Rewilding
Wie die Natur zurückkehrt
Unberührte Landschaften sind selten geworden, doch Konzepte wie Rewilding gewinnen an Bedeutung. Dabei geht es nicht nur um den Schutz bestehender Naturgebiete, sondern auch um die Wiederherstellung natürlicher Prozesse und die Rückkehr heimischer Tierarten.
Wildnis ist kein naturwissenschaftlicher, sondern ein alltagssprachlicher Begriff mit kulturell geprägten Bedeutungen», erklärt Jan Gürke von Pro Natura. Er kann eine verwilderte Gartenecke ebenso bezeichnen wie eine grossflächige, unbesiedelte Landschaft. «Entscheidend ist, dass sich die Natur selbst entwickeln kann, ohne menschlichen Eingriff.» Genau dieses Prinzip steht im Mittelpunkt der wachsenden Rewilding-Bewegung: Trotz jahrtausendelanger Nutzung durch den Menschen bietet Europa überraschend viel Raum für die Wiederherstellungnatürlicher Ökosysteme. Eine Studie identifizierte rund 25 % der Landfläche als potenziell geeignet für Rewilding-Projekte. Der Europäische Grüne Deal verfolgt das Ziel, Europas Natur bis 2050 weitgehend zu regenerieren. Besonders vielversprechend sind Gebiete in Skandinavien, den baltischen Staaten, Schottland sowie die Bergregionen Spaniens und Portugals. Die Initiative Rewilding Europe hat bereits zehn Modellregionen ausgewählt, in denen durch gezielte Massnahmen neue Wildnis entsteht.
Auch die Schweiz engagiert sich für den Schutz derArtenvielfalt: Im Rahmen des globalen Biodiversitätsabkommens von Montreal soll auf 30 % der Landes-fläche die Biodiversität bewahrt werden. Eine treibende Kraft in diesem Bereich ist Pro Natura, eine der führenden Naturschutzorganisationen der Schweiz. Sie fördert gezielt Schutzgebiete mit freier Naturentwicklung und setzt sich für die Wiederherstellung natürlicher Ökosysteme ein. Mit über 800 Schutzgebieten trägt dieOrganisation massgeblich zum Erhalt der Natur bei.
Bedrohungen für Wildnisgebiete
Doch trotz dieser beeindruckenden Zahl gibt es in der Schweiz kaum noch vollständig unberührte Wildnis-gebiete. Laut Gürke finden sich aber in den Alpen oberhalb der Baumgrenze noch grössere zusammenhängende Flächen, die nur wenig vom Menschen beeinflusst sind. Aber auch in entlegenen Teilen der Südschweiz, im Jura, in den Voralpen und sogar im Mittelland gibt es «kleine wilde Ecken, die sich für eine ungestörteNaturentwicklung ohne menschliche Eingriffe eignen.» Laut Gürke weisen rund 17 % der Landesfläche der Schweiz eine hohe Wildnisqualität auf. «Das erscheint ebenfalls viel, aber nur ein sehr kleiner Prozentsatz davon steht unter Schutz», gibt Gürke zu bedenken. Zu den bekanntesten geschützten Wildnisgebieten gehört der Schweizerische Nationalpark im Engadin, der mit 170 km² das grösste Wildnisgebiet der Schweiz ist. «Seit über 100 Jahren greift der Mensch hier kaum mehr in die Natur ein», so Gürke. Ein Beispiel für wiedergewonnene Wildnis im Mittelland ist der Wildnispark Zürich im Sihlwald. «Seit 25 Jahren wird der Wald nicht mehr bewirtschaftet», erklärt Gürke. Die Kernzone dieses 11 km² grossen Naturerlebnisparks ist als Naturwaldreservat geschützt.
Wildnisgebiete stehen allerdings vor Herausforderungen. «Der Druck auf naturnahe Landschaften durch die Energiewirtschaft wächst», warnt Gürke. Besonders freiwerdende Gletscherflächen, die wertvolle Lebensräume für Flora und Fauna bieten, geraten ins Visier der Wasserkraft. «Dabei brauchen wir dringend mehrgrosse, gut vernetzte Schutzgebiete», betont Gürke. Naturerlebnispärke und Nationalpärke hält Gürke hier für einen wichtigen Schlüssel. In der Tat kann nach-haltiger Naturtourismus eine wertvolle Einkommensquelle für ländliche Regionen sein. Nationalpärke,Naturerlebnispärke und Wildnisgebiete ziehen Besucher an, die das authentische Naturerlebnis suchen. «Ein gut gemanagtes Schutzgebiet kann lokale Wirtschaftszweige wie Gastronomie, Hotellerie und Outdoor-Aktivitäten stärken», erklärt Gürke. Wichtig sei jedoch, dass der Tourismus nicht auf Kosten der Natur floriert.
