Dort zu lobe! I Gottes Name lobe! I uisere liebe Fraue Name lobe! Dort zu lobe! Alli Ängel und Heilige i Gottes Name lobe!

Auf einem kleinen Hügel inmitten der grünen Matten der Gerschnialp ob Engelberg steht Fabian Hurschler in der Abenddämmerung. Vor das Gesicht hält er einen hölzernen Trichter, die Betruf-Folle, und ruft in einem Mischmasch aus Hochdeutsch und Engelberger Dialekt das Gebet. Ruft Gott, die heilige Jungfrau, die Engel und die Heiligen um Hilfe, Beistand und Schutz an. Es schickt sich so, dass jemand auf der Alp den Alpsegen ruft. Den Betruf, wie man ihn im Engelbergertal nennt.

Abend für Abend während des Alpsommers kommt der 18-jährige Zimmermannslehrling hierher, zu dem einfachen Holzkreuz, um den Alpsegen zu rufen. Beim Besuch der «Tierwelt» zieht er dazu den blumenbestickten Sennen-«Tschoope» an, aber sonst geht es auch in Jeans und T-Shirt. Für ihn ist der Betruf nichts Aussergewöhnliches mehr. Schon als 13-Jähriger hat er damit angefangen, davor waren es der grosse Bruder, der Vater, der Onkel, der Grossvater. Den Segen rufen, das könne eigentlich jeder, sagt er, Junge, Alte. Auch Frauen. Allerdings habe er noch nie von einer Frau gehört, die es getan habe; der Bet­ruf, das sei eben schon immer Männersache gewesen. 

Das Gebet rufen – ist das nicht ein wenig ungewöhnlich für einen jungen Mann? Fabian Hurschler lächelt. In Engelberg lebe man eben noch traditionell. In der Gewerbeschule in Luzern unten, da habe er auch schon dumme Kommentare hören müssen, aber hier oben gehöre das dazu. «Ich mache das ja nicht nur für mich, sondern für alle auf der Gerschnialp.» Dennoch – es seien meist schon eher ältere Sennen, die den Betruf prakti­zieren. 

Hie, um disi Alp ume, gahd e goldige Ring. Darin sitzt die lieb Müettergottes mit ihrem härzallerliebste Chind. Hie, um disi Alp ume, gahd e goldige Grabe. Hinicht wemmer die allerheiligste Dreifalti­keit bi uis habe!

«Es ist mir wichtig, dem Herrgott für unser schönes Vieh und die schöne Alp zu danken. Und ihn um den Segen zu bitten, sodass wir im Herbst wieder gesund nach Hause kommen.» Keine Selbstverständlichkeit hier oben, wo die Felswände rundum stotzig gegen den Himmel ragen, wo sich auch heute Abend die Wolken düster türmen und nicht nur die Berg­kämme, sondern auch das Vieh auf den höchsten Wiesen vor den Blicken verbergen. Wo sich Luchse und Wölfe bisweilen allzu nah zu den Menschen und ihren Tieren wagen und wo sich die Kühe auf der Suche nach den feinsten Gräsern bisweilen so weit hinauswagen, dass sie weder vor noch zurück können. Es erstaunt nicht, dass die Sennen früherer Zeiten hier allenthalben böse Geister sahen.

Die Gerschnialp ist gut erschlossen und auch zu Fuss in einer Dreiviertelstunde von Engelberg aus zu erreichen. Einen Steinwurf hinter dem Haus verläuft die Gondelbahn, die im Winter Skifahrer und im Sommer Wanderer zum Trübsee und zum Titlis hinaufbringt. 260 Stück Rindvieh weiden hier auf etwas über 1200 Metern über Meer, dazu noch eine stattliche Anzahl an Schafen und Ziegen. Betreut werden sie von verschiedenen Älplern; Fabians Vater Arnold Hurschler etwa schaut zu rund 50 Tieren. Alle zwei, drei Tage schaut jemand auf der Laubalp auf 1800 Metern zum Rechten – ein Fussmarsch von einer Stunde pro Weg. Es sei ein Chrampfi-­Beruf, der ohne die tatkräftige Unterstützung der Familie kaum zu schaffen sei, sagt Hurschler. 

