Es ist noch dunkel, als wir uns auf den Weg machen. Am Himmel leuchten die Sterne, unser Auto ist auf der Strasse das einzige. Wer Wisente sehen will, muss früh aufstehen. Michal Polakowski, Biologe, Ornithologe und Touristenführer, erklärt, warum das so ist: «Die Wisente mögen zu viel menschliche Aktivität nicht. Am frühen Morgen, wenn alles ruhig ist, kommen sie auf die Wiesen, um zu grasen. Später ziehen sie sich in den Wald zurück.»

Mit dem Auto klappern wir die Weiden ab, auf denen sich die Wisente öfters aufhalten, während es langsam heller wird – während das Leben erwacht in den Dörfern rund um den Bialowieza-Urwald, dem letzten Urwald Europas, seit 8000 Jahren grösstenteils unberührt. Wir befinden uns im Osten von Polen, in der Region Podlachien, nur wenige Kilometer von der weissrussischen Grenze entfernt. 

Die Sonne ist mittlerweile aufgegangen – und noch hatten wir kein Glück. An einer Stelle wolle er es noch versuchen, sagt Polakowski. Und da sehen wir sie: 49 Wisente – Polakowski, der auch Bestandeserhebungen von Vögeln durchführt, zählt sie mit geübtem Auge. Im Spätsommer und im Herbst befinden sich die Tiere in der Paarungszeit, erklärt er. Deshalb seien sie jetzt in solch grossen Herden unterwegs – komplett mit Kühen, Bullen und Kälbern.

Alle stammen von einem Dutzend ab
Der Wisent, auch Europäischer Bison genannt, stand Anfang des 20. Jahrhunderts kurz vor der Ausrottung: «Alle heute wild lebenden Wisente stammen von nur zwölf Tieren ab», sagt Polakowski. 1952 wurden die Bisons im Bialowieza-Urwald wieder angesiedelt. Heute leben hier ungefähr 1000 Wisente, 600 auf der polnischen und 400 auf der weissrussischen Seite, Tendenz steigend. Ein Durchkommen gibt es für die Tiere nicht: Die Grenze geht mitten durch den Wald und ist mit einem Zaun gesichert. 

Die Wisente teilen sich den Wald, der ungefähr so gross wie der Kanton Luzern ist, mit vielen weiteren Bewohnern. 12'000 Tierarten leben in ihm. Neben Wisenten gibt es hier Rehe, Elche, Wölfe, Luchse und vereinzelte Bären. Für Spektakel sorgen im Herbst die Rothirsche, wenn sie während der Brunft die ganze Nacht um die Wette röhren. 250 Vogelarten finden im Wald Unterschlupf, darunter seltene Arten wie der Dreizehen- und der Weissrückenspecht. Die ältesten Bäume sind zugleich die grössten in Europa: Es sind 600 bis 700 Jahre alte Steineichen, die fast 50 Meter hoch werden. 

Der Wald gehört zum Unesco-Weltnaturerbe. Auf der weissrussischen Seite ist er vollständig in einen Nationalpark eingegliedert, auf der polnischen Seite ist es nur ein Fünftel der Fläche. Den streng geschützten Teil, die Kernzone, darf man nur mit einem Guide betreten. Unserer heisst Mateusz Szymura und führt uns durch die Schutzzone. Hier lässt man den Wald ohne menschliches Zutun gedeihen. Die majestätischen alten Eichen, das moosbewachsene Totholz, Tausende von Pilzen und die stille, fast andächtige Stimmung im Wald versetzen die Besucher in Staunen. Szymura zeigt sich davon wenig beeindruckt. «Von meinen Gästen höre ich oft, dass hier alles so toll und wunderbar sei», erzählt er. Zu ihnen sage er immer: «Was wir hier haben, ist normal. Ihr habt einfach noch nie einen natürlichen Wald gesehen.» 

