In der rechten Hand ein Fangnetz, in der linken Klemmbrett, Papier und Kugelschreiber, ums Handgelenk ein GPS-Gerät, geht André Rey über die Wiese. Plötzlich bleibt er stehen. Ein helles Zirpen hat seine Aufmerksamkeit erregt. Er sucht Gräser und Klee mit den Augen ab, um dann blitzschnell mit dem Fangnetz darüberzustreichen. «Das ist eine besondere Art», erklärt er, als er eine kleine Heuschrecke herausholt, ihre Sprungbeine vorsichtig zwischen Daumen und Mittelfinger geklemmt. Kaum länger als ein Daumennagel ist die Zweifarbige Beissschrecke. Der Grossteil ihres Körpers ist leuchtend grün, nur ihr Rücken, der untere Teil ihrer Beine, ihre Augen und ihre langen Fühler sind von einem zarten Hellbraun.

Eigentlich hätte Rey sie gar nicht fangen müssen. Häufigere Arten hat er direkt in seine Liste eingetragen und mit dem GPS erfasst, sobald er sie hörte. Denn was für ungeübte Ohren als ein einziger undefinierbarer Klangteppich über der Wiese liegt, setzt sich für Rey aus Einzelgesängen zusammen: Aus dem allgegenwärtigen ZetZetZetZetZetZet des Gemeinen Grashüpfers, dem Zizizizizizizi des Grünen Heupferds, dem Schrrrrrrr – Schrrrrrrrr – Schrrrrrrr des Nachtigall-Grashüpfers.

André Rey ist heute im Auftrag des Kantons Zürich unterwegs, um Heuschrecken, Schmetterlinge, Libellen, Wildbienen, Reptilien, Amphibien und Vögel zu kartieren in einem Gebiet, für welches eine kantonale Schutzverordnung erarbeitet werden soll. An anderen Tagen bestimmt er im Feld Insekten, Vögel, Amphibien oder Reptilien für Erfolgskontrollen – damit seine Auftraggeber wissen, ob durchgeführte Schutzmassnahmen tatsächlich etwas genützt haben.

Zuerst kennenlernen, dann schützen
Und wirksame Schutzmassnahmen sind dringend nötig: Laut der 2012 veröffentlichten Strategie Biodiversität des Bundesamtes für Umwelt sind von den rund 46 000 in der Schweiz bekannten Pflanzen-, Tier und Pilzarten rund ein Drittel in ihrem Bestand bedroht. Auch viele einst häufige Arten sind betroffen von drastischen Arealverlusten und sinkenden Bestandesgrössen. Und noch immer wird jede Sekunde fast ein Quadratmeter Boden überbaut, Lebensräume werden durch Strassen zerschnitten oder so stark genutzt, dass viele Arten darin nicht mehr überleben können – eine Verbesserung der Situation ist derzeit nicht in Sicht.

«Um zu wissen, was verloren geht, wenn man irgendwo einen Wohnblock oder ein Einkaufszentrum auf eine Blumenwiese stellt, müssen wir wissen, welche Heuschrecken, Schmetterlinge, Mäuse oder Vögel da ihren Lebensraum haben. Wir können nur schützen, was wir kennen», sagt Roland Graf. Er leitet den Zertifikatslehrgang «CAS Säugetiere – Artenkenntnis, Ökologie & Management», der seit 2010 an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil angeboten wird, in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Wildtierbiologie und der Hochschule hepia in Genf. 

Die ZHAW habe diesen und weitere Studiengänge zu Artenkenntnis eingeführt, weil Letztere an den Universitäten heute nur noch am Rande vermittelt werde. «Wer Biologie studiert, erfährt oft nur wenig über die einheimischen Tier- und Pflanzenarten. Viele Studienabgänger können nicht bestimmen, was sie draussen sehen – geschweige denn bei einer Gämse das Alter einschätzen oder bei einem Reh feststellen, ob es ein Männchen oder ein Weibchen ist. Ohne solches Wissen ist es schwierig, mit Jägern, Förstern oder Landwirten Lösungen zu Wildtierfragen zu diskutieren.»

Milbenspezialisten? Nirgendwo in Sicht
Schon die Grundkenntnisse, mit denen man heute ins Biologiestudium eintrete, seien viel tiefer als noch zu seiner Studienzeit, sagt Reto Nyffeler, Kurator des Herbariums und Dozent am Institut für systematische Botanik der Universität Zürich. «Ich habe am Gymnasium noch gelernt, wie man mit dem Bestimmungsbuch im Feld Pflanzen bestimmt. Das können wir heute selbst bei interessierten Studenten nicht mehr voraussetzen.» Zudem würden Artenspezialisten an Universitäten oft nicht ersetzt, wenn diese in Pension gingen. «Die Biologie ist heute sehr viel breiter als noch vor 100 Jahren», sagt er. Artenkenntnis sei neben Mikrobiologie, Immunologie, Genetik oder Neurobiologie nur eines von zahlreichen Teilgebieten.

