Etwas ausprobieren, raus gehen und neue Dinge erleben, die alle Sinne ansprechen. Bei Microadventures handelt es sich um kleine Fluchten aus dem Alltag, die helfen, aus dem Hamsterrad des Alltags auszubrechen. Dafür bedarf es keiner abgelegenen Ferienziele – der Park um die Ecke, der Wald im Nachbardorf oder die nächste Stadt reichen vollkommen aus. Mikroabenteuer sind lokal, kostengünstig, simpel und kurz, doch trotzdem aufregend, herausfordernd und bereichernd. Die meisten Abenteuer haben weniger mit der Umgebung zu tun, in der man sich befindet, als mit der inneren Einstellung.

Diese entscheidet nämlich, wie man die Welt um sich herum wahrnimmt. Eines dieser Abenteuer ist das Übernachten unter freiem Himmel. Egal, ob auf dem Balkon oder im eigenen Garten, es gibt kaum etwas Schöneres, als in der Natur zu übernachten und den Geschöpfen der Dunkelheit zu begegnen. Eine ganze Nacht ohne Smartphone, Laptop und Fernseher, dafür jedoch mit den Klängen der Natur.

Wenn die Sonne untergegangen ist, wird es bei den Wildtieren erst richtig interessant: Wo tagsüber Menschen auf Busse warten, durchwühlt eine Wildschweinfamilie den Mülleimer an der Haltestelle. Füchse suchen nach Futter, Glühwürmchen senden Blinksignale an potenzielle Partner, Waschbären durchstöbern das Gebüsch. Die Nacht ist nicht nur eine Zeit, sondern ein vielfältiger Lebensraum, über den wir immer noch zu wenig wissen. Wir sprachen mit der Wildbiologin Sophia Kimmig über die Geheimnisse der Nacht.

Frau Kimmig, Sie schreiben, durch das Eintauchen in die Nacht hat sich Ihre Perspektive auf Ihr Leben verändert. Inwieweit?

Es gibt das schöne Zitat, dass die gesamte Geschichte der Menschheit nur die des wachen Menschen ist. Sprich, man bekommt nur die Hälft des Weltgeschehens mit. Es ändert sich also einiges, wenn man plötzlich anfängt, die andere Zeit des Tages zu erforschen, indem man nachts schwimmen oder auf die Suche nach Wildtieren geht. Man taucht quasi in eine Art Paralleluniversum ein.

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Wie viel Prozent der Lebewesen sind dämmerungs- und/oder nachtaktiv?

Ungefähr 60 Prozent. Doch das ist nicht so einfach zu sagen, da wir von vielen Arten viel zu wenig wissen, um sie eingrenzen zu können. Bei den Säugetieren sind es ungefähr zwei Drittel.

Gehen Tiere mit ihrer Nachtaktivität dem Menschen aus dem Weg?

Ja, aber es ist auch eine Laune der Natur. Säugetiere, die in die Nacht ausgewichen sind, sind zu einer Zeit entstanden, als Dinosaurier noch die Erde beherrschten, und diese hatten den Tag für sich eingenommen. Hätten die Dinos sich damals anders entschieden, sähe unsere Welt heute komplett anders aus. Die meisten Vögel sind zum Beispiel tagaktiv, weil sie die letzten überlebenden Dinosaurier sind. Vermeiden von Wasserverlust, Hitze-, Feind- und Räubervermeidung sowie Menschver-meidung sind natürlich weiterhin wichtige Gründe für Arten, in die Nacht auszuweichen, aber historische Entwicklungen spielen auch eine sehr grosse Rolle.

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Und wie wäre es, wenn der Feind plötzlich wegfällt. Könnte es sein, dass nachtaktive Lebewesen wieder tagaktiv würden?

Ja, das kann durchaus passieren. Wenn in der Natur eine ökologische Nische frei wird, dann wird sie über kurz oder lang auch wieder besetzt. Entweder ein anderer Tagbewohner nimmt diese ein oder ein Nacht-bewohner streckt nach ihr die Fühler aus. Ein gutes Beispiel dafür sind die Rotfüchse. Auf dem Land sind sie eher dämmerungsaktiv, dort gehen sie dem Menschen und vor allem der Jagd aus dem Weg. In den Städten auf Brachen trifft man sie häufig auch tagsüber an. Es gibt auch eine Fledermausart, die tagaktiv ist, da es auf der Insel, auf der sie lebt, keine Vögel als Fressfeinde gibt. Es gibt jedoch auch viele Tierarten, die so gut an die Nacht angepasst sind, dass sie nicht einfach in die freigewordene Tagnische wechseln könnten.

Sie sehen die Nacht nicht als Zeit, sondern auch als Lebensraum. Können Sie uns das genauer erklären?

