Heute ist die Marktfahrt recht entspannt. Wer in Locarno in den Centovalli-Express einsteigt, tuckert eine knappe Stunde lang durch eine der hübschesten Tallandschaften der Südschweiz, überquert die italienische Grenze und steht eine weitere Stunde später auf dem Marktplatz von Domodossola. Voilà.

Früher sah das ein bisschen anders aus: Wer Waren zwischen den beiden Marktstädten Locarno und Domodossola transportieren wollte, tat das zu Fuss, mit schwer beladenen Maultieren und durch die dichten Wälder des Centovalli. Die Hauptstrasse im Tal, wo heute Autos verkehren, existiert erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts, die Bahnlinie wurde 1923 eröffnet.

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Kastanien
Die Edelkastanie ist in der Tessiner Küche noch heute allgegenwärtig. Früher war sie im Centovalli Grundnahrungsmittel. Wo kein Getreide angebaut werden konnte, mahlte man die Baumfrüchte und verbuk sie zu Brot. Getrocknet waren sie lange haltbar. Die essbare Edelkastanie ist übrigens einfach von der ungeniessbaren Rosskastanie zu unterscheiden: Die Hülle hat deutlich mehr, aber weniger harte Stacheln und darin befindet sich nicht eine einzige, kugelrunde «Chegele», sondern mehrere, abgeflachte Kastanien

Ein kurzer Spurt zum Start

Im Eisenbahnwagen wird mehrheitlich Schweizerdeutsch gesprochen. Als der Zug an diesem sonnigen Samstag Mitte Oktober ein letztes Mal vor der Grenze hält, steigt eine mittelgrosse Menschentraube mit einem kollektiven «So schööö!» auf den Bahnsteig von Camedo. Sie alle wollen auf der «Via del Mercato» erleben, wie man früher zu Markte zog.

Der Wanderer mag es etwas ruhiger auf seinen Touren. Deshalb zieht er einmal kurz das Tempo an, steigt ohne grosses Sightseeing über die steilen Steintreppen von Camedo nach oben und hat die «So schööö!»-Menschen schon am Dorfausgang hinter sich gelassen. Einzig ein rüstiges Paar mit Wanderstöcken hat einen gehörigen Zacken drauf – deren rhythmisches Gestäckel auf dem Teersträsschen wird noch eine Weile im Hintergrund zu hören sein.

Neben der StreckeEine Auswahl an schönen Flecken zum Entdecken in der Region:

Locarno: Centovalli-Express nach Domodossola (Covid-Massnahmen beachten), Seilbahn nach Cardada, Wallfahrtskirche Madonna del Sasso Verdasio: Seilbahn nach Rasa, ein prächtiges, autofreies Dorf (fährt noch bis 15.11.) Intragna: Höchster Kirchturm des Tessins, Regionalmuseum des Centovalli, Ponte Romano (alte römische Brücke, Baujahr 1578)

Bald aber biegt der Wanderweg in unbefestigtes Terrain ab. Aus Feldweg wird Waldweg und der Wanderer ist froh, hat es in der Nacht nicht geregnet. Zwar sind die Wege über die gesamte Strecke ungefährlich und gut unterhalten, bei Nässe könnte das aber eine durchaus rutschige Angelegenheit werden, besonders wenn die Blätter wie jetzt zu Tausenden auf dem Boden liegen.

Apropos Blätter: Eigentlich hätten die Fotos auf dieser Seite in tausend Grün-, Gelb- und Brauntönen schillern sollen, aber der Herbst 2021 lässt sich Zeit im Tessin. Die Bäume fangen erst allmählich an, sich zur goldenen Pracht zu verwandeln. Gute Nachricht für die Leserin, den Leser: Pünktlich zum Erscheinungsdatum dieser «Tierwelt» sollte das Timing stimmen und die Blätter ihre volle Farbenpracht entfalten. Das sagt zumindest der «Laubtracker» (siehe Box).

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Lust auf Herbstfarben? Der Laubtracker von Schweiz Tourismus zeigt, wo sich in der Schweiz die Bäume wann besonders schön verfärben. Auf der Basis von Temperatur- und Niederschlags­daten kann per Schieberegler ein Datum ausgewählt werden und die interaktive Schweizerkarte zeigt an, wo es gerade golden leuchtet. Während der Zenit an Herbstfarben nördlich der Alpen an den meisten Orten schon überschritten ist, haben das Tessin und das Wallis noch einiges zu bieten.

myswitzerland.com/laubtracker

Ein Mühlenpark im Wald

Hier im Wald erkennt der Wanderer, woher das Centovalli seinen Namen hat. Eigentlich müsste es ja heissen «die Centovalli». Plural. «Hundert Täler». Denn alle paar Hundert Wegmeter rauscht ein Sturzbächlein talwärts, in Richtung des Stausees Lago di Palagnedra. Und jedem Bächlein sein Tälchen, auch wenn manch eines von ihnen gar winzig und unwichtig erscheint.