Das Naturerbe ist in Gefahr
Ob der Wald seinen ursprünglichen Zustand behalten kann, ist allerdings ungewiss. Der Teil des Waldes, der nicht zum Nationalpark gehört und in strenger und weniger streng geschützte Bereiche unterteilt ist, wird von drei staatlichen Förstereien kontrolliert. In diesen hat das polnische Umweltministerium im Mai dieses Jahres verstärkten Holzschlag angeordnet – illegalerweise auch in den strenger geschützten Gebieten. Dies angeblich, um den Wald vor dem Borkenkäfer zu schützen. «Das ist völliger Unsinn», sagt Szymura. Die Fichten, die gefällt werden, sind bereits einige Jahre tot. Aus ihnen ist der Borkenkäfer längst abgezogen. Und sind die toten Bäume erst einmal weg, will man wieder neue anpflanzen – um den Wald wirtschaftlich nutzen zu können. Das wäre laut Szymura verheerend für das Ökosystem, denn das Totholz ist wichtig als Unterschlupf und Nahrungsquelle für Hunderte von Tieren: «Momentan hält sich der Schaden noch in Grenzen. Aber wenn es so weitergeht, haben wir bald keinen Urwald mehr, nur noch Wald.» 

Reisetipps
Den Bialowieza-Urwald erreicht man am besten über die Stadt Bialystok, sie liegt rund 200 Kilometer von Polens Hauptstadt Warschau entfernt. Wisent Reisen vermietet Ferienhäuser und antike Zirkuswagen mit Sicht auf den Urwald. Das Unternehmen bietet auch geführte Reisen. Der Eingang der streng geschützten Zone des Urwalds befindet sich im Dorf Bialowieza, das man mit Bussen oder einem Mietauto erreicht. Von den Unterkünften von Wisent Reisen aus kann man auch mit Mietvelos in den Wald fahren.


www.wisent.ch
www.save-bialowieza.net

Dieser Meinung sind auch Manfred Bächler und Katarzyna Leszczynska. Der gebürtige Freiburger und die polnische Literatur­übersetzerin sind Inhaber von Wisent Reisen und seit vielen Jahren ist der Bialowieza-Urwald ihr zweites Zuhause. «Es stimmt, dass die Fichten vom Borkenkäfer arg in Mitleidenschaft gezogen worden sind», sagt Bächler. Jahrelange Entwässerung des Waldes habe sie empfindlich gemacht. «Aber man sollte die toten Bäume einfach stehen lassen, dann regeneriert sich der Wald von selber.» 

In jeder Familie ist ein Förster
Doch trotz Warnungen der Unesco und einer Verfügung des Europäischen Gerichtshofes geht die Abholzung weiter. Eine Entscheidung der EU-Kommission über eine hohe Busse für Polen steht noch aus. In der Zwischenzeit unterstützen Bächler und Leszczynska das Protest-Camp, das im Dorf Pogorzelce entstanden ist. Dort sitzen junge Menschen aus ganz Europa in einer zugigen Scheune und diskutieren, was sie den zunehmend rabiaten Forstwächtern entgegenhalten können. «Diejenigen, die die Entscheidungen treffen, können wir nicht umstimmen», sagt Marta aus Warschau. «Der einzige Weg ist es, die Leute hier zu überzeugen.» Die zierliche blonde Frau ist schon zum vierten Mal im Camp seit seiner Eröffnung im Mai. Die Aktivisten kämpfen dafür, dass der ganze Wald in einen Nationalpark umgewandelt wird. Kein einfaches Ziel, wenn man bedenkt, dass Förster in der Gegend der bestbezahlte Beruf ist. Und es in vielen Familien mindestens einen Förster gibt. 

Neben Wissenschaftlern, Naturschutzorganisationen und Kulturschaffenden, engagiert sich jedoch auch ein Teil der lokalen Bevölkerung für den Schutz des Urwaldes, sagt Katarzyna Leszczynska. Sie spenden, bringen Essen und Kleider ins Camp. Auch die Tourismusbranche, die einsieht, dass nur der wilde, unberührte Urwald die Touristen anzieht, unterstützt den Protest. «Wir möchten, dass Touristen weiterhin herkommen, insbesondere jetzt. Dann fühlen sich die Leute hier in ihrem Protest bestätigt und sehen, dass es richtig ist, für den Wald zu kämpfen.» Und kämpfen werden sie. Damit die Wisente auch in weiteren 8000 Jahren noch ein Zuhause haben. 

Diese Reportage wurde unterstützt durch Wisent Reisen.

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