Ist das da vorne King Kong, der Riesenaffe? Sein Silberrücken glänzt im Licht der Stirnlampe des Höhlen-Guides. Der Kopf des Ungetüms berührt fast die Decke der unterirdischen Kammer. Neben ihm wirken die irrlichternden Menschen wie winzige, fluoreszierende Termiten.

Tran Quangh Anh Vu lässt den Lichtkegel seines Helms über den riesigen Stalagmit in der Höhle wandern. Der Gorilla ist vor Jahrmillionen zu Stein erstarrt. Er ist nur eine von Abertausenden Tropfsteinskulpturen in der Unterwelt des Phong-Nha-Ke-Bang-Nationalparks. Das wild gezackte, von Dschungel überwucherte Karstgebirge ist Teil der Annamitischen Kordilleren an der Grenze zwischen Vietnam und Laos und von unzähligen unterirdischen Wasserläufen durchlöchert. 

Im Kinofilm «Kong: Skull Island», der vor einem Jahr in den Kinos lief, ist seine üppig grüne, atemraubend zerklüftete Silhouette Heimat des Riesenaffen King Kong. Nicht weit von hier wurden die spektakulären Landschaftsaufnahmen für den Kassenschlager gedreht.

Eine noch fast unberührte Höhle
Um in die zerklüftete Unterwelt des Kalksteinmassivs vorzudringen, müssen die Expeditionsteilnehmer durch rauschende Höhlenbäche waten, sich an Abgründen und glitschigen Felsvorsprüngen entlanghangeln und dürfen vor allem keine Platzangst haben. Über sie hinweg huschen Fledermäuse. Mit etwas Glück werden sie hier unten auch Tierarten aufspüren, die bisher nur wenige Menschenaugen gesehen haben. Das Ziel der Expedition ist Hang Va, eine Höhle, die erst 2012 entdeckt wurde.

«Ihr gehört wohl zu den ersten 1500 Menschen, die sie überhaupt betreten haben», sagt Höhlenführer Vu. Das ist schon Ansporn genug, den Aufstieg im Bergdschungel über scharf zersplitterte Felsblöcke auf sich zu nehmen, sich ohne zu murren die Blutegel von den Hosenbeinen zu zupfen und die Moskitos im Nacken zu ertragen. 

Hang Va ist die zuletzt entdeckte, erst seit 2014 für Touristen zugängliche Höhle im Phong-Nha-Ke-Bang-Nationalpark. Sie ist durch unterirdische Wasserläufe mit der Son-Doong-Höhle verbunden, der grössten bekannten Höhle der Welt. Davon gehen Forscher aus, die hier eine blinde Fischart entdeckt haben, die nirgendwo sonst vorkommt.

Das Waldrind war eine Sensation
«Wahre Monster gibt es hier nicht», scherzt Vu, «aber noch immer werden hier neue Tierarten entdeckt.» Ganz wie bei «Kong: Skull Island» ist der Phong-Nha-Ke-Bang-Nationalpark eine abgeschiedene Welt, die Forscher ins Staunen versetzt. Zwar ist das Gebirge nicht wie im Film von Flugsauriern und Riesenbüffeln mit weit ausladenden Hirschgeweihen bevölkert. In Wahrheit sind die Annamitischen Kordilleren in Vietnam aber tatsächlich einer der letzten Rückzugsorte des Gaurs, des grössten Wildrinds der Erde. Daneben sollen hier noch immer Kragen- und Malaienbären sowie bis zu zehn verschiedene Affenarten vorkommen, darunter Zwerg­loris und die äusserst seltenen Hatinh-Languren und die Rotschenkligen Kleideraffen.

1992 sorgte die Entdeckung des Vietnamesischen Waldrinds Saola für eine zoologische Sensation. Bis dahin war man davon ausgegangen, dass alle Landsäugetiere dieser Grössenordnung bereits wissenschaftlich beschrieben wurden. Nur wenige Menschen haben die Saola bisher lebend gesehen. Nur zwei Mal wurde sie als lebendes Tier gefangen und von Forschern begutachtet. Bis heute streiten sich Experten darüber, ob sie systematisch zu den Ziegen, Rindern oder Antilopen gehört.

