Vom verträumten Bahnhof Sihlwald über eine Passerelle in den Wald – und alles bleibt zurück: die Hektik, der Verkehr, der Lärm. Nur noch leise dringt das Rauschen des Verkehrs auf der Sihltalstrasse ans Ohr. Nach ein paar Schritten zweigt ein Pfad vom Waldsträsschen ab und steigt bald steil in Richtung Albis an. Auf den ersten Metern unterscheidet er sich kaum von einem anderen Waldpfad. Doch dann liegt ein ver-modernder Baumstamm über dem Weg, ein paar Schritte weiter ein zweiter. «Sehen Sie», erklärt Mirella Wepf, Projektleiterin Kommunikation der Stiftung Wildnispark Zürich, «dieses Totholz wird nicht weggeräumt. Hier kommt ein natürlicher Kreislauf in Gang.»

Im Wildnispark im Sihlwald bleibt die Natur sich selbst überlassen. Bäume keimen, wachsen auf und werden zu stattlichen Riesen. Eines Tages sterben sie ab und werden wieder zu Humus. Seit dem Jahr 2000 greift hier – von wenigen Ausnahmen abgesehen – keine Säge und keine Axt ein. «Einige Wege werden aufgesägt, damit man durchkommt. An anderen Orten muss man halt selber schauen», erklärt Mirella Wepf. Menschen sind willkommen, doch die Natur kann sich frei entfalten. Wer ein traditionelles Bild des Waldes im Kopf hat, wird es hier, wo Stämme kreuz und quer liegen, als unordentlich empfinden. Doch der Schein trügt. Im Sihlwald herrscht durchaus Ordnung. Aber es ist seine eigene, natürliche Ordnung. Dieser Wald ist ein Lebensraum, wie es ihn sonst im Mittelland nicht gibt.

Natürlich, auch der Sihlwald ist vom menschlichen Wirken berührt. Die Sihltalstrasse, die ihn durchschneidet, die Lichtverschmutzung der Stadt, der Klimawandel, die Spuren der einstigen Nutzung beeinflussen ihn. Doch kommt er einem ursprünglichen Buchenmischwald so nah wie möglich. Wo der Mensch es zulässt, entwickelt sich der Wald in Richtung seiner ursprünglichen Form. So verschwinden etwa die standortfremden Fichtenplantagen nach und nach und machen Buchen und anderen Arten Platz.

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Wildnis erleben

Einst war der Sihlwald das Holzlager der Stadt Zürich. In vielen alten Stadthäusern dürfte Sihlwald-Holz stecken. Vor 150 Jahren wurde die Waldbahn gebaut, welche den Nordhang des Albis für die Holznutzung erschloss. Die Trassen waren so angelegt, dass die mit Brenn- und Bauholz beladenen Wagen der Schwerkraft folgend talwärts rollten. Hinaufgezogen wurden sie von Pferden oder Ochsen. Noch heute lässt sich mit etwas Fantasie erkennen, wo die Bahn einst verlief.

1986 hatte der Zürcher Stadtforstmeister Andreas Speich eine Idee, welche zu dieser Zeit revolutionär war: Der gesamte Sihlwald sollte zu einer Naturlandschaft werden. Speich gewann nicht nur Naturschutzorganisationen für die Idee, sondern auch die Zürcher Regierung. 2008 stimmte die Stadtzürcher Bevölkerung mit überwältigendem Mehr der Schaffung des Wildnisparks zu. 2010 erteilte der Bund dem Wildnispark Sihlwald das Label «Naturerlebnispark».

Heute ist der Naturerlebnispark rund zehn Qua-dratkilometer gross und erstreckt sich von Langnau am Albis bis nach Sihlbrugg und von der Krete der Albiskette bis auf die Höhe des Zimmerbergs. Die Natur-erlebniszone darf frei betreten werden, Grillieren ist an den offiziellen Feuerstellen erlaubt. In der vier Quadratkilometer grossen Kernzone haben sich die Menschen an die Wege zu halten. Feuer entfachen, Pilze oder Pflanzen sammeln ist verboten. Zur Stiftung Wildnispark gehört auch der einige Kilometer entfernte Tierpark Langenberg.

