimmt worden – bis man den Katalysator eingeführt habe.

Die emotionale Komponente der Himmelsfarbe

Ein grosses Thema seien auch die Kondensstreifenam Himmel. «Als während des Corona-Lockdowns im Frühling 2020 der Flugverkehr eingestellt wurde, hatten wir einen strahlend blauen Himmel», erinnert sich Hemauer. Ehrlicherweise, so Keller, müsse man aber auch sagen, dass in diesen Wochen wahnsinnig gutes Wetter herrschte. Das Duo hat dies dokumentiert: Elf Wochen lang fotografierten sie den Himmel jeden Tag mittags an derselben Stelle vor ihrem Haus in Zürich. Entstanden sind 77 Bilder mit viel strahlend blauem und teilweise weissem bis dunkelgrauem Himmel.

Die zweite Antwort der Klimatologen lautete, der Mensch werde die Himmelsfarbe weiter verändern. Gespalten waren sie bei der Frage, in welche Richtung dies geschieht – ob der Himmel weisser oder blauer werde. «Man kann nicht prognostizieren, wie sich die relative Luftfeuchtigkeit verhalten wird», erklärtHemauer. Denn je trockener die Luft, umso blauer der Himmel. Entscheidend für die Zukunft werde zudem sein, wo mehr relative Luftfeuchtigkeit sein werde, so Keller, ob auf den Kontinenten oder über dem Wasser. Auch darüber seien sich die Modellierer nicht einig.

Die dritte Antwort schliesslich ebnete den Weg zu Hemauers und Kellers künstlerischen Arbeiten. Die Wissenschaftler sagten, die Himmelsfarbe werde nicht wissenschaftlich beobachtet und gemessen. «Da fanden wir, hier muss die Kunst einspringen. Wir machen das», erinnert sich Keller. 2014 erstellten sie ihren eigenen Cyanometer, den Christina Hemauer mit weissen Handschuhen vorsichtig hervorholt und auf die dunklen Blautöne ab 36 zeigt. «Die sind schon sehr beeindruckend.» Die Himmelsfarbe habe eine hoch emotionale Komponente. In der Schweiz, so Keller, verbinden die meisten Menschen blauen Himmel mit Sommer und Wärme.

Experimentelle Ballonfahrten

Zwei Jahre nach dem Cyanometer entschieden sie: Jetzt gehen wir da hinauf. «Wir wollten wissen, wie es dort ist», sagt Keller. «Dort» heisst auf 17 bis 18 Kilometer Höhe, in der Stratosphäre und sozusagen in der zweiten Etage der Erdatmosphäre. Dafür bauten sie einen Ballon, fünf bis sechs Meter gross und mit 30 Kubikmeter Inhalt. Daran angehängt ist eine kleine Kiste mit dem ganzen Equipment: Videokamera, Fotoapparat, Temperaturmesser und GPS-Tracker. Der Solarballon fährt dank heisser Luft, die er selber produziert: «Unter der transparenten Hülle hat es eine Art Dreiecksstern mit schwarzer Folie, die sich aufwärmt, und dadurch entsteht warme Luft», beschreibt Hemauer das System. Das funktioniere, solange die Sonne scheint. Leider werde es aber im Ballon so heiss, dass die Folie während der Fahrt wegschmilzt, sagt Keller. Mit der Folge, dass sie für jede Fahrt einen neuen Ballon bauen mussten.

«Reines Blau ist langweilig, aber wenn Wolken auftreten, ist es ein Spektakel.»

Experimente mag der Fotograf die Fahrten nicht nennen, Hemauer widerspricht ihm. Die erste Fahrt sei schon ein Experiment gewesen. «Wir wussten ja nicht, wie hoch und wie weit der Ballon kommt. Ob wir ihn wieder finden und ob unsere Tracking-Künste gross genug sind.» Tatsächlich haben sie den Ballon beim ersten grossen Versuch kurze Zeit verloren, nachdem er in Genua startete. «Wir wussten nicht, dass die GPS-Tracker, welche die Koordinaten per SMS abschicken, auf ein paar tausend Metern Höhe ausser Gefecht sind», erklärt Keller lachend.

Der Mechanismus, durch den der Ballon nach zwei Stunden wieder hätte herunterkommen sollen, habe ebenfalls nicht funktioniert. Plötzlich kam eine Koordinate rein – aus Bosnien-Herzegowina. «Da man die Strömungen nachschauen kann, wussten wir, dass der Ballon hoch bis in die Stratosphäre gekommen war», sagt Keller. Eines ihrer Ziele haben sie damit erreicht: «Der Ballon war dort unterwegs, wo das Blau entsteht, wo man 90 Prozent der Atmosphäre unter sich hat. Weiter oben ist es schon schwarz.» Vor dieser ersten Fahrt hätten sie geschätzt, wie hoch er kommen könne. «Nun wussten wir es und haben es berechnet.»

Wie die Stratosphäre tönt

Einzig die Route könne man nicht oder kaum beeinflussen, nachdem man den Ballon losgelassen habe. Die drei weiteren Fahrten im Jahr 2016 führten einmal von Appenzell nach Tschechien, einmal vom Tessinin die Po-Ebene bis nach Piacenza und einmal vom Gemmipass an der Grenze der Kantone Bern und Wallis über die Alpen und die Po-Ebene bis nach Reggio Emilia in der Lombardei. Das Material einer der Fahrten nach Italien floss in ihre Installation «Voyages atmosphériques». Sie visualisiert die Welt da oben auf 17 bis 18 Kilometern, wo Menschen selten hinkommen.