Die Zeit habe ihm nicht ganz gereicht, sagt Marc Blaser. Der schlanke Brillenträger mit grauem, windfrisiertem Haarschopf greift zur Gartenschere und kniet sich ins nasse Gras, um zu zeigen, womit er die letzten zwei Wochen beschäftigt war – sofern ihn das Wetter denn liess.

Ritsch. Ein Büschel hohes Gras ist weg. Ratsch. Noch eins. Blaser reisst einen Hahnenfuss mitsamt Wurzeln aus dem Boden. «Den muss man ausstechen, bevor man den Rest abschneidet, sonst findet man die Wurzel nicht mehr.» Auf Grasnarbenhöhe hat er die letzten Wochen jeden Tag verbracht und seinen Garten in Handarbeit in Form gebracht. 

Es ist der Garten der ehemaligen Johanniterkomturei in Freiburg. Ganz unten in der Unterstadt, durch die sich elegant die Saane windet. Im Mittelalter haben hier Kreuzritter gelebt und ihre Heilkräuter angebaut. «Damals war das die einzige Medizin, die man kannte.» Doch mit den Rittern verschwand bald auch der Garten, gut versteckt hinter hohen Steinmauern und abgeriegelt durch eine Holzpforte, die neugierigen Blicken standhält. 

Blaser, ursprünglich aus der Region Zug, arbeitete in den 1990er-Jahren als sogenannter Stadtbeobachter in Freiburg. Suchte den Dialog zwischen Bevölkerung und Stadtregierung, bot aber auch Stadtführungen an. «Da bin ich halt einmal über die Mauer geklettert, weil ich wissen wollte, was dahinter war.» Er fand einen meterhoch überwucherten Garten, vielleicht zwanzig grosse Schritte lang, wenn grosse Schritte darin möglich wären. Blaser fand Gefallen an dem historischen Garten und liess sich von der Stadt beauftragen, ihn wieder in Schuss zu bringen.

Audiobeiträge: Marc Blaser führt durch den Kräutergarten

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Die Pflanzen sind der Chef
«Eigentlich steht in meinem Vertrag nur, ich müsse die Brennnesseln jäten und die Brombeeren zurückschneiden», sagt Blaser, grinst und zeigt auf den Brennnesselbusch, den er hat stehen lassen. Das erste Jahr habe er nur mit Jäten und Planen verbracht. Dann, 1999, habe er sich an die Arbeit gemacht, einen Apothekergarten zu errichten, spezialisiert auf Heilpflanzen und essbare Blüten. 

«In Freiburg haben alle wichtigen Plätze eine dreieckige Form», sagt Blaser. «Also habe ich dieses Motiv wieder aufgenommen.» Der Garten selbst ist ein grobes Dreieck. Blaser hat ihn in mehrere dreieckige Spiralbeete gegliedert, mit schmalen Weglein dazwischen, die nur bei genauem Hinschauen erkennbar sind – nicht nur, weil ihm die zwei Wochen nicht ganz gereicht haben, um fertig zu werden. 

Der Gärtner ist nicht wirklich der Chef in seinem Garten; das sind vielmehr seine Pflanzen. Will eine nicht in ihrem Beet wachsen, sondern lieber am Grasrand oder mitten in der Wiese, lässt er ihr ihren Willen. Dann ist halt der Fussweg kein Fussweg mehr, und ein rotes Stecklein signalisiert den Besuchenden: Abstand halten! Auch das vor ein paar Jahren neu angelegte Kiesplätzchen, das schon als Bühne für kleine Konzerte diente, wurde inzwischen von ein paar Pflanzen in Beschlag genommen. «Die Kratzdistel hier gefällt mir», sagt Blaser über das zähe Gewächs, das es sich mitten auf dem Kiesplatz bequem gemacht hat. Unter der Mauer auf der Sonnenseite spriessen winzige Rucolablättchen aus dem Boden. Blaser zwickt eins ab und nimmt es in den Mund. «Ziemlich scharf im Geschmack.»

Überhaupt: Im Gegensatz zu vielen botanischen Sammlungen hat Blasers Apothekergarten bewusst wenig System. Er zeigt auf die krautige Pflanze in der Mitte des Gartens. «Das ist der Mittlere Wegerich. Dort drüben an der Mauer ist der Alpenwegerich, und der Spitzwegerich ist ganz auf der anderen Seite.» Er setze zwei, drei Stück von jeder Art und lasse die Pflanzen selber entscheiden, wo sie gedeihen und wo sie wieder eingehen.

Der Stiefmütterchen-Dieb
So ist das ungeschulte Auge in Blasers Garten auf den ersten Blick rasch überfordert – rund 300 Pflanzenarten sind es, viele nur mit einem einzigen Pflänzchen vertreten. Und angeschrieben ist keine einzige. Der Grund dafür ist simpel, wenn man den Gärtner fragt: «Weil ich erzähle. Den Garten kann man nur besichtigen, wenn ich auch hier bin.» Wenn er an der Arbeit ist, sagt er, lasse er jeweils die Tür offen. Ausser wenn er spät mit der Taschenlampe auf die Suche nach Schnecken geht – von April bis September tut er das jeden Abend. Mit etwas Glück findet man Blaser tagsüber mit der Gartenschere am Werk. Dann berichtet er gerne von seiner Arbeit.

Erzählen kann Blaser. Er hat zu jedem Pflänzchen eine Anekdote bereit, weiss genau, woher er sie hat – oft gräbt er sie auf Wanderungen aus und setzt sie in seinen Garten, oder er zieht Samen aus dem Botanischen Garten in seinem Gewächshaus heran. Einiges wächst wild aus Samen, die vom Wind oder von Vögeln eingeflogen werden. Und manchmal, ja manchmal wird er sogar zum Pflanzendieb.

«Eine Frau, die hier oft zu Besuch war, hat während der Schwangerschaft ihr Kind verloren», erzählt er. Da fragte sie Blaser, ob sie zum Andenken ein paar Stiefmütterchen in seinen Garten pflanzen dürfe. Sie durfte. Auch wenn die Frau seit Jahren nicht mehr auf Besuch war, schleicht sich Blaser jeden Frühling, wenn die Stadtgärtnerei ihre grossen Blumentöpfe bepflanzt, nachts an, gräbt ein einziges Stiefmütterchen aus und setzt es an die immer gleiche Stelle. «Wenn die Frau irgendwann wieder auftaucht, kann ich es ihr zeigen.»

Weitere Audiobeiträge mit Marc Blaser

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