Das Wasser, das diese Bäche mit hübschen Namen wie «Ri di Mulitt», «Froda» oder «Ri da Dröi» talwärts bringen, war in der Geschichte des Centovalli hingegen von enormer Wichtigkeit. Wasser war Leben für die Menschen hier, die nie viel hatten. Das zeigt besonders eindrucksvoll der «Parco dei Mulini», der Mühlenpark im Wald zwischen den Weilern Borgnone und Lionza. Hier wurden in den letzten 20 Jahren die Überreste einer Siedlung freigelegt, die heute den Alltag der Menschen von vor rund 150 Jahren zeigt. Neben einer Mühle, die zum Mahlen von Kastanienmehl verwendet wurde, gab es ein grosses Waschbecken, einen Brotofen und gar eine wasserbetriebene Hammerschmiede.

Nützliche TippsWann? Schöner als jetzt in den ersten beiden Novemberwochen werden die Farben im Centovalli nicht mehr. Vorsicht bei Nässe.

Verlängern: In Calezzo weiter der Route 631 folgen und via Pila nach Intragna; +100 Höhenmeter.

Abkürzen: Nach ca. 8 Kilometern nach Corcapolo abzweigen und dort auf den Zug.

Anfahrt / Rückfahrt: Von Locarno zum Beispiel um 8:09 oder 9:51 mit dem Centovalli-Express in rund 40 Minuten nach Camedo. In Intragna fahren Züge beispielsweise um 15:07, 16:27 oder 17:43.

Verpflegen: Picknick selber mitbringen. Der Selbstbedienungskiosk in Verdasio ist die einzige Gelegenheit, um sich mit gekühlten Getränken einzudecken. Brunnen mit Trinkwasser sind hingegen immer wieder zu finden.

Das Dörfchen Verdasio mit seiner hübschen Kirche und seinen prachtvollen Steinhäusern lädt zum Verweilen ein, zumal der Aufstieg auf dem alten Säumerpfad hierhin recht ruppig ist. Dem Wanderer tun fast die Maultiere leid, die das damals wöchentlich schwer beladen schaffen mussten. Die Aussicht hier entschädigt alle Anstrengungen. Nach anderthalb Stunden Marsch durch meist dichten Wald lichtet sich hier der Baumvorhang und gibt den Blick frei auf die gegenüberliegende Talseite: ein dicht bewaldetes Hügelmeer. So schööö!

Oberhalb von Verdasio steigt der Weg sanfter an. Das Dorf gefällt auch von oben. Schade nur, wird der Kirchturm von einem Baukran überragt. Ein sonnengewärmter Lufthauch ist Vorbote des Vegetationswechsels hier. Auf rund 800 Metern über Meer wird der Wald lichter. Föhren sind es jetzt, die ihren Harzduft verströmen. Der höchste Punkt der Wanderung könnte kaum unspektakulärer sein. Statt sanft bergauf führt der Weg am Berghang entlang nun sanft bergab. Wer einen Gipfel sehen möchte, muss hier abzweigen, um auf den Monte Comino, knapp 400 Höhenmeter weiter oben, zu gelangen.

Die Kastanien plumpsen zu Boden

Aber Marktfahrer sind keine Gipfelstürmer, sie nehmen den einfachstmöglichen Weg, um ihre Waren zu transportieren. Der ist mal richtig komfortabel, mal richtig mühsam. Immer mal wieder muss der Wanderer steile in die Landschaft gehauene Treppenstufen hinabsteigen, nur um jenseits eines über­querten Bächleins ebenso steil wieder hochzuklettern.

Bald aber ist das auch vorbei. Der Weg fällt ab und wird wieder zum geteerten Strässchen am Waldrand. Die Föhren sind wieder Kastanienbäumen gewichen. Im Sekundentakt raschelt es im dürren Laub, sodass der Wanderer damit rechnet, jeden Augenblick ein Reh oder einen Hirsch zu erblicken. In Wahrheit sind es aber nur Kastanien, die jetzt reihenweise von den Bäumen fallen.

Der Marktweg führt nun wieder in die Zivilisation. Kurz vor Calezzo entscheidet sich der Wanderer, den Maultieren in seinen Gedanken tschüss zu sagen und nimmt den Weg durchs Dorf, das allmählich den Blick aufs Nachbardorf Intragna freigibt. Im Zielort der Centovalli-Wanderung sticht der imposante Kirchturm, umgeben von einem charmanten Dorfkern, als hochaufragender Schlusspunkt heraus. Gegen ihn käme nicht einmal ein Baukran an.

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Die Route
Camedo – Intragna. 11 Kilometer, rund 630 Höhenmeter, Niveau T2. Machbar in rund 4 Stunden. Bis Calezzo auf der grün markierten Route 631: «La Via del Mercato», danach durchs Dorf hinunter bis Intragna.