Es ist Mai. Der Duft von Bärlauch liegt in der Luft. Aus den Bäumen erklingt eine Symphonie von Vogelgezwitscher. Das Plätschern eines Baches hallt durch die Schlucht. Und wüsste man es nicht besser, so müsste man glauben, dass jeden Moment ein paar Waldelfen oder Zwerge hinter dem nächsten Felsen hervorgetanzt kommen. – Aber weiss man es besser? Das Chaltbrunnental, man kann es nicht anders sagen, ist ein magischer Ort. Wildromantisch. Märchenhaft. Geheimnisvoll. Schon auf den ersten Metern spürt man die Kraft und Energie, die die Natur hier förmlich ausstrahlt. Doch der Reihe nach: Unsere Wanderung beginnt am Bahnhof in Grellingen BL. Von dort gehen wir gemütlich den Gleisen entlang: Fahrtrichtung Laufen, Delémont. Rechts unter uns fliesst träge die Birs. Sie trägt ein grünes Kleid, das in der Sonne funkelt. Weist uns den Weg. 

Nach ungefähr 25 Minuten erreichen wir die Eingangspforte zum Chaltbrunnental: das sogenannte Chessiloch mit seinem berühmten Wappenfels. Dieses in der Schweiz einmalige historische Denkmal erinnert an die militärischen Einheiten, die hier im Ersten Weltkrieg zwischen 1914 und 1918 die Eisenbahnbrücken vor einem möglichen Angriff deutscher Truppen schützen mussten. «Während der vierjährigen Grenzbesetzung», so heisst es auf einer Infotafel, «haben um die 60 Einheiten bei jedem Wetter hier ihren Wachdienst absolviert.» In ihren freien Stunden hingegen verewigten sich die Wehrmänner mit Hammer, Meissel und Farbe im Fels. Heute ist die Gedenkanlage mit ihren Feuerstellen  ein beliebtes Ausflugsziel für Familien.

Ein paar Meter weiter, wo der Ibach in die Birs mündet, biegt der Weg nach links ins eigentliche Tal ab. Von hier aus tauchen wir ein in eine andere Welt. Betreten nach wenigen Metern einen Wald, der naturbelassener nicht sein könnte. Überall liegen umgestürzte Bäume, Totholz. Es wuchert und blüht, raschelt und schwirrt, kreucht und fleucht. Wer möchte, kann dem freudig rauschenden Ibach entweder auf einem breiten Wanderweg oder auf einem schmalen, dafür etwas abenteuerlicheren Uferpfad entlanglaufen. Wie man sich auch entscheidet: Es folgen gurgelnde Stromschnellen, mäandernde Rinnsale, feuchte Felswände, schwemmholzgestaute Wasserfälle, pittoreske Brücken – und eine Reihe von urzeitlichen Höhlen. 

Das Wichtigste in Kürze
Allgemeines: Das Chaltbrunnental ist ein von Karsthöhlen durchdrungenes Naturreservat zwischen Grellingen BL, Brislach BL und Himmelried SO. Es gilt als beliebtes Ausflugsziel – von Frühling bis Herbst – zum Wandern, Bräteln und Verweilen. Gutes Schuhwerk wird empfohlen. Bei Schneefall, starkem Regen und Wind ist von einem Besuch abzuraten.

An-/Rückreise: Grellingen BL ist ab Basel SBB in einer guten Viertelstunde mit dem Zug (S3) zu erreichen.  Am Bahnhof Grellingen hat es zudem ein paar wenige, gebührenpflichtige Parkplätze.

Strecke: ca. 7,5 Kilometer und 140 Höhenmeter (von Grellingen Bahnhof bis Ibachmatten und zurück).

Wanderzeit: ca. 3 Stunden.

Tipp: Wer dem Karstlehrpfad bis Zwingen BL folgen will, findet Infos unter www.karstlehrpfad.ch.