«In gewissen Bereichen gibt es tatsächlich zu wenig Artenkenner», sagt Wolfgang Nentwig, Spinnen-Kenner und Professor für Ökologie an der Universität Bern. Dennoch: Im Lehrplan aufwerten müsse man Artenkenntnis nicht. «Verdonnert man einen Immunologen dazu, wird aus ihm ein grottenschlechter Artenkenner, weil ihm das nötige Herzblut fehlt.» Wer sich dafür interessiere, habe nach wie vor genügend Möglichkeiten, sich das Wissen anzueignen – an der Uni wie auch ausserhalb.

Dafür sieht Nentwig in den heutigen molekularbiologischen Methoden nie dagewesene Chancen, die Artenkenntnis zu erweitern. Denn klassische Artenkenner gebe es vor allem für Pflanzen und Wirbeltiere. «Die machen aber nur einen Viertel der weltweiten Organismen aus. Drei Viertel sind Wirbellose wie Insekten, Spinnen, Krebstiere, Würmer. Und suchen Sie einmal einen Milben-Spezialisten. Sie werden keinen finden.» Dabei spielen diese laut Nentwig in Ökosystemen eine zentrale Rolle: Extrahiere man aus einer Bodenprobe Tiere, seien oft die Hälfte davon Milben, darunter viele Pflanzenschädlinge und Räuber, die Schädlinge befallen.

Er verfolgt deshalb mit Interesse das Projekt «Swiss Barcode of Life», kurz SwissBOL. 2010 gestartet, verfolgt es das Ziel, die Diversität des Lebens in der Schweiz mit sogenanntem DNA-Barcoding zu erfassen: Für jede der schätzungsweise 50 000 bis 70 000 Arten soll ein DNA-Fragment oder eben «Barcode» gefunden werden, mit dessen Hilfe sich eine Art eindeutig bestimmen lässt. «Das ist natürlich ein ehrgeiziges Ziel», sagt Projektkoordinatorin Sofia Wyler von der Universität Genf, «wir sind erst am Anfang.» 

Bisher sind «Barcodes» von etwas mehr als 200 Pflanzen und Tieren in der Datenbank erfasst. Doch dank genetischer Analysen habe man bereits eine neue Wespenart entdeckt. Mit der Methode liessen sich in Zukunft auch schwer bestimmbare Arten zweifelsfrei einordnen, und eine Bestimmung sollte auch dann möglich sein, wenn von einer Pflanze nur der Teil eines Blattes vorhanden oder von einem Insekt nur das Bein erhalten sei. 

Keine Konkurrenz für den Artenkenner
Schliesslich könne man ein Tier auch unabhängig von seinem Stadium erkennen. Ein grosser Vorteil wäre dies etwa bei Insekten, wo bisher viele Larvenstadien nicht bestimmbar sind, oder bei sogenannten Wenigborstern – einer zahlreiche Arten umfassenden Gruppe von Würmern, die zur Beurteilung der Wasserqualität beigezogen werden. «Heute muss man sehr viele Tiere wegwerfen, weil man sie erst im ausgewachsenen Stadium bestimmen kann», sagt Wyler. Sie sieht SwissBOL nicht als Konkurrenz zu klassischer Artenkenntnis: «Barcoding kann Artenkennern in Zukunft zeitaufwendige Bestimm-Arbeit abnehmen – so können sie ihr Spezialwissen dort einsetzen, wo es unersetzbar bleibt.»

André Rey hat keine Angst, dass DNA-Analysen seine Arbeit eines Tages überflüssig machen. «Um eine DNA-Probe von einem seltenen Tier zu bekommen, muss man es erst einmal finden und fangen. Das geht nicht ohne Artenkenntnis.» So findet er seltene Heuschrecken oft nur, weil er ihre Stimmen kennt. An diesem Feldtag wird er Vögel bestimmen, die er nur hört oder vorbeifliegen sieht, sowie einen kleinen Schillerfalter, der wegflattert, ohne dass er ihn erwischt. Und das kaum einen Millimeter kleine Ei eines grossen Schillerfalters, das auf dem Blatt einer Salweide klebt, entdeckt er nur, weil er genau weiss, wo er danach suchen muss.