Aber auch über andere hier heimische Tierarten wie den Riesenmuntjak, den Südlichen Serau oder die Dreihorn-Grubenotter ist nur sehr wenig bekannt. Vom Annamitischen Streifenkaninchen wurden bisher ebenfalls nur einige wenige Tiere gesichtet. Als einzige Hasenart zeichnet es sich durch sein gestreiftes Fell aus. «Um eines dieser Tiere zu sehen, braucht man schon sehr viel Glück», sagt Vu. Er selbst hat die meisten seltenen Arten noch nie zu Gesicht bekommen. Die Gruppe schlägt auf einer Lichtung etwas oberhalb des Höhleneingangs von Hang Va ihr Lager auf. 

Die Nacht ist voller geheimnisvoller Stimmen. Ins späte Konzert des Dschungels mischen sich kaum bestimmbare Laute, unterlegt vom Zirpen der Zikaden, die eher wie heisere Motorsägen klingen. Ist es Vogelgeflüster, ein Ruf aus winzigen Froschkehlen oder doch nur das Glucksen eines entfernten Bergbachs, das durch den Urwald dringt? Wer mag schon sagen, was durch die Dunkelheit hinter den Zelten kreucht. 

Nach dem Abendessen erzählt Vu bei der zweiten Runde Reiswein von seinen Expeditionen in die Son-Doong-Höhle: von Stalagmiten so hoch wie Bürotürme und Höhlengängen, in die man einen Wolkenkratzer stellen und einen Jumbojet parken könnte. In der Tat ist die grösste unterirdische Kammer Son Doongs über 200 Meter hoch und mehr als 100 Meter breit. Mit einer Gesamtlänge von 9 Kilometern hat die erst 2009 von britischen Forschern erkundete Höhle damit wohl tatsächlich das grösste unterirdische Volumen der Welt. An einer Stelle ist bereits vor Jahrtausenden die Decke eingebrochen, sodass eine gewaltige Doline entstand, über die bald gewaltige Baumriesen wucherten.

Inspektion durch die Gibbons
«Die Forscher haben sie Garden Edam genannt», sagt Vu, «weil es schon so viele Orte auf der Welt mit dem Namen ‹Garten Eden› gibt und das Gestein wie Käse durchlöchert ist.» Die Tierwelt des versunkenen Dschungelreichs ist kaum erforscht. «Manchmal kommen die Gibbons herunter und man sieht eine Schar Flughunde», sagt Vu. «Einmal, als wir zwei Hühner als Proviant eingepfercht hatten, hörten wir bei Nacht ein unheimliches Geräusch wie von einem Hubschrauber. Am Morgen waren nur noch Geflügelknochen übrig. Erst später konnten wir den Übeltäter erwischen: Ein Nepaluhu hatte sich wohl über die Hühner hergemacht.»

Um Mitternacht bricht ein prasselnder Tropenregen über das Lager herein, der erst im Morgengrauen wieder verstummt. Aus der Ferne tönt ein sonderbares Rufen aus den Baumkronen durch die Zeltwände – mehr anschwellender Walgesang als Affengeschrei: Gibbons, die grössten Primaten im Park haben wohl in aller Frühe die menschlichen Eindringlinge in den Dschungel inspiziert.

Der Eingang von Hang Va ist ein enger Schlund zwischen mächtigen Felsblöcken. Kein Wunder, dass der Zugang der Höhle bis vor fünf Jahren unentdeckt blieb. An Seilen lassen sich Vu und seine Gruppe ins Dunkel hinab. Unten stehen sie bis zur Hüfte in einem reissenden Höhlenstrom. Vorsichtig watet der Höhlenführer voran in die Dunkelheit. Im Licht seiner Stirnlampe entfaltet sich die fantastische Welt der Tropfsteine – triefende Bärte von längst im Kalkstein versunkenen Riesen, erstarrte Wasserfälle, Fabelwesen aus glänzendem Marmor neben den rauschenden Kaskaden des unterirdischen Stroms. 

Die neu entdeckten blinden Fische wollen sich heute nicht blicken lassen. Dafür entdeckt Vu eine Reihe von Fledermäusen an den Felswänden, die er hier noch nie gesehen hat. Um welche Art es sich handelt, kann er nicht genau sagen. Wer weiss, vielleicht wurde sie ja noch nie beschrieben.