Wichtiger Ort für unsere Vorfahren
In der Tat ist das Chaltbrunnental nicht nur ein Naturreservat, sondern auch wichtiger Teil eines bedeutenden Karstgebiets in der Schweiz. Das unterstreicht auch der mit Schautafeln bestückte Karstlehrpfad, der hier durchführt und weiter talaufwärts über die Brislachallmet bis nach Zwingen BL geht. Ein Karst ist, ganz einfach gesagt, eine Gebirgslandschaft, die massgeblich durch kohlensäurehaltiges Regen- und Oberflächenwasser geformt wurde. Wasser, das sich über die Jahrtausende in den Stein gefressen, ihn zerklüftet und ausgehöhlt hat. Im Falle des Chaltbrunnentals hat dieser Prozess rund zwei Millionen Jahre gedauert.

Dass die so geformten Höhlen bereits für Jäger und Sammler aus prähistorischer Zeit von Interesse waren, erstaunt nicht. Die Gegend gilt sogar als eine der wichtigsten Siedlungsstätten unserer Vorfahren in der letzten Eiszeit. So haben Forscher herausgefunden, dass die Neandertaler auf ihren Streifzügen vor über 50 000 Jahren hier immer wieder Unterschlupf gesucht und gefunden haben. Mehrere Ausgrabungen im letzten und vorletzten Jahrhundert – zum Beispiel in der Kohlerhöhle und der Heidenküche, an denen wir auch vorbeikommen – förderten zudem bis zu 23 000 Jahre alte Spuren des modernen Menschen (Homo sapiens sapiens) zutage. 

Zitronenfalter und Tagpfauenauge
Die bedeutendsten Funde stammen jedoch aus der Zeit von vor 16 000 bis 14 500 Jahren und umfassen unter anderem Tierknochen, Steinwerkzeuge, Teile von Jagdwaffen und Schmuckstücke. Sie gelten als die ältesten Zeugnisse des Jetztmenschen, die je in der Schweiz geborgen wurden. Heute dienen die Höhlen, Spalten und Schächte vor allem Tieren als Behausung, allen voran Fledermäusen wie der Weissrandfledermaus, der Mopsfledermaus und dem Grossen Mausohr. 

Wir ziehen weiter. Und wir lassen uns Zeit. Bleiben immer wieder stehen, um zu staunen. Zu viel gibt es hier zu entdecken. Auf einem morschen Baumstumpf etwa wachsen gelblich grüne Schwämme terrassenförmig in die Höhe. Etwas weiter vorne liegt ein tonnenschwerer Gesteinsbrocken. Er ist von einem dichten, weichen Moosteppich bedeckt. Und auch sonst gedeihen die unterschiedlichsten Pflanzen auf seiner harten, unwirtlichen Oberfläche. Da kommt plötzlich ein Zitronenfalter angeflogen. Und das dort, das könnte ein Tagpfauenauge sein. Dann fällt uns eine Spur im schlammigen Morast am Wegrand auf. Die Fährte eines Rehs vielleicht? Oder doch von einem Hirsch? Der Abdruck ist ziemlich gross. Und was ist das? Eine unglaublich schöne Blume, die ihr Köpfchen im lauen Luftzug wiegt ... 

So geht es weiter und weiter und weiter, bis wir nach rund einer Stunde (ab Chessiloch) die Ibachmatten erreichen: eine Lichtung, auf der sich an schönen Tagen Familien tummeln, ihre Cervelats an selbst geschnitzten Spiessen über dem Feuer bräteln und auf der Picknickdecke einen Jass klopfen. Wir könnten hier nun die Kaltbrunnentalstrasse überqueren und dem Ibach weiter folgen, bis hinauf nach Meltingen SO. Doch wir machen kehrt. Getrieben vom unbändigen Verlangen, erneut in diesen mystischen Wald einzutauchen. Er ruft uns. Zieht uns zurück, in sich hinein. Als hätte er einen Zauber auf uns gelegt. Wir sind uns fast sicher: Das müssen die Waldelfen gewesen sein.