Das walt Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist! Sie wellid uis behüeten und bewahren vor allem Übel und böse Gschpeischt!

Doch die frommen Sennen ahnen, dass sie hier oben nicht nur auf die Hilfe der Familie, sondern auch auf diejenige von oben angewiesen sind. Manchmal sei es nur ein Gedanke, sagt Vater Arnold Hurschler: Schau doch mal bei der Laubalp vorbei. Und dann habe er entdeckt, dass ein Tier die Tränke umge­stossen habe, oder eines sich den Fuss vertreten habe. «Dann denke ich: Da hat sich der Sankt Antoni wieder einen Fünfliber verdient.» Einen Fünfliber, der dann im Opferstock einer Bergkapelle landet.

Das Bewusstsein, auf göttliche Hilfe angewiesen zu sein, ist tief in den Herzen der Älpler verwurzelt. So beginnt der Alpsommer jeweils mit einem Gottesdienst, bei dem der Pfarrer die Alp segnet. Am Schluss steht die Älpler-Chilbi, bei der für den Käse, die Butter und den wohlbehaltenen Abschluss der Alpsaison gedankt wird. Bei beiden Anlässen gehört der Betruf selbstverständlich dazu. 

Beim ersten Mal habe er Lampenfieber gehabt, erinnert sich Fabian Hurschler, und Angst, etwas zu vergessen. Deswegen habe er den Text des Betrufs ans Holzkreuz geheftet, es sei ja doch «ein rechter Bitz». Inzwischen hat er den Text aber im Griff. Und wenn er doch einmal eine Zeile oder zwei vergisst, oder zwei Heilige verwechselt, werde es ihm der liebe Gott schon nicht übel nehmen. 

hüet Gott Seel, Ehr, Leyb, Hab und Güet und alles, was uf diser Alp ghört und ischt.

Als der Luzerner Chronist Renward Cysat im 16. Jahrhundert den Pilatus bestieg, begegnete ihm der Brauch des «Ave-Mariarüeffens». Doch wahrscheinlich ist der Betruf weit älter. Einige Formulierungen lassen schliessen, dass die heutigen Texte des Alpsegens auf das 14. Jahrhundert zurückgehen. Gut möglich, dass der Brauch selber noch weit älter ist. Da die Texte von Talschaft zu Talschaft, ja, manchmal von Alp zu Alp, verschieden sind, und während langer Zeit nur mündlich überliefert worden sind, waren sie stetem Wandel unterworfen, je nachdem es die aktuellen Gefahren erforderten. 

Während andere Segensbräuche mehr oder weniger verschwunden sind, hält sich der Brauch des Alpsegens. Vor allem in der Zentralschweiz, aber auch in Appenzell Innerrhoden sowie in Teilen der Kantone St. Gallen, Graubünden und Wallis. Der Betruf durfte gar ein Revival erleben. Seit dem vergangenen Jahrhundert ist er feierlicher Bestandteil kirchlicher Feiern und Brauchtumsveranstaltungen. So etwa von Schwingfesten, an denen Fabian Hurschler auch schon das Gebet gerufen hat. «Die alten Sennen freuen sich, wenn ich den Betruf mache», sagt er.

Ein Heiliger ist er deswegen nicht. Genauso wie andere junge Männer sieht man ihn im Gottesdienst nicht allzu häufig, hingegen geht er gern auch mal in den Ausgang. Dann übernimmt einer seiner Nachbarn oder jemand aus der Familie den Betruf. Darauf verzichtet wird indes nie: «Das ist Bauerngesetz, dass jemand von der Alp den Segen ruft.» 

Jetzt soll disi Alp gsägnet sey! Das walt Gott und der lieb heilig Sankt Antoni! Dort zu lobe! All Schritt und Tritt i Gottes Name lobe!

Das Video zeigt den Ruf eines Alpsegens:

 

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