Auf der Suche nach Knochen und Aas
Geier in der Schweiz
Geier erobern die Schweiz zurück. Bartgeier kreisen in den Alpen und Gänsegeier wandern im Sommer ein. Das war nicht immer so. Eine Erfolgsgeschichte über spektakuläre Vögel der Bergwelt.
Geier!», ruft ein niederländischer Tourist, der in den Abgrund späht. Eine Schar Leute mit Fotoapparaten, Feldstechern und Objektiven rückt an die Felskante und äugt nach dem Riesenvogel, der da der Felswand entlang gleitet. Auf der Gemmi oberhalb von Leukerbad im Wallis stehen die Chancen gut, den Bartgeier zu sehen. Das ist zwischenzeitlich in ganz Europa bekannt.
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Der spektakuläre Vogel verschwindet in der Ferne hinter einem schwarzen Wald, taucht bald wieder auf, schraubt sich der Bergflanke entlang in die Höhe und hält mit seinen orange umringten gelblichen Augen mit schwarzen Pupillen nach Knochen Ausschau. Schliesslich landet der Geier oberhalb der Bergstation der Gemmibahn auf der verschneiten Krete. Der Himmel ist stahlblau, das Bergpanorama umwerfend.
Was die Elefantenherde für die Savanne Afrikas, ist der Bartgeier für die Schweizer Alpen: eine Touristenattraktion. Auf der Gemmi stehen die Chancen gut, dass der grösste Vogel der Schweizer Berge beobachtet werden kann, besonders im März.
Das war nicht immer so. Viele Schauergeschichten kursierten um den Bartgeier. Er würde Schafe anfallen und Kleinkinder wegtragen. Zu solchen Äusserungen verstieg sich sogar der Theologe und Naturwissenschaftler Friedrich von Tschudi in seinem Standardwerk «Tierleben der Alpenwelt», das 1853 erstmals erschien. Die Kantone bezahlten damals gar Abschussprämien. Das Resultat: 1886 war der Bartgeier in der Schweiz ausgerottet, später im gesamten Alpenraum. Die Angst vor dem Vogel mit fast drei Metern Spannweite hatte ein Ende. Allerdings: Nichts von den Behauptungen stimmte. Doch, wie kam es dazu?
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Stefan Bachmann von Birdlife Schweiz, der nationalen Vogelschutzorganisation, sagt: «Nicht selten liegt solchen Geschichten eine Beobachtung zugrunde, die entweder falsch interpretiert oder sogar übertrieben oder erschwindelt wurde.» Schliesslich würden sich solche Gruselgeschichten auch einfach besser verbreiten als andere. Der Bartgeier hat sich auf eine Nahrung spezialisiert, die alle anderen Tiere übriglassen. Der frühere Schreck der Alpen ernährt sich nämlich nur von Knochen. Aus diesem Grund unterscheidet er sich von den übrigen Geiern auch äusserlich. Da der Bartgeier seinen Kopf nicht zwischen Rippen in Kadaver steckt, um Fleischstücke herauszureissen, kann sein Gefieder auch nicht verschmutzen. Alle anderen Geier haben diese kahlen Köpfe und federlosen Hälse, weil sie Aas verzehren.
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Federn einfärben
Knochen sind hart und schwer verdaulich, doch sie enthalten viel Kalk, nahrhafte Fette und Eiweisse. «Eine überraschend energiereiche Nahrung», sagt Stefan Bachmann. Die besonders grosse Schnabelöffnung und die Luftröhre, die fast bis zur Schnabelspitze reicht, ermöglichen dem Bartgeier, lange Knochen zu verschlingen, ohne dass er erstickt, sollte mal ein Knochen stecken bleiben. Sind ihm Knochen zu gross, lässt er sie in der steinigen Alpenwelt fallen, bis sie in kleinere Stücke zersplittern.
