Unsere Generation kann den Schweizer Gletschern dabei zusehen, wie sie wegschmelzen. Da, wo sich einst Hunderte von Metern dickes Eis über Felsen und Geröll schob, geben die Gletscher das unter ihnen liegende Land und neue Landschaften frei. Eine, die sich mit diesen Gletschervorfeldern besonders gut auskennt, ist Mary Leibundgut. Die Geografin und Botanikerin aus Bern hat mehr als hundert der über tausend Schweizer Gletscher besucht und das von ihnen freigegebene Land dokumentiert. Im Fokus stehen dabei unter anderem wertvolle Lebensräume wie die selten gewordenen Schwemmufergesellschaften mit Pflanzen wie der Zweifarbigen Segge.

Fasziniert ist Leibundgut nicht nur von der neu entstehenden Pflanzenwelt, sondern auch von den Fels- und Gerölllandschaften, die die jahrtausendelange Schleifarbeit der Gletscher gestaltet hat. Je nach Art und Härte des Gesteins liess sich dieses auf unterschiedliche Weise formen. Ein Lieblingsort von Leibundgut ist das Gletschervorfeld des Gauligletschers im Urbachtal im Berner Oberland. Dort sind in den letzten Jahrzehnten durch den Gletscherrückzug rund zehn Quadratkilometer neues Land entstanden. Das Gletscherschmelzwasser sammelt sich in vielen Seen und stürzt in spektakulären Kaskaden über Felsstufen in die Tiefe. An den flachen, sandigen Seeufern haben sich Rasen aus Pohlia-Moos gebildet. Im Schlamm der Uferzonen wächst Scheuchzers Wollgras und in den tieferen Lagen sind Torfböden mit Flachmooren entstanden. «Die vom Wildwasser gestalteten Schwemmebenen sind im Hinblick auf die Dynamik am faszinierendsten», sagt Leibundgut. Durch den schwankenden Abfluss des Schmelzwassers, die verzweigten und mäandrierenden Wasserläufe und kleinen Tümpel haben viele der neuen Landschaften den Charakter von Auen.

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Drohende Überflutung

Doch um viele dieser wertvollen alpinen Lebensräume macht sich Leibundgut grosse Sorgen. Gerade erst entstanden, sollen etliche von ihnen bereits wieder zerstört werden. Denn abseits der öffentlichen Wahrnehmung planen Energieversorger wie die Berner Kraftwerke (BKW) und die Axpo, die jungfräulichen Gebirgslandschaften zu fluten, um mit neuen oder grösseren Stauseen ihre Stromproduktion zu erhöhen. Der Bundesratsbericht «Analyse des Wasserkraftpotenzials der Gletscherschmelze» vom 6. Dezember 2024 ist hinsichtlich des neuen Produktionspotenzials geradezu euphorisch. Es heisst dort, aktuelle Modelle gingen davon aus, «dass die Gletscher bis ins Jahr 2100 rund 60 bis 90 Prozent ihres Eisvolumens verlieren werden. Dadurch werden Flächen frei, die unter anderen auch für die Erstellung von Speicherkraftwerken infrage kommen.» Das Potenzial von «heute bekannten Wasserkraftprojekten in periglazialen Gebieten, die bis 2050 realisiert werden könnten», taxiert der Bericht auf eine zusätzliche Jahresproduktion von rund 1470 Gigawattstunden (GWh) pro Jahr, davon 1130 GWh aus Neuanlagen. Für die «steuerbare Winterproduktion (Speicherkapazität) im periglazialen Umfeld» liege das Ausbaupotenzial gar bei 2430 GWh pro Jahr.

Hunger nach erneuerbarer Energie

Nach der Atomkatastrophe in Fukushima und angesichts von Klimawandel und Ukrainekrieg haben die Ansprüche der Energiewirtschaft gegenüber dem Natur- und Artenschutz erheblich an Gewicht gewonnen. Mit Energienotstandsszenarien schuf sie ein Klima, in dem sich viele von der Notwendigkeit neuer Wasserkraftwerke im Hochgebirge überzeugen liessen. Dabei hat die Wasserwirtschaft auch wertvolle Schwemmebenen im Blick, von denen nur ein Teil durch die Aufnahme in das Aueninventar geschützt ist.