Gefahren für Wildnisgebiete Energiewirtschaft: Wasserkraft-, Wind- und Freiflächensolaranlagen verdrängen natürliche Lebensräume.
Gletschervorfelder als Stauseen: Natürliche Dynamik wird durch Wassernutzung eingeschränkt.
Zersiedelung & Infrastruktur: Neue Strassen und Bauten zerschneiden naturnahe Gebiete.
Unterbrochene Wildtierkorridore: Erschwerte Wanderbewegungen für viele Arten.
Klimawandel: Schmelzende Gletscher und steigende Temperaturen bedrohen Ökosysteme.
Rewilding: Mehr als Naturschutz
Rewilding könnte hier helfen: Rewilding geht über den Schutz bestehender Wildnis hinaus – es setzt auf die aktive Wiederherstellung natürlicher Prozesse. «Dabei geht es nicht nur um unberührte Gebiete, sondern um die gezielte Renaturierung von Lebensräumen und die Rückkehr verschwundener Wildtiere», erklärt Gürke. Die Schweiz hat laut Gürke bereits einige bemerkenswerte Erfolge im Bereich der Wiederansiedlung von Wildtieren vorzuweisen. «Lange bevor der Begriff Rewilding aufkam, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts der Alpensteinbock in der Schweiz wiederangesiedelt.» Der Steinbock war hierzulande ausgestorben, bevor er mit Tieren aus Italien erfolgreich zurückgebracht wurde. «Heute leben gut 18 000 Tiere in den Schweizer Alpen – eine echte Erfolgsgeschichte.» Ähnlich verlief die Rückkehr des Luchses. «Seit den 1970er Jahren konnten sich Populationen im Jura, in den Voralpen und in den Alpen etablieren – heute gibt es über 300 Tiere», be-richtet Gürke.
Auch der Bartgeier, der Ende des 19. Jahrhunderts ausgerottet wurde, ist durch gezielte Wiederansiedlungsprojekte in die Alpen zurückgekehrt. «Seit den 1990er Jahren konnte dieser faszinierende Greifvogel erfolgreich wieder in der Schweiz angesiedelt werden, insbesondere in den Bündner und Walliser Alpen.» Der Waldrapp, ein auffälliger, schopftragender Ibis-Vogel, wird in der Schweiz ebenfalls wieder angesiedelt. Diese Vögel wurden in Menschenobhut gezüchtet und anschliessend mit Leichtflugzeugen auf ihre traditionelle Zugroute Richtung Süden geführt. «Solche Projekte zeigen, dass Wiederansiedlungen möglich sind, wenn die Ursachen für das ursprüngliche Verschwinden einer Art behoben wurden», sagt Gürke.
Entscheidend ist die Renaturierung der Lebensräume. «Auch grössere Gewässerrevitalisierungen gehören zum Rewilding, wenn die natürliche Dynamik danach ungehindert ablaufen kann», fügt Gürke hinzu. Ein Beispiel ist die Renaturierung von Flussauen. In vielen Regionen der Schweiz wurden Flüsse in den vergangenen Jahrzehnten stark reguliert, um Hochwasserschutz zu gewährleisten oder Flächen für die Landwirtschaft zu gewinnen. Doch inzwischen zeigt sich, dass naturnahe Flusslandschaften nicht nur die Biodiversität fördern, sondern auch ökologisch wertvolle Funktionen übernehmen. Auch Naturwaldreservate sind ein wichtiger Bestandteil von Rewilding. In diesen Gebieten werden keine Bäume mehr gefällt, sodass sich eine natürliche Waldentwicklung vollziehen kann. «Ein Naturwald benötigt mehrere hundert Jahre, um alle Stadien der Waldentwicklung zu durchlaufen», so Gürke.