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Dank der sauren Säfte im Magen des Bartgeiers löst sich der Knochenkalk auf. Der Nahrungsspezialist braucht ein grosses Gebiet, um ausreichend Knochen zu finden. Ein Revier kann bis zu 400 Quadratkilometer gross sein. Stefan Bachmann macht darauf aufmerksam, dass Bartgeier weniger Nahrung als ihre fleischfressenden Geierverwandten bräuchten. «Darum können sie auch höhere Bergregionen bewohnen.» Die Wildbestände in der Schweiz seien hoch, diejenigen von Nutztieren ebenso. «Daher kann man davon ausgehen, dass es im Lebensraum der Bartgeier genug Nahrung gibt.» Bachmann denkt da an Kadaver von Gämsen, Steinböcken und Hirschen.
Der schwarze Bart ist ein exquisites Erkennungszeichen, das kein anderer Geier hat. Und, der Bartgeier hält etwas auf sich. So sehr, dass er sogar seine Federn färbt. Das Brustgefieder von Bartgeiern in der Natur ist rostrot. Sie legen sich die attraktive Farbe zu, indem sie in eisenhaltigem Wasser baden. «Warum die Geier das machen, ist nicht ganz klar», sagt Stefan Bachmann. Er mutmasst: «Vielleicht hat dieses Verhalten eine soziale Funktion.»
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Dass Bartgeier heute wieder im Alpenraum beobachtet werden können, so wie auf der Gemmi, ist der Haltung und Zucht unter Menschenobhut zu verdanken. Über 40 Zoos beteiligen sich am international koordinierten Zuchtprogramm für den Bartgeier. In der Schweiz setzen sich der Natur- und Tierpark in Goldau (SZ) und der Zoo La Garenne in Le Vaud (VD) seit Langem für den Bartgeier ein. Aus diesen beiden Institutionen stammen viele Bartgeier, die über den Alpen kreisen. 1986 wurde der erste Bartgeier in Österreich ausgewildert, 1987 begann die Auswilderung in Frankreich, 1991 in der Schweiz.
Auswilderungen bringen genetische Vielfalt
Unter Menschenobhut aufgezogene Tiere wieder in die Natur zu integrieren, ist sehr anspruchsvoll. Bei den Bartgeiern gelingt es, weil Junge im Alter von rund 90 bis 100 Tagen aus dem Horst der Altvögel im Zoo entnommen werden und an einen geschützten Ort in den Alpen gebracht werden. Dort werden sie von Betreuern weiterhin gefüttert und überwacht. Im Alter von 110 bis 130 Tagen wagen die Jungen ihren ersten Flug, kehren aber meist wieder zu ihrer Nische zurück. Sie lernen von Anfang an, in der Natur zu fliegen und selbstständig Futter zu suchen. Mit dieser Methode überleben 88 bis 96 Prozent der ausgewilderten Bartgeier das erste Lebensjahr. Bisher wurden 243 junge Bartgeier im Alpenraum ausgewildert, davon 51 in der Schweiz.
Die Stiftung Pro Bartgeier schreibt, dass weitere 35 Bartgeier im französischen Zentralmassiv ausgewildert wurden, mit dem Ziel, die Alpen- mit der Pyrenäenpopulation zu verbinden. Ein Problem ist nämlich die enge genetische Variabilität der ausgewilderten Vögel. Auch darum ist der Auswilderungsprozess noch nicht abgeschlossen. In die Population werden Jungvögel mit neuen Genen integriert.
Wildbrut war heikel
Die Reproduktionsrate des Bartgeiers ist gering. Erst 1997 verlief die erste Wildbrut in den Alpen erfolgreich. Sie glückte in Hochsavoyen. Bisher sind 402 Bartgeier wild in den Alpen ausgeflogen, davon in der Schweiz 117.