Zwischen 1995 und 1998 hat das Bundesamt für Umwelt (Bafu) das Inventar der Gletschervorfelder und alpinen Schwemmebenen der Schweiz (Igles) erstellen lassen. Damit sollte der Auftrag des Natur- und Heimatschutzgesetzes NHG auch im alpinen Raum erfüllt werden. Von rund 1800 Gletschern und Firnfeldern des Gletscherinventars wurden die 227 bedeutendsten Gebiete für die nähere Untersuchung ausgewählt und von Botanikern und Geomorphologen beurteilt. Infolge der Bewertung wurden 66 Gletschervorfelder als alpine Auen von nationaler Bedeutung ins Aueninventar aufgenommen und sind seit 2001 durch die Auenverordnung geschützt.

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Aueninventar mit Lücken

Das Aueninventar müsste eigentlich regelmässig aktualisiert werden. Dies ist insofern von Bedeutung, als nur Auen, die vor 2023 in das nationale Inventar integriert wurden, vor einer Überflutung oder anderen Eingriffen geschützt sind. Seit der Bewertung 1998 sind allerdings mehr als 25 Jahre vergangen. Dabei gibt es keine anderen Lebensräume, die sich in dieser Zeit so stark verändert und an ökologischem Wert gewonnen haben wie die Gletschervorfelder.

«Von den Auengebieten sind nur noch klägliche Reste übrig.»

Mary Leibundgut Geografin und Botanikerin, Bern

Zu den Gebieten, die nach Auffassung von Leibundgut einen Schutzstatus erhalten müssten, gehören das Triftgebiet und die Schwemmebene unterhalb des Unteraargletschers, die durch die Erhöhung der Grimselstaumauer geflutet werden soll. Dabei geht es nicht nur um die Pflanzenwelt, sondern auch um eine Vielzahl von seltenen Insekten wie Zuckmücken, wirbellosen Tieren und Mikroorganismen, die auf das Leben im kalten Gletscherwasser spezialisiert sind. Pro Natura gab 2020 eine Studie in Auftrag, die eine Reihe von grösser gewordenen Gletschervorfeldern unter die Lupe nahm. Die Studie weist für die Vorfelder des Fiescher-, Oberaletsch-, Gorner- und Triftgletschers einen erhöhten Schutzbedarf aus. Den sie jedoch nicht geniessen, weil das Bafu das Aueninventar nicht aktualisiert. Die Wasserwirtschaft kann ihre Nutzungsprojekte für diese Gebiete entsprechend ungehindert vorantreiben.

Lästige Naturschutzorganisationen

Die einzigen, von denen sie bei der Umsetzung ihrer Vorhaben mitunter ausgebremst werden, sind Naturschutzorganisationen, die mit Einsprachen und Beschwerden auf die Einhaltung gesetzlicher Vorgaben und Schutzbestimmungen pochen. Da es dabei zu langen gerichtlichen Auseinandersetzungen kommen kann, wie dies bei der Grimselstaumauer und dem Triftgebiet der Fall ist, müssen sich Naturschutzorganisationen oft als Verhinderer und Blockierer der Energiewende verunglimpfen lassen. Dabei wurden gemäss der Gewässerschutzorganisation Aqua Viva in den letzten 15 Jahren 364 neue Wasserkraftwerke gebaut – und nur gegen neun Projekte Beschwerde erhoben.

Im Fokus der Kritik an den Umweltschutzverbänden stehen immer wieder die 16 Projekte, über deren Priorisierung am sogenannten Runden Tisch zwischen Energiewirtschaft, Naturschutzorganisationen und staatlichen Behörden verhandelt wurde. Von bürgerlicher Seite wird das Ergebnis des Runden Tisches gerne so dargestellt, als ob sich dieser auf die Umsetzung dieser Projekte «geeinigt» und die Umweltschutzorganisationen diese abgesegnet hätten. Naturschutzorganisationen, die sich dennoch für die Erhaltung der Trift oder gegen die Erhöhung der Grimselstaumauer einsetzen, sehen sich besonders scharfer Kritik ausgesetzt.