Es gibt keinen Kontrast in der Natur, der so gross ist wie die Lichtverhältnisse zwischen Tag und Nacht. Aber es ist viel mehr als nur das Licht. Nachts ist es zum Beispiel viel kälter. Die Windgeschwindigkeiten sind anders und viele Dinge funktionieren in der Nacht einfach nicht. Unser Sehsinn ist in der Nacht stark eingeschränkt,dafür sind Geräusche und Gerüche dann viel wichtiger. Es gelten andere Regeln, Bedingungen und Lebenswirklichkeiten – dadurch ist es also nicht einfach eine Uhrzeit. Die Nachtwelt sieht und fühlt sich ganz anders an als die Welt, in der wir gewöhnlich unterwegs sind.

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Welche Sinne sind nachts besonders wichtig?

Der Geruchs- und Hörsinn, beides Sinne, die beim Menschen im Vergleich zu den anderen Säugetieren eher schlecht entwickelt sind. Wichtig sind jedoch auch Sinne wie das Tasten über Tasthaare und das Wahrnehmen von Vibrationen oder der Magnetsinn, den vor allem Zugvögel in der Nacht zur Orientierung benutzen. Sinne, die der Mensch gar nicht besitzt.

Die meisten Vögel, mit Ausnahme der Eulen, sind wahrscheinlich tagaktiv, aber wie sieht es zum Beispiel bei Insekten aus?

Man geht davon aus, dass zirka die Hälfte aller Insekten nachtaktiv sind. Das kommt aber auf die jeweiligeArtengruppe an. Bei den Faltern beispielsweise ist der Grossteil nachtaktiv. Aber auch bei den Vögeln gibt es Nachtschwärmer. Sie kommen zum Beispiel aus der Gruppe der Nachtschwalben, oder wir alle kennen den neuseeländischen Kiwi.

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Es wird momentan sehr viel von Artensterben gesprochen. Sind nachtaktive Tiere genauso gefährdet wie tagaktive?

Möglicherweise sind nachtaktive Arten sogar stärker gefährdet als tagaktive. Das Problem ist, dass es bei sehr vielen nachtaktiven Tieren viel zu wenig Daten gibt, um sie auf die Rote Liste zu setzen. Sprich, es kann kein Gefährdungsgrad festgelegt werden, da man einfach zu wenig darüber weiss. Alle Insekten sind durch den Verlust ihrer Lebensräume und die Verschmutzung durch Pestizide bedroht, bei den nachtaktiven Insekten kommt dann noch die Lichtverschmutzung hinzu. Und da reden wir von Milliarden, die jedes Jahr sterben, weil sie von künstlichen Lichtquellen angelockt werden.

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Haben Sie praktische und leicht umsetzbare Tipps gegen Lichtverschmutzung?

Bei Lichtverschmutzung zählt jede einzelne Licht-quelle. Eine einzige Lampe im eigenen Garten kann Tausende von Faltern töten. Das Licht im Garten sollte also nur genutzt werden, wenn man sich auch wirklich draussen aufhält. Das gilt für die Beleuchtung von Hausfassaden genauso wie für kleine Lampions oder Wegbeleuchtungen.

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Und welches Nachterlebnis hat Sie am meisten beeindruckt?

Die erste Nacht unter freiem Himmel. Wenn die Dämmerung einsetzt, die Fledermäuse durch die Lüfte jagen, die Eulen rufen und sich irgendwann die Milchstrasse in ihrer ganzen Pracht zeigt. Diesen Schichtwechsel in der Natur mitzubekommen, ist einfach grossartig.

Wie kann ich mich als Laie am besten der Nacht annähern?

Der sanfteste Einstieg ist, die Dämmerung mal ganz bewusst zu erleben. Setzen Sie sich auf eine Bank und beobachten Sie, wie sich die Umgebung verändert. Sommernächte eignen sich zudem besonders gut dazu, nachts schwimmen zu gehen. Man kann aber auch einfach einen Spaziergang durch die nächtliche Stadt machen.

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Die Nacht ist für Sie in drei Worten …

Abenteuer, Versprechen und Entspannung.

SchmökereckeSophia Kimmig entführt uns mit ihrem Buch «Lebendige Nacht» in die Dunkelwelt und öffnet die Augen für die Wunder der Nacht direkt vor unserer Tür. Dabei stellt die Wildtier-biologin nicht nur wilde Bewohner vor, sondern zeigt auch, wie es ist, in dieser Parallelwelt zu leben: Wie sie entstand, wie es dort aussieht, sich anfühlt oder riecht. Eine fas-zinierende Reise zu den Wundern der Nacht.
Sophia Kimmig: «Lebendige Nacht – Vom verborgenen Leben der Tiere», 288 Seiten, Hanser Verlag