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Es fliegen noch andere Geierarten in der Schweiz. «Einzelne Mönchsgeier werden regelmässig gesichtet, Schmutzgeier nur ganz selten», sagt Stefan Bachmann. Bei beiden Arten sei in den nächsten Jahren nicht mit einer Ansiedlung als Brutvögel zu rechnen.
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Auf dem Vormarsch aber sind die Gänsegeier. Stefan Bachmann erklärt: «Der Bestand in Südeuropa nahm in den letzten Jahrzehnten zu.» Mittlerweile brüteten in Frankreich über 3000 Paare, unter anderem im Zentralmassiv. Da junge Geier weit umherschweiften, würden sie sich nun wieder etwas mehr ausbreiten. «Sie werden heute nicht mehr verfolgt oder vergiftet wie früher.» Gänsegeier kommen von Spanien über Teile Nordafrikas bis weit ins Himalaya-Gebiet vor. Sie haben bisher noch nicht in der Schweiz gebrütet. Es sei unwahrscheinlich, dass es nächstens zu Bruterfolgen komme, sagt Stefan Bachmann. «Derzeit halten sich Gänsegeier hauptsächlich im Sommer in der Schweiz auf, Bruterfolge können aber erst dann erwartet werden, wenn die Tiere das ganze Jahr über bei uns bleiben.»
Im Sommerhalbjahr kann der Gänsegeier überall in den Bergen entdeckt werden, vereinzelt sogar im Flachland. Stefan Bachmann verrät aber: «An der Kaiseregg in den Freiburger Voralpen bestehen besonders gute Chancen, sie zu beobachten.» Anders als Bartgeier leben Gänsegeier in Kolonien und sie ernähren sich von Aas. «Damit nehmen sie in der Natur eine wichtige Rolle ein», betont der Ornithologe.
Keine Gefahr für Nutztiere
Wie im 19. Jahrhundert um den Bartgeier, so kreisen heute Mythen um den Gänsegeier. Er mache sich auch über lebende Tiere her, wird behauptet. Wie liegen die Fakten? Stefan Bachmann von Birdlife Schweiz sagt: «Der Gänsegeier ist ein Aasfresser und kann grundsätzlich lebende, gesunde Tiere nicht angreifen.» Es gebe einzelne wenige Meldungen von Gänsegeiern, die bereits bei noch lebenden, aber äusserst schwachen oder kranken Tieren zu fressen begonnen hätten. «Aus der Schweiz liegt trotz jährlich vielen Hundert Geiersichtungen nur ein einziger solcher Bericht vor.»
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Ein Gänsegeier habe da an einem neugeborenen Kalb gefressen. Der Zustand des Kalbs nach der Geburt sei leider nicht bekannt. Birdlife Schweiz steht in engem Austausch mit den nationalen Birdlife-Organisationen Spaniens und Frankreichs. Auch aus diesen Ländern lägen nur ähnliche Meldungen vor, sagt Stefan Bachmann. Der Vogelexperte ergänzt: «Geier sind dank verschiedener Anpassungen Meister darin, Aas zu finden, und können dies über sehr grosse Distanzen. In der Natur spiele der Tod eine tägliche Rolle. «Es gibt dort mehr Futter für Geier, als man denken würde.» Dass Gänsegeier lebende Tiere anfallen würden, seien moderne Mythen. «Sie haben keine biologische Grundlage.» Gänsegeier machen sich über Aas her und überlassen den Bartgeiern die Knochen.
FACTSBartgeier paaren sich im November und Dezember. Von Dezember bis Februar werden in einem Horst an einer Felswand zwei Eier gelegt. Die Brutdauer beträgt 52 bis 58 Tage. In der Natur stirbt der zweite Jungvogel meist. Etwa 130 Tage nach dem Schlupf startet der Jungvogel zum ersten Flug. Mit etwa sieben Jahren wird er geschlechtsreif. Alle ein bis zwei Jahre wird ein Junges aufgezogen. In Zoos werden Bartgeier bis zu 50 Jahre alt.
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