Der Naturerlebnispark liegt bewusst nah bei der Stadt Zürich. Zwei Millionen Menschen leben im Einzugs-gebiet und können vor der Haustüre Natur erleben und beobachten. Zugleich ist der Sihlwald auch ein Labor. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschen zu Themen wie der natürlichen Entwicklung im Wald, dem Lebensraum Quelle oder der Entwicklung des Brutvogelbestands.

Menschen seien nicht grundsätzlich ein Problem für die Natur, meint Isabelle Roth, stellvertretende Geschäftsführerin der Stiftung Wildnispark. «Wir müssen uns aber bewusst sein, dass der Lebensraum nicht uns allein gehört.» Dies bedeute Respekt: Nicht alles ist jederzeit überall möglich. Zu gewissen Zeiten wollen Tiere ungestört sein, etwa nachts oder wenn sie Junge aufziehen. Den Besucherinnen und Besuchern des Wildnisparks windet sie ein Kränzchen: «Sie halten sich gut an die Regeln.»

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Die Rückeroberung

In knapp einem Vierteljahrhundert hat die Natur den Sihlwald zu einem guten Teil zurückerobert. So ist der seltene Waldlaubsänger zurückgekehrt. Er ist auf«Unordnung» angewiesen, da sie dem Bodenbrüter Deckung gewährt. Für den Dreizehenspecht ist der Sihlwald mit seinem hohen Totholzbestand derzeit ein Schlaraffenland voller Insekten.

Für Laien weniger spektakulär, für die Wissenschaft jedoch umso mehr, ist die Entdeckung ausgestorben geglaubter Flechten-, Insekten- und Pilzarten. Sie sind für die Vielfalt des Lebens womöglich noch zentraler, denn: «Die Biodiversität ist unsere Lebensgrundlage», betont Isabelle Roth. Jedes Pflänzchen, jedes noch so unscheinbare Tierchen habe seine Funktion im Gefüge.

Kaum ist ein Baum abgestorben, dringen Legionen von Käfern und Insekten ein, die sich vom Holz ernähren. Auf der Oberfläche erscheinen Pilze, deren Myzel tief ins Material eindringt, wie etwa der Zunderschwamm oder der Austernseitling. Moose und Flechten siedeln sich an. Nach und nach wird das Holz mürbe, Rinde und Äste fallen ab. Eines Tages fällt der Baum um. Nun zerkleinern Bodenlebewesen wie Würmer, Schnecken, Asseln und Tausendfüsser das Holz weiter und bereiten es für Pilze und Bakterien vor. Am Ende bleibt vom Baum nichts übrig als Humus – nahrhafter Boden für eine nächste Baumgeneration.

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Schützen und nutzen

Isabelle Roth ist überzeugt, dass es mehr Gebiete braucht, die ganz der Natur überlassen werden. «Sie sind ein wichtiges Reservoir der Biodiversität.» Die Forstingenieurin plädiert für ein Nebeneinander und Miteinander von Nutzwald und Naturwaldreservaten. Denn der Wald hat, gerade in der dicht besiedelten Schweiz, eine ganze Reihe von Funktionen: als Nutz- oder Schutzwald, als Erholungsraum oder als natür-liches Wasserreservoir.

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Seit mehr als zwei Jahrzehnten beschränkt sich das menschliche Wirken im Sihlwald auf das Beobachten und Dokumentieren. «Unser Naturwaldmonitoring bietet wichtige Erkenntnisse für die Waldentwicklung im Mittelland», erklärt Roth. Und wie wird sich der Sihlwald weiterentwickeln? «Eine spannende Frage. Eine Zeitreise ins Jahr 2500 wäre interessant, denn Buchen können bis zu 500 Jahre alt und entsprechend riesig werden.»

Was ist ein Naturerlebnispark?Naturerlebnispärke sind Gebiete in der Nähe von dicht besiedelten Räumen, die in ihrer Kernzone der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt unberührte Lebensräume bieten. Die Kernzone ist durch eine Übergangszone abgepuffert. Diese eröffnet vielfältige Bildungs-, Erlebnis- und Erholungsmöglichkeiten und leistet einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität der städtischen Bevölkerung.

Quelle: Bundesamt für Umwelt (Bafu)