Die Landschaft ist endlos und weiss. Im dichten Schneegestöber harrt eine Herde Moschusochsen mit dichtem, eingeschneitem Zottelfell aus. Rentiere suchen nach Gräsern, die durch die Schneedecke stossen. Eiszeit. Mit dieser Szene beginnt der Dokumentarfilm «Unsere Wildnis». Er nimmt uns auf eine Zeitreise mit, zeigt uns die Wildnis Europas im Laufe der letzten 20 000 Jahre. 

Nach der Eiszeit taut es, riesige Wälder wachsen und bieten den Tieren ein Zuhause, dann taucht der Mensch auf, rodet die Wälder, zersägt Lebensräume, bildet aber auch neue: Felder, Wiesen, Häuser.

Die Naturdokumentation ist das neue Werk von Jacques Perrin, Frankreichs Tierfilm-Grossmeister. Er entführte uns schon 1996 mit «Mikrokosmos» in die Welt der Insekten, wurde später für «Nomaden der Lüfte» für den Dokumentar-Oscar nominiert und stach 2009 mit «Unsere Ozeane» in die Weltmeere.

Nun also Europas Landtiere. Ein schwieriges Unterfangen, gibt es doch schon unzählige Filme über das Leben in unseren Wäldern, Wiesen und Feldern. Doch Perrins Bildsprache ist einzigartig. Er versteht es wie kein Zweiter, Tiere für sich selber sprechen zu lassen. Mit ein paar kleinen Ton-Kniffen wird aus Wildschwein-Gegrunze plötzlich ein Dialog, die Raben verstehen einander, wenn sie mit ihren Schnäbeln klappern – und das Beste: Wir verstehen sie auch.

Nicht nur die Geräuschkulisse überzeugt in «Unsere Wildnis», sondern auch der Schnitt. Köstlich, wie das Käuzchen mit grossen Augen aus seinem Baumloch glotzt, als unter ihm ein Rehkitz zur Welt kommt. Aus offensichtlich gestellten Einzelszenen entsteht die Illusion spannender Verfolgungsjagden – zwischen Wölfen und Wildpferden, zwischen Luchs und Fuchs, zwischen Uhu und Igel.

Neben realen Naturbeobachtungen haben die Filmemacher auch zahme Tiere für den Film eingesetzt. Keine dressierten, sondern geprägte. Tiere also, die von Geburt auf an den Menschen gewöhnt wurden und deshalb keine Scheu vor der Kamera zeigen.

Eine Dimension zu viel
So toll die Bildsprache von «Unsere Wildnis» auch ist, phasenweise fühlt sich der Zuschauer dennoch etwas alleingelassen im Kinosaal. Perrin fehlt der Fokus. Zum einen reisen wir rasant durch die Jahrhunderte, zum anderen wirbeln wir durch die Jahreszeiten, «Les Saisons», wie der Film in der Originalsprache denn auch heisst. Kaum hat es geschneit, fallen die Blätter wieder vom Baum – ohne Kommentar, ohne Einordnung, zwei Dimensionen der Zeit sind eine zu viel.

Der gesprochene Text beschränkt sich auf wenige Sätze. So erfahren wir nicht, welcher Jungwolf den bildgewaltigen Rangkampf gewonnen hat. Und dass das merkwürdige Tier, das in einer Szene durchs Dickicht streicht, eine Ginsterkatze ist, müssen wir im Buch zum Film nachlesen.

Im gleichnamigen Buch, das parallel zu «Unsere Wildnis» erschienen ist, wird die Intention mit vielen Bildern aus dem Dokumentarfilm klar gemacht. Hier wird die Evolution von Tier und Mensch seit der letzten Eiszeit erklärt. Mehr oder weniger kindgerecht. In der Kombination ergibt sich dadurch ein tolles, lehrreiches Film-Text-Erlebnis ohne allzu erhobenen Zeigefinger. Schade, schafft der Dokumentarfilm das nicht alleine.

«Unsere Wildnis», Dokumentarfilm, 97 Minuten, Studio: Galatée Films, ab sofort im Deutschschweizer Kino.

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