Da jedoch Details zu den 16 prioritären Projekten zum Zeitpunkt der Verhandlungen noch nicht ausgearbeitet waren, behielten sich die Naturschutzverbände ausdrücklich vor, Schritte dagegen einzuleiten, falls geltende Bestimmungen verletzt würden. Dies ist in der Abschlusserklärung des Runden Tischs Wasserkraft ausdrücklich so festgehalten: «Mit dieser Liste werden weder die projektspezifischen ordentlichen Bewilligungsverfahren präjudiziert noch werden die projektspezifischen Verbandsbeschwerderechte tangiert. Die Kompetenzen der zuständigen Behörden werden nicht beschnitten.» Auch im Abstimmungsbüchlein zum Bundesgesetz «Für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien», dem das Volk im Juni 2024 zustimmte, wurde dies festgehalten.

Wichtiges Verbandsbeschwerderecht

Im Zusammenhang mit den umstrittenen Stauseeprojekten lobbyieren die Energiekonzerne über ihre Vertreter im Parlament immer wieder massiv für die Einschränkung, Aushebelung oder gar Abschaffung des Verbandsbeschwerderechts der Naturschutzorganisationen. Doch die Präsidentin von Aqua Viva, Martina Munz, betont, dass die Naturschutzorganisationen mit ihren Beschwerden lediglich dafür sorgen, dass die Energieunternehmen das geltende Recht einhalten. Denn die eigentlich vorgeschriebene Abwägung zwischen wirtschaftlichen Interessen und dem Erhalt von Naturlandschaften und Biodiversität erfolgt oft sehr einseitig und ungenügend. Die politischen Attacken gegen das Verbandsbeschwerderecht als zentrales Instrument des Naturschutzes haben jedoch ein Ausmass angenommen, das Umweltschutzorganisationen wie WWF, Pro Natura oder Aqua Viva alarmiert.

Aqua Viva entschloss sich deswegen zu einem grossen Schritt und bot dem Kanton Bern Ende Februar 2025 Gespräche über den eventuellen Rückzug der Beschwerde gegen das Kraftwerksprojekt unterhalb des Triftgletschers an, damit das Verbandsbeschwerderecht und die bisherige Regelung zu den Ersatz- und Ausgleichsmassnahmen für zerstörte Landschaften erhalten bleiben. «Eine Beschneidung der bewährten Instrumente wäre nicht nur ein herber Verlust für Natur und Landschaft, sondern würde auch die Glaubwürdigkeit der Politik und das Vertrauen in die Rechtssicherheit aufs Spiel setzen», erklärte Aqua Viva Präsidentin Martina Munz.

Viele Schwemmlandschaften bereits zerstört

Mary Leibundgut engagiert sich als Fachfrau mit ihren Gutachten und Vorträgen für den Erhalt zumindest der wertvollsten Gletschervorfelder und Schwemmebenen. Sie erinnert daran, dass im Zuge des Wasserkraftbooms der 50er- und 60er-Jahre bereits viele Schwemmebenen in den Alpen unter Wasser gesetzt wurden. Die Überflutung der Auen in der Grimsel durch die Kraftwerke Oberhasli ist nur ein Beispiel von vielen. Von den Auengebieten im Mittelland hat der Mensch schon im18. Jahrhundert 90 Prozent durch die Flusskorrektionen zerstört. «Viele Menschen haben gar keine Vorstellung davon, wie unsere Flusslandschaften einmal ausgesehen haben: mäandrierende Flüsse, deren Wasser in einem mehrere Hundert Meter breiten Flusstal mit Seitenarmen, Inseln, Tümpeln und Moorlandschaften dahinfloss oder auch einmal stehen blieb. Von den ursprünglichen Auengebieten im Flachland sind heute nur noch klägliche Reste übrig», bedauert Leibundgut. «Wer einmal erleben will, wie lebendig unsere Flüsse früher waren, kann sich heute nur noch anhand der Schwemmebenen im Hochgebirge ein Bild davon machen. Leibundgut hofft jetzt, «dass wir die zerstörerischen Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Wenigstens die artenreichsten und schönsten alpinen Flusslandschaften sollten wir erhalten», ist sie überzeugt.