Eines der spannendsten Rewilding-Projekte der letzten Jahre ist die Wiederansiedlung von Wisenten im Solothurner Jura. Wisente, die europäischen Verwandten des nordamerikanischen Bisons, waren in Westeuropa lange ausgestorben. Seit 2022 lebt eine überwachte Herde in einem weitläufigen Gehege im Naturpark Thal. «Im Jahr 2027 soll entschieden werden, ob die Herde sich gänzlich frei im Jura bewegen darf», erklärt Gürke. Das Projekt ist einzigartig, da es nicht nur um den Artenschutz geht, sondern auch um die Rolle von gros-sen Pflanzenfressern im Ökosystem. Wisente können durch ihre natürliche Lebensweise zur Strukturvielfalt in Wäldern beitragen, indem sie junge Bäume und Sträucher zurückdrängen und so offene Lichtungen schaffen. Dies kommt zahlreichen anderen Arten zugute.
Was ist der Unterschied?Wildnis: Naturgebiete, die sich selbst überlassen bleiben.
Rewilding: Aktive Massnahmen zur Förderung natürlicher Dynamiken (zum Beispiel Renaturierung von Flüssen oder Wiederansiedlung von Wildtieren).
Wege zur Koexistenz
Für die Landwirtschaft stellt das Wisent-Projekt allerdings eine Herausforderung dar. «Eine der zentralen Fragen ist, wie sich freilebende Wisente mit Weidewirtschaft, Ackerbau und Forstwirtschaft vertragen», so Gürke. Nutzungskonflikte entstehen oft, wenn Wildtiere zurückkehren oder ehemals genutzte Flächen für Renaturierungsmassnahmen ausgewiesen werden. Besonders die Rückkehr von grossen Beutegreifern wie Wolf, Bär und Luchs ist in der Landwirtschaft umstritten. Gürke betont jedoch: «Mit gezielten Herdenschutzmassnahmen können Nutztiere weitgehend geschützt werden.» Dazu gehören Herdenschutzhunde, Elektrozäune und die engere Begleitung von Weidetieren durch Hirten. Pro Natura hilft mit, den Herdenschutz in der Schweiz praktisch umzusetzen. «Sei es durch finanzielle Hilfe, Freiwilligeneinsätze oder Exkursionen, bei denen die Teilnehmer und Teilnehmerinnen das richtige Verhalten bei Begegnungen mit Herdenschutzhunden lernen», erklärt Gürke. Denn Rewilding sieht Gürke auch als Chance für Landwirte. «Wildnisgebiete bieten wertvolle Ökosystemdienstleistungen, die auch der Landwirtschaft zugutekommen. Artenreiche Wälder, naturnahe Flüsse und Moore speichern CO2, regulieren den Wasserhaushalt und schützen vor Hochwasser», erklärt Gürke. «Langfristig profitieren alle von einer intakten Natur – sei es durch nachhaltigen Tourismus, verbesserte Lebensräume oder eine stärkere Widerstandsfähigkeit gegenüber Klimaveränderungen.»
Rewilding-Gebiete in der Schweiz
Schweizerischer Nationalpark (Graubünden)
- Fläche: 170 km²
- Ältester Nationalpark der Alpen (seit 1914)
- Heimat von Steinböcken, Gämsen, Murmeltieren und Bartgeiern
Wildnispark Zürich – Sihlwald (Zürich)
Fläche: 11 km²
Seit 25 Jahren unbewirtschafteter Naturwald
Schutzgebiet für seltene Waldarten wie Schwarzspechte, Fledermäuse und Totholzpilze
Kombination aus Wildnisentwicklung und Besucherlenkung
Wisent-Projekt im Solothurner Jura (Naturpark Thal)
- Start: 2022
- Erste kontrollierte Wisent-Wiederansiedlung in der Schweiz
- Geplante Entscheidung über Freilassung bis 2027
Bartgeier-Wiederansiedlung (Bündner und Walliser Alpen)
- Start: 1990er Jahre
- Rückkehr des grössten Greifvogels der Alpen
- Erfolgreiche Populationen durch gezielte Auswilderung
Renaturierung von Flusslandschaften (schweizweit)
- Revitalisierung von Auenlandschaften für bedrohte Amphibien- und Fischarten
- Verbesserung von Fischwanderwegen (z. B. für Atlantischen Lachs)
- Natürliche Flussdynamik zur Förderung von